Lash (Gefallener Engel 1)
L. G. Castillo
Die Regeln der Engel waren einfach: Gehorche den Erzengeln, zeige dich nicht vor den Menschen und verliebe dich niemals in einen von ihnen. Lash brach sie alle. Die Regeln der Engel waren einfach: Gehorche den Erzengeln, zeige dich nicht vor den Menschen und verliebe dich niemals in einen von ihnen. Lash brach sie alle. Auf die Erde verbannt, weil er die Erzengel herausforderte, erhält Lash eine letzte Chance, Wiedergutmachung zu leisten. Seine Mission ist einfach: Naomi Duran zu beschützen, eine faszinierende junge Frau in tiefer Trauer. Die Aufgabe offenbart sich als alles andere als einfach, als die Erzengel ihm wichtige Informationen über Naomi vorenthalten und sich weigern, Lashs Kräfte wiederherzustellen. Als von unerwarteter Seite her jahrhundertealte Geheimnisse enthüllt werden, ist sein Vertrauen bis ins Innerste erschüttert und er beginnt, an denen zu zweifeln, die er einst für seine mächtigsten Verbündeten hielt. Entschlossen, alles zu vermeiden, was seine Chance auf eine Rückkehr nach Hause gefährden könnte, kämpft Lash gegen das größte Hindernis von allen an: seine wachsenden Gefühle für Naomi. Als aber ihr Leben von einer unbekannten Seite her bedroht wird, zweifelt Lash an der Weisheit der Erzengel und an seiner Fähigkeit, sie zu beschützen. Bald wird Lash entscheiden müssen, worauf er sein Vertrauen setzt: auf sein Zuhause, nachdem er so hart für die Rückkehr dorthin gekämpft hat, oder auf die verbotene Liebe, deren Verlust er nicht ertragen kann.
L.G. Castillo
Lash: Gefallener Engel 1
LASH
GEFALLENER ENGEL 1
L.G. CASTILLO
Übersetzt von LUISE PAWLING
“Lash (Gefallener Engel 1)”
Copyright © der Originalausgabe 2013 by L.G. Castillo.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by L.G. Castillo.
Alle Rechte vorbehalten.
BÜCHER VON L.G. CASTILLO
Gefallener Engel
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Nach dem Fall (Gefallener Engel 2) (https://smarturl.it/GefallenerEngel2)
Vor dem Fall (Gefallener Engel 3) (https://smarturl.it/GefallenerEngel3)
Jeremy (Gefallener Engel 4) (https://smarturl.it/GefallenerEngel4)
Der goldene Engel (Gefallener Engel 5) (https://smarturl.it/GefallenerEngel5)
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Englische Ausgabe
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1
Lash betrachtete eingehend die Anzeige mit den ankommenden Flügen. Verwirrt suchten seine haselnussbraunen Augen die Liste der Flüge ab, die in Houston Airport landeten und starteten.
»1742, 1742…«, murmelte er. Die Buchstaben und Zahlen von Flugnummern und Städten blätterten um, als sich die Ankunftsgates änderten. »Verdammt. Wie liest man dieses Ding?«
Er fuhr sich verärgert mit einer Hand über das dunkle Haar. Ein Seraph sollte in der Lage sein, etwas so Simples wie das Ankunftsgate seines Arbeitsauftrages zu finden.
Lash seufzte und warf einen Blick auf die Informationen, die ihm Erzengel Gabrielle, seine direkte Vorgesetzte, gegeben hatte. Wie sein Glück es so wollte, war er dem einen Erzengel unterstellt worden, der seine Misere auskostete. Er traute ihr durchaus zu, ihm absichtlich die falschen Fluginformationen gegeben zu haben, damit er gezwungen war, sich in den letzten Minuten abzuhetzen, um seinen Schützling zu finden.
»Javier Duran, acht Jahre alt. Flug 1724, Ankunft 12.05 Uhr«, las er. Er drehte die Karte um und sah auf das Foto des kleinen Jungen mit heller, kaffeefarbener Haut, Pausbäckchen und großen, braunen Augen.
»Wo ist dein Flugzeug, Kleiner?« Er blickte erneut auf, als die Nummer 1724 auf der Anzeigetafel erschien.
»Endlich.« Er merkte sich die Gatenummer und bahnte sich seinen Weg durch die belebte Menge.
»Was? Ich kann dich nicht hören!« Eine junge Frau schrie in das Münztelefon. »Nein, sein Flugzeug ist noch nicht gelandet. Es sollte in wenigen Minuten hier– «
Die Frau brach mitten im Satz ab und Lash drehte sich nach ihr um, neugierig zu sehen, was geschehen war. Die Frau blinzelte ihn durch ihre pink-getönte Brille direkt an.
Er zuckte überrascht zurück. Es war, als könnte sie ihn sehen. Die meisten Menschen konnten das nicht, wenn er seine Engelsgestalt annahm – abgesehen von kleinen Kindern oder Tieren, aber selbst das war selten. Wenn Erwachsene einen flüchtigen Blick auf ihn erhaschten, taten sie ihn häufig als ein Gebilde ihrer Fantasie ab.
»Anita, qué pasó?«, fragte die Stimme am anderen Ende der Leitung. »Was ist los?«
»Warte mal kurz, Gloria.« Anita nahm ihre Brille ab und säuberte die Gläser an ihrer geblümten Polyesterbluse.
Lash stand bewegungslos und wartete ab, um zu sehen ob sie etwas über seine Anwesenheit sagen würde. Anita setzte ihre Brille wieder auf und ihre braunen Augen schossen erneut in seine Richtung. Einen Augenblick später schüttelte sie den Kopf und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Anrufer.
»Nicht so wichtig. Ich dachte, ich hätte was gesehen.«
Er atmete aus – sie hatte ihn doch nicht gesehen; zumindest nicht mehr, als den flüchtigen Schimmer, den andere manchmal zu sehen behaupteten.
»Gib mir die Info nochmal. Ich muss das aufschreiben.« Anita kramte in ihrer Handtasche und zog ein Stück Papier heraus. Süßigkeiten- und Kaugummipapier fiel auf den Teppich, zusammen mit einem schwarzen Stift. »Wo ist mein Stift? Ich finde in dieser Tasche überhaupt nichts mehr.«
»Richte ein Gebet an den heiligen Antonius.«
»Gute Idee.« Anita schloss die Augen. »Sankt Antonius, Sankt Antonius. Bitte komm herab. Etwas ist verlorengegangen und kann nicht wiedergefunden werden. Hilf mir, meinen Stift zu finden, damit ich die Infos aufschreiben kann, die Gloria mir diesen Morgen hätte geben sollen, bevor mein achtjähriger Sohn ganz allein das Flugzeug bestiegen hat. Und wenn du schon mal dabei bist, kannst du den Herrn bitten, Gloria ihre Vergesslichkeit zu vergeben? Sie muss meinen Exmann ertragen, und Gott allein weiß, wie hilflos dieser Mann ist – besonders, wenn es darum geht, seine Unterwäsche zu waschen.«
»Das ist genug gebetet«, fauchte Gloria am anderen Ende der Leitung.
Er lachte leise in sich hinein. Es gab keinen heiligen Antonius – zumindest nicht am Flughafen. Er hob den Stift auf und legte ihn auf die Kante der Ablage am Münztelefon.
Anita schauderte. »Dios mío, mir ist ganz kalt geworden. Sie halten es kühl hier drinnen. Sie sollten –« Ihre Augen weiteten sich, als sie den Stift sah. »Wie ist der denn hier hingekommen?«
Anita drehte sich um und er erstarrte. Sie stand Nasenspitze an Nasenspitze mit ihm – so dicht, dass er ihren Pfefferminz-Atem riechen und einen Lippenstiftfleck auf ihrem Vorderzahn sehen konnte. Sie schloss die Augen und lächelte. »Gracias, Sankt Antonius. Ich bin gesegnet.«
Lash blinzelte verblüfft. Es war lange her, dass er einem Menschen wie ihr begegnet war. Eine Aura des Friedens umgab die winzige, dunkelhaarige Frau, als ob sie wüsste, dass sie über sie wachten.
Er sah zur Uhr und verließ Anita, die sich weiter mit Gloria unterhielt. Das Flugzeug des Jungen sollte bald landen. Während er durch die Halle eilte, fragte er sich, ob Anitas Sohn sein Auftrag war.
Als er das Gate erreichte, sah er aus dem großen Fenster hinaus auf die Landebahn, wo das Flugzeug sich hätte befinden sollen. Stattdessen stand sein bester Freund Jeremy auf dem Rollfeld. Er war tadellos gekleidet, was ihn mehr nach einem Model vom Cover des GQ Magazines aussehen ließ, als nach dem Erzengel des Todes. Sein goldenes Haar, das nach hinten aus dem Gesicht gestrichen war, schimmerte in der texanischen Sonne. Lash fand es ziemlich merkwürdig, dass ihm sein Äußeres so wichtig war, wenn man bedachte, dass er selten in seiner menschlichen Form erschien. Die meisten Menschen kannten ihn nur unter seinem Engelsnamen Jeremiel und wenn er ihnen erschien, lag das daran, dass sie im Sterben lagen. Jeremy hatte, wie Lash, vor einigen Jahren entschieden, seinen Namen moderner zu machen. Zu schade, dass er das nicht auch mit seiner Kleidung getan hatte. Verglichen mit Jeremy sah Lash aus wie der ewige Teenage-Rebell, weil er zerrissene Jeans und enganliegende T-Shirts bevorzugte.
Lash fragte sich, warum Jeremy beim Pokern letzte Nacht keinen Auftrag in Houston erwähnt hatte. Zum ersten Mal, seit sie vor Jahrzehnten angefangen hatten zu spielen, hatte Lash gewonnen und sie hatten sich prächtig amüsiert – Zigarren rauchend und Whisky trinkend. Erst, als Gabrielle aufgetaucht war und Lash den Auftrag übergeben hatte, war Jeremy ungewöhnlich still geworden. Er schien außergewöhnlich aufgebracht, als er Lash darum bat, einen Schuldschein als Gewinn zu akzeptieren – obwohl Lash sich nicht vorstellen konnte, dass er jemals einen Grund haben sollte, ihn einzulösen. Gabrielle schien ebenfalls in schlechter Stimmung zu sein. Vielleicht hätte er noch einmal darüber nachdenken sollen, ihr Rauch direkt ins Gesicht zu blasen. Das hatte ihr wahrscheinlich nicht gefallen.
Er wollte Jeremy gerade auf der Landebahn Gesellschaft leisten, als Gabrielle in sein Sichtfeld glitt. Sie flüsterte Jeremy etwas ins Ohr und dessen ewig präsentes Lächeln gefrohr. Was auch immer sie ihm erzählt hatte, es konnte nichts Gutes gewesen sein.
Er folgte Jeremys Blick und blickte zum wolkenlosen Himmel hinauf. Weit entfernt sah er einen winzigen Fleck und wusste instinktiv, dass es Flug 1724 war. Er schaute hinüber zu Jeremy und fragte sich, ob dessen Auftrag jemanden auf dem gleichen Flug betraf.
Jeremy nickte Gabrielle zu und verschwand im selben Moment. Angst grub sich wie eine Faust in Lashs Magen, als Gabrielle ihre Arme in die Luft hob und ihre schlanken Hände in Kreisen herumwirbeln ließ. Die Bäume am Rand des Flughafens schwankten, als der Wind zunahm und sich dunkle Wolken zu formen begannen.
Lash presste seine Handflächen gegen die Glasscheibe. Was tat sie da? Er biss die Zähne zusammen und fragte sich, ob sie ihm seinen Job absichtlich erschwerte. Ihm war aufgetragen worden, über Javier zu wachen und sicherzustellen, dass er heil zu seiner Mutter zurückkam. Gabrielle hatte bequemerweise vergessen, ihm zu sagen, dass Javier in echter Gefahr schweben würde – oder die Gefahr von Gabrielle selbst ausgehen würde.
Lash sah zu, während sie fortfuhr, Wind und Wolken zu manipulieren.
»Sieht aus, als ob ein Sturm aufzieht«, sagte eine Frau, die in der Sitzreihe hinter ihm saß.
»Da sieht man mal wieder das texanische Wetter«, sagte der Mann neben ihr. »Im einen Moment der schönste Sonnenschein; man blinzelt, und auf einmal ist die Hölle los.«
Ein lautes Donnergrollen ließ das Glas unter Lashs Händen vibrieren. Er trat zurück, als ein Schauer von Eiskörnern auf den Boden trommelte.
»Gott sei uns gnädig.«, sagte die Frau, während sie eine Hand an ihre Brust presste. »Das war laut.« Sie sah aus dem Fenster. »Ich hoffe, es ist bald vorbei. Ich würde nicht gern da oben von diesem Sturm erwischt werden.«
Da wusste Lash, weshalb Gabrielle und Jeremy anwesend waren und weshalb er diesen Auftrag erhalten hatte. Nicht alle Passagiere vom Flug 1724 würden Houston lebend erreichen.
Er schloss die Augen und projizierte sich selbst ins Flugzeug. Als er sie öffnete, stand er im Gang neben einem hübschen Mädchen. Ihr blassblondes Haar war hinter ihre Ohren zurückgestrichen und betonte die lebhaften blauen Augen. Sie konnte nicht älter als zwölf sein, aber etwas an ihr ließ sie für ihr Alter weise erscheinen.
Lash blickte zum Fenster hinaus in den Nebel aus Dunkelheit, der das Flugzeug umgab. Um ihn herum murmelten die Passagiere besorgt, als sie hinaussahen. Sie hatten Angst.
Ein schluchzendes Geräusch vom Sitz hinter dem Mädchen erregte seine Aufmerksamkeit und er trat näher heran. Auf dem Sitz saß ein kleiner Junge, dessen Füße kaum den Boden berührten. Javier.
»Mutter, er hat Angst«, sagte das kleine Mädchen. »Darf ich mich neben ihn setzen?«
Die Frau, eine ältere Version des hübschen Mädchens, nahm nervös einen Schluck von ihrem Cocktail.»Nein, es ist jetzt nicht sicher.« Ein Ruck ging durch das Flugzeug und sie ließ ihr Getränk zu Boden fallen. Die bernsteinfarbene Flüssigkeit spritzte auf ihren weißen Leinenanzug. Ihr wich alle Farbe aus dem Gesicht, als sie die Armlehne umklammerte. »Oh, mein Gott.«
Das Mädchen lehnte sich in den Gang und sah nach hinten zu dem kleinen Jungen, der hinter ihr saß. »Aber er ist ganz allein.«
»Tu, was ich sage, oder ich werde es deinem Vater erzählen müssen, wenn wir nach Hause kommen!«, fuhr die Frau sie an, während sie ihre Hose mit einer Serviette abtupfte. »Die Stewardess wird sich um ihn kümmern.«
Lash sah das Mädchen heftig blinzeln und fühlte ein Ziehen in der Brust, als sie ihre Tränen wegwischte. Sie setzte einen entschlossenen Blick auf, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen richtete.
»Ist ja okay. Schhhhhh, nicht weinen. Wir werden bald landen«, sagte sie. »Wie heißt du?«
Der kleine Junge sah auf. Braune Augen, die von langen Wimpern eingerahmt wurden, begegneten ihrem Blick. Tränen zogen Spuren über seine Pausbacken. »Ja– Javier.« Er schniefte und wischte sich die Nase an der Rückseite seines Hemdsärmels ab.
»Hi, Javier. Ich bin Jane.«
Das Flugzeug machte einen Satz nach unten und Javier hob es für den Bruchteil einer Sekunde aus dem Sitz, bevor er wieder auf seinen Platz zurückfiel. Er schluchzte..
Lash kniete sich neben ihn und sandte eine Welle aus Gelassenheit aus in der Hoffnung, dass der Junge seine Anwesenheit spüren konnte.
Javier schnaufte, als ob er versuchte, seinen Atem zu beruhigen. Eine blasse Hand streckte sich ihm entgegen.
»Alles wird gut, Javier. Mach dir keine Sorgen. Ich werde deine Hand halten, bis wir landen. Okay?«
Javier sah Jane an. Seine schwarzen Locken wippten, als er nickte.
Lash zerriss es das Herz, als Javier seine Hand ausstreckte und sie in Janes legte. Es war lange her, dass er jemanden so selbstlos hatte handeln sehen. Er sah sich im Flugzeug um in der Erwartung, Jeremy zu sehen. Da er nicht anwesend war, gab es vielleicht noch Hoffnung für das kleine Mädchen und die anderen.
Das Flugzeug bebte heftig und die Stewardessen liefen die Gänge hinunter, um die Fluggäste aufzufordern, ihre Sicherheitsgurte anzulegen. Dann eilten sie zu ihren eigenen Sitzen und schnallten sich selbst an.
Es gab einen lauten Knall, gefolgt vom Kreischen zerreißenden Metalls. Schreie erfüllten die Kabine und gelbe Sauerstoffmasken fielen von der Decke.
Jane ließ Javiers Hand einen Moment lang los, um ihre Maske aufzusetzen und er begann zu weinen. Lash lehnte sich vor und flüsterte: »Hab keine Angst. Ich bin für dich da.«
Javier weinte immer noch laut, als Lash sich über ihn beugte. Er sah hinüber zu Jane, deren zitternde Hände die gelbe Maske über ihr Gesicht zogen. Als sie fertig war, beugte sie sich nach hinten und streckte ihre Hand nach Javier aus. »Setz deine Maske auf!«, rief sie.
Javier ergriff ihre Hand und sah sie mit verständnislosem Gesichtsausdruck an.
Jane blickte ihm direkt in die Augen und zeigte auf das schwebende gelbe Stück Plastik. »Setz sie auf.«
Javier nickte und zog sich die Maske panisch übers Gesicht. Ein lautes Krachen ertönte.
Die Schreie erstarben im Ansatz. Javiers Augen weiteten sich und Jane drehte sich um, um zu sehen, was er anstarrte. Sie gab einen hohen Schrei von sich. Rotes und oranges Flackern wurde von Javiers Maske reflektiert und Lash versteifte sich. Hitze prallte auf seinen Körper. Er drehte sich um, bereit, abzuwehren, was auch immer den Jungen in Gefahr brachte. Sein Magen verkrampfte sich, als eine Woge von Flammen durch den Gang auf sie zurollte.
Lashs Schritte hallten im Saal der Gaben wieder, einem riesigen Raum, in dem die Erzengel die Opfergaben ausstellten, die die Menschen dem Himmel über Jahrhunderte hinweg dargebracht hatten. Gemälde und Skulpturen säumten die Wände. Er hielt vor einem Mahagonischrein an und starrte durch das Glas auf eine winzige Figurine, die eine Abbildung von Gabrielle darstellte. Seine hellen Augen verdüsterten sich, während er sie herausnahm und mit den Händen über den glatten Stein strich. Er brach den Kopf ab und zerbröckelte ihn zwischen seinen Fingern, zermahlte ihn zu Staub. Er stellte den Figurinenkörper zurück auf das Bord und grinste bei der Vorstellung, dass Gabrielle vor Wut aus der Haut fahren würde, wenn sie das sah.
Er drehte sich um, als das große Eichenportal sich quietschend öffnete. Der Erzengel Raphael trat in den Raum und seine ernsten, blauen Augen blieben auf Lash gerichtet, als er näher kam.
»Lahash.« Seine Stimme war schwer vor Enttäuschung.
Es war nicht das erste Mal, dass Raphael Lash in die Halle des Gerichts begleitete, dem Ort, wo Engel für ihre Vergehen bestraft wurden und wo darüber befunden wurde, ob sie würdig oder unwürdig waren im Himmel zu verbleiben. Lash machte sich nie Sorgen, dass er für unwürdig befunden werden könnte – Raphael kümmerte sich immer darum.
Nach einem Seitenblick auf die kopflose Figurine schürzte Raphael die Lippen, gab aber keinen Kommentar dazu ab. »Michael wird dich empfangen, sobald er damit fertig ist, Gabrielle zu befragen.«
»Ich heiße Lash«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er hasste es, mit seinem himmlischen Namen angesprochen zu werden, aber Raphael, der altmodisch in seiner Art war und daran festhielt, Traditionen aufrecht zu erhalten, bestand darauf.
Raphael fuhr sich verärgert mit einer Hand durch die blonden Wellen seines Haars. Er nahm die Bemerkung nicht zur Kenntnis, aber Lash wusste, dass er sie genau gehört hatte. Einige der besonderen Vorzüge des Engeldaseins waren ein verbessertes Seh- und Hörvermögen und Stärke – das Fliegen war ein zusätzlicher Pluspunkt.
»Warum hast du es nicht getan, Lash? Gabrielle hat dir genaue Instruktionen erteilt. Alles, was du tun musstest, war, sie zu befolgen.«
Was für eine Antwort konnte er seinem Mentor geben, demjenigen, der ihn immer verteidigte, wenn er beschloss, seiner eigenen Wege zu gehen? Er wünschte, er könnte Raphael die Wahrheit sagen. Als Gabrielle ihn beauftragt hatte, den Jungen zu retten, war er froh darüber gewesen. Jahrelang hatte er Menschen geholfen, die ihr Leben leichtfertig wegwarfen; er hatte gedacht, dass zumindest bei einem Kind immer Hoffnung bestand. Es gab da etwas an Kindern mit ihrer Offenheit und ihren unbefleckten Herzen, das so ganz anders war als die abgebrühten, selbstsüchtigen Erwachsenen, denen er begegnet war. Den Jungen zu retten, war leicht gewesen; das blondhaarige Mädchen ihrem Schicksal zu überlassen war es nicht.
»Gabrielle hat einen Fehler gemacht. Sie muss übersehen haben, das noch ein anderes Kleines im Flugzeug war, daher dachte ich mir, was könnte verkehrt daran sein, sie beide zu retten?«
»Es gab keinen Fehler«, sagte Raphael.
»Das Mädchen hatte es verdient zu leben.«
»Es ist nicht an dir, das zu entscheiden. Das weißt du.«
»Ja, ja, der Boss trifft die Entscheidungen.« Er machte eine abwehrende Handbewegung und setzte sich auf eines der Ledersofas in der Mitte des Saals. Er versuchte, seine Aufträge auszuführen, aber in letzter Zeit war es schwerer geworden, sie zu akzeptieren – obwohl er wusste, dass Michael und Gabrielle ihre Anweisungen von Gott erhielten.
Raphael setzte sich ihm gegenüber und beugte sich vor. »Lahash, die Menschen liegen dir sehr am Herzen und das macht dich zu einem großartigen Seraph. Aber du musst Kontrolle erlernen. Du kannst nicht Entscheidungen treffen, ohne sie zu durchdenken.«
»Ich weiß, was ich tue.« Lash ließ sich in das weiße Leder sinken und lehnte sich zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. »Ich bin nicht einverstanden mit einigen der Entscheidungen, die hier so getroffen werden.«
»Du bist jung. Du wirst noch lernen, dass die Entscheidungen, die wir treffen, auf viel mehr beruhen, als wir sehen können.« Raphaels Stimme wurde streng. »Jede Handlung hat Konsequenzen, die berücksichtigt werden müssen.«
»Komm schon. Sie ist ein kleines Mädchen.« Er hob die Hände. »Ich habe ihr eine Chance gegeben, erwachsen zu werden und ihr Leben zu leben. Was kann daran falsch sein?«
»Mehr, als du ahnst.«
Lashs Gesicht wurde ernst. »Du hättest sie sehen sollen, Raphael. Da war eine Güte in ihrem Herzen, die ich schon lange in niemandem mehr gesehen habe.«
»Ich bin sicher, dass es so war. Aber du hast kein Wissen darüber, was einmal aus ihr wird.«
Raphael lehnte sich zurück, ein abwesender Blick lag in seinen Augen. »Es gab eine Zeit, in der ich meinem Herzen gefolgt bin. Ich habe es gewagt, Michael und die anderen herauszufordern.« Seine Augen senkten sich und ein trauriger Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. »Das habe ich zu einem hohen Preis getan.«
Lash hatte diesen Ausdruck schon von Zeit zu Zeit wahrgenommen und sich gefragt, was Raphael erlebt hatte, das ihm einen derart offensichtlichen Kummer bereitete. Er wünschte, er könnte sich an das erste Mal erinnern, als er ihm begegnet war. Aus irgendeinem Grund gab es da eine Lücke in seiner Erinnerung. Alles, woran er sich erinnern konnte, war, dass er eines Morgens aufgewacht war und Raphael an seiner Seite saß.
Als Raphael aufstand und zur Tür schritt, folgte Lash ihm und schlug ihm spielerisch auf die Schulter. »Hey, mach dir keine Sorgen. Ich werde einen Klaps auf die Finger bekommen wie beim letzten Mal.«
Raphael schüttelte den Kopf. »Eines Tages wird sich deine Aufsässigkeit rächen.«
Er grinste. »Nicht heute. Da bin ich mir sicher.«
Als sie den Korridor entlanggingen, kam ein hochgewachsener, schlanker Engel auf sie zu. Wellen blonden Haars umrahmten ein finsteres Gesicht. »Michael ist bereit, dich zu empfangen.«
Lash grinste. »Bestens, dir auch einen guten Morgen, Gabrielle.«
Gabrielle verengte ihre grünen, katzenartigen Augen. »Verstehst du die Auswirkungen deines Tuns nicht? Oder sind sie dir einfach egal?«
Er wollte gerade antworten, als Raphael sich vor ihn stellte. »Antworte nicht darauf. Gabrielle, ich denke es ist das Beste, dieses Gespräch mit Michael zu führen. Meinst du nicht?«
Ihre Augen wurden sanfter, als sie Raphael ansah. Dann wurden sie kalt. »Diesmal kannst du ihn nicht schützen.« Sie wandte sich an Lash und ihre Augen musterten ihn voller Verachtung.
»Wozu versuchst du es überhaupt?« Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging in Richtung der Halle des Gerichts.
An der Tür trat sie beiseite und stellte sich neben Raphael. Als Lash eintrat, zwinkerte er ihm zu und versuchte, seine wachsende Angst zu verbergen. Merkwürdig. All die Male, die er zuvor in Schwierigkeiten geraten war, war er nie beunruhigt gewesen. Etwas war anders.
»Mach dir keine Sorgen, Raphael.« sagte Lash. »Ich hab das hier im Griff.«
Was war schon das Schlimmste, das sie tun konnten?
2
FÜNFUNDDREIßIG JAHRE SPÄTER
Naomi Duran schaltete den Motor ihres Motorrads aus und blieb einen Moment lang sitzen, um den Kindern des Viertels beim Basketballspielen zuzusehen. Drei Jungen liefen die Straße hinunter, während ein paar Mädchen auf dem Bürgersteig standen und sie vor vorbeifahrenden Autos warnten. Sie löste den Gurt des Helms und lachte leise in sich hinein.
Sie konnte nicht glauben, dass sie endlich das College abgeschlossen hatte.
Sie war längst nicht mehr das dürre Mädchen, das auf den Schultern ihres Cousins Chuy gestanden und den Basketballkorb an den Telefonmast genagelt hatte. Die Narbe an ihrem Knie und den Klaps auf den Hintern, den sie dafür von ihrem Vater bekommen hatte, war es allerdings definitiv wert gewesen. Sie hatte die Wette gegen Lalo Cruz, Chuys besten Freund, gewonnen und die zehn Dollar dafür verwendet, sich mit Big-Red-Limo zu einzudecken. Sie konnte nicht glauben, dass der Korb noch immer am gleichen Platz hing.
Naomi nahm den Helm ab und dunkles Haar fiel ihr übers Gesicht.
Ich muss zum Friseur, dachte sie und strich die zerzauste Mähne zurück.
Das letzte Mal, dass sie dort gewesen war, war fast zwei Jahre her, als ihre Mutter ihr eigenes Haar während der Chemo verloren hatte. Ohne zu zögern hatte sie ihr eigenes Haar, das ihr bis zur Taille gereicht hatte, abgeschnitten und eine Perücke anfertigen lassen. Ein Jahr später waren ihre Haare nachgewachsen und ihre Mutter war von ihnen gegangen. Sie wollte sich die Haare wieder kurz schneiden, aber jedes Mal, wenn sie zum Stylisten ging, brachte das Erinnerungen zurück, an die sie nicht denken wollte.
Es tat weh, an ihre Mutter zu denken und Naomi vermied es, wann immer es ihr möglich war. Sie hatte die Ninja 250R gekauft, nachdem ihre Mutter gestorben war. Das gebrauchte, rote Motorrad hatte förmlich geschrien: »Fahr mich!«, und sie hatte es haben müssen. Dank Chuys Fähigkeiten als Mechaniker hatte sich das Motorrad bald wie neu gefahren. Wenn sie auf ihm unterwegs war, konnte sie die Erinnerungen zurückdrängen: an ihre Mutter, wie sie in ihrem Bett dahinsiechte, und an ihren Vater, der seinen Kummer in Alkohol ertränkte, nachdem ihre Mutter gestorben war.
»Wieso sitzt du denn hier draußen?«
Chuy kam aus dem kleinen, weißen Haus heraus. Die Fliegengittertür fiel hinter ihm ins Schloss. Sie konnte nicht glauben, wie sehr ihr Cousin sich verändert hatte. Er war ein dünner Junge mit schlimmer Akne gewesen. Jetzt bestand er aus Muskeln – dank seines Jobs in der Cruz Moving Company. Das tägliche Möbelschleppen hatte seinen Körper gut geformt, obwohl Naomi das niemals laut zugeben würde. Seinem Ego wurde schon von einigen Mädchen in der Nachbarschaft regelmäßig geschmeichelt, die sich um ihn scharten.
»Ich genieße die Stille, bevor ich mich dem lauten Mob stelle, den wir als Familie bezeichnen.« Sie schwang ihr Bein über den Sitz und schloss ihren Helm am Motorrad an.
»Lass mal. Ich schiebe diese Todesfalle für dich.« Er lehnte sich über ihr Motorrad und spannte seine muskulösen Arme für sie an. »Guck dir die Muckis an. Sind größer geworden.«
Sie verdrehte die Augen und schob ihn beiseite. »Igitt, Chuy. Du hast eine Dusche nötig.«
Chuy grinste. »Was ist los? Ist deine Nase zu fein für Eau de Mexicano? Manche von uns müssen sich ihren Lebensunterhalt verdienen. Nicht alle von uns können einen College-Abschluss haben wie du.«
Naomi schnaubte. Chuy machte sich immer dann über sie lustig, wenn er versuchte, seine Gefühle zu verbergen. Er war wie ein älterer Bruder und hatte immer auf sie aufgepasst, besonders nachdem die Dinge heftig geworden waren mit ihrem Vater.
Manchmal war sie eifersüchtig auf die besondere Beziehung, die Chuy und ihr Vater hatten, aber sie konnte ihrem Vater nicht vorwerfen, dass er Chuy unter seine Fittiche genommen hatte. Schließlich waren dessen eigene Eltern getötet worden, als er fünf war. Ihre Großmutter hatte Chuy großgezogen, ihre Argusaugen stets wachsam, damit er nicht einer der Gangs des Viertels in die Hände fiel. Aber wann immer Chuy ein Problem hatte, war es ihr Vater, der da gewesen war, um die Dinge zu richten.
»Du könntest mittlerweile deine eigene Firma haben, wenn du nicht nach dem ersten Semester alles hingeschmissen hättest.«
»Kannst du mir das vorwerfen? Alles über Sokrates zu lernen hätte mir kaum geholfen, meine Rechnungen zu bezahlen.« Chuy schob den Seitenständer nach unten.
Sie musterte ihn aufmerksam. Das war sein wunder Punkt. Er hatte auf dem College bleiben wollen, aber selbst mit finanzieller Unterstützung hatte er es sich nicht leisten können, die College-Gebühren aufzubringen und gleichzeitig ihre Großmutter zu unterstützen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ihr Vater Mühe gehabt, seinen eigenen Job zu behalten und hatte deshalb auch nicht helfen können.
»Okay, okay. Das gebe ich zu. Du bist wirklich schlau, weißt du.« Sie stupste ihn am Arm an. »Ich hätte Algebra ohne deine Hilfe nicht geschafft.«
»Nicht so laut.« Chuy sah sich nervös um, als sie die Vordertreppe des Hauses erreichten. »Ich habe einen Ruf zu wahren.«
»Oh, wie schrecklich! Ich würde nicht wollen, dass jemand denkt, du wärst intelligent.«
Naomi hörte in einiger Entfernung Musik näherkommen. Die Nachbarskinder traten beiseite und sahen zu, wie der schwarze Mustang um die Ecke bog. Verspiegelte Felgenkränze drehten sich langsam, als das Auto die Straße hinunterrollte. Auf dem Kühlergrill säumten helle LED-Lichter das Pferdelogo wie ein bläulich-weißer Heiligenschein.
»Ernsthaft, Dad?«, fragte Naomi, als ihr Vater, Javier Duran, das Auto vor ihr anhielt. »Depeche Mode?«
»Du weißt, dass ich das mag. Du hast immer dazu getanzt, als du klein warst.« Javier stieg aus dem Auto und umarmte sie. »Herzlichen Glückwunsch, Mijita, mein Töchterchen. Du hast heute Morgen wunderschön ausgesehen in Doktorhut und Umhang.«
»Danke, Dad.« Naomi liebte es, wenn er den spanischen Kosenamen verwendete.
»Hast du uns gehört? Wir haben für dich applaudiert.« Javier öffnete den Kofferraum des Autos und nahm eine Tüte mit Einkäufen heraus.
»Ja, Dad. Ich glaube, jeder hat Chuys Luftdruckfanfare gehört.«
»Hey, ich musste ein bisschen Leben da reinbringen«, sagte Chuy, während er die übrigen Tüten aus dem Kofferraum hob. »Es war so langweilig, dass wir fast eingeschlafen sind.«
»Mission erfüllt. Der Rektor hat fast einen Herzinfarkt bekommen.« Naomi ging zur Vorderseite des Wagens und fuhr mit dem Finger das Licht um das galoppierende Pferd nach. »Du hast die Lichter fertig eingesetzt. Sieht gut aus.«
Javier strahlte und tätschelte die Kühlerhaube des Autos. »Du solltest es mal nachts sehen. Es sieht aus, als würde das Pferd direkt auf dich zugaloppieren.«
Sie lachte. Es war lange her, seit sie ihren Vater das letzte Mal so glücklich gesehen hatte. »Dad, du hörst dich an wie ein Teenager.«
»Das Leben ist hart, Mijita. Man muss es genießen, solange man kann.«
»Ja, wir können schließlich nicht alle so ernste Bücherwürmer sein wie du, Naomi«, sagte Chuy. »Außerdem bist du zweiundzwanzig, nicht zweiundachtzig. Leb ein bisschen.«
Wenn sie das nur könnte. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie in der Lage gewesen war, sich ihrem Alter entsprechend zu verhalten. Während der ersten beiden Jahre am College war sie auf eine Menge Partys der Studentenverbindung gegangen. Aber alles hatte sich in ihrem dritten Jahr geändert, als ihrer Mutter die Diagnose gestellt worden war. Im Gegensatz zu anderen Mädchen ihres Alters war sie nicht daran interessiert, mit Jungen auszugehen, selbst als ihre Mutter sie dazu anspornte. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Mutter hoffte, Naomi würde jemanden finden, auf den sie sich stützen konnte, wenn sie nicht mehr da wäre.
Nachdem sie gestorben war, hatte Naomi keine Zeit gehabt zu trauern, weil sie zu beschäftigt damit gewesen war, sich um ihren verstörten Vater zu kümmern. Wenn sie ihrer Mutter nicht versprochen hätte, ihren Abschluss zu machen, hätte sie sogar das College verlassen.
Javier und Chuy unterhielten sich angeregt über das Auto, während sie Richtung Hinterhof gingen. Naomi lächelte. Es schien, als ob es für sie alle aufwärts ginge. Vor einigen Wochen war Javier den Anonymen Alkoholikern beigetreten und hatte aufgehört zu trinken. Er hatte all seine Energie darein gesteckt, mit Chuy den Mustang zu reparieren. Naomi hatte einen neuen Job als Einzelfallhelferin der Kinderschutzbehörde, den sie in zwei Wochen antreten würde. Da sie dann mehr Geld verdienen würde, wäre sie vielleicht sogar in der Lage, Chuy mit der Abzahlung der Hypothek ihrer Großmutter zu helfen.
»Mijita! Da bist du ja. Was hat denn so lange gedauert?« Naomis Großmutter eilte die Verandatreppe hinab und schlang ihre dünnen braunen Arme um sie.
»Autsch, Belita«, sagte Naomi. »Du zerquetschst mich ja.«
Ihre Großmutter – oder Belita, wie sie von allen liebevoll genannt wurde – war winzig, aber kräftig. Sie trug ihr tintenschwarzes Haar kurzgeschnitten. Sie sagte immer, es sei zu heiß für jede andere Länge. Jahre harter Arbeit, die sie auch damit zugebracht hatte, erst ihren Sohn und dann Chuy großzuziehen, hatten ihr wenig Zeit gelassen, sich selbst etwas zu gönnen, besonders wenn es um Kleidung ging. Sollte jemand ihren Schlafzimmerschrank öffnen, hätte er den Eindruck, in die 70er zurückversetzt worden zu sein. Naomi hatte versucht, ihre Großmutter zu überzeugen, von Polyester auf Baumwolle umzusteigen und hatte sogar angeboten, ihr einen neuen Kleiderschrank zu kaufen, aber Belita hatte abgelehnt mit der Begründung, dass ihre Kleider noch völlig in Ordnung seien und eines Tages wieder in Mode sein würden.
»Ay, Dios mío. Du fährst dieses Ding immer noch. Ich habe dir doch gesagt, du kannst meinen Buick haben.« Belita marschierte an ihr vorbei und warf dem Mototorrad ihren besten bösen Blick zu. »Chuy, kannst du es nicht auf diesem Ding zum Verkauf anbieten… am Computer?«
»Auf welchem Ding?« Chuy sah verwirrt aus.
»Cómo se dice?«, murmelte Belita, dann schnipste sie mit den Fingern. »Jetzt erinnere ich mich. Stell es auf Ebaze.«
»Du meinst eBay. Ja, das kann ich machen.« Chuy sah Naomi mit einem teuflischen Grinsen an. »Oder vielleicht behalte ich es selbst.«
»Vergiss es! Du stellst mein Motorrad nicht auf eBay.« Naomi gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Ich liebe mein Motorrad.«
»Genau wie Stacey«, sagte Javier.
»Was?« Naomi beäugte das Bier, dass er trug und fragte sich, ob er rückfällig geworden war. Sie hatte Alkohol nie besonders gemocht und hatte keinen auf ihrer Abschlussparty gewollt, aber Chuy hatte darauf bestanden und gesagt, dass es ohne Alkohol keine Party sei. Naomi war skeptisch gewesen, aber Chuy hatte versprochen, Javier im Auge zu behalten.
»Deine Mutter. Du bist genauso stur, wie sie es war. Wenn sie sich erstmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, konnte man sie nicht aufhalten.« Tränen glänzten in seinen Augen und er schluckte. »Sie wäre heute so stolz auf dich.«
»Ich vermisse sie auch.« Naomi konnte die Male nicht zählen, die sie gewünscht hatte, ihre Mutter wäre da, um den Moment mit ihr zu erleben. Ihr war nicht klar gewesen, wie sehr sie ihrer Mutter ähnelte, bis sie an diesem Morgen den schwarzen Doktorhut aufgesetzt hatte. Sie hatte im Spiegel dasselbe Bild gesehen, wie das, das sie als Bildschirmhintergrund auf ihrem Handy hatte. Der einzige Unterschied war der, dass auf dem Foto rotbraunes Haar unter dem Hut hervorquoll anstelle von Naomis dunklem Haar.
»Sie hätte es geliebt, dich so zu sehen. So erwachsen. Wenn nur ihre Familie zur Zeremonie hätte herkommen können«, sagte er.
»Ich habe die ganze Familie, die ich brauche, jetzt hier um mich.« Naomi hatte ihre Familie mütterlicherseits nie kennengelernt, abgesehen von der alljährlichen Postkarte mit einem Foto des gesamten Hamiltonclans vor einem großen Weihnachtsbaum. Es war kein Geheimnis, dass die Hamiltons, eine reiche Familie aus der Gegend um Dallas, die Heirat ihrer Tochter mit Javier nicht gutgeheißen hatten. Dabei musste ihnen bequemerweise entfallen sein, dass ihre Tochter ohne Javiers Nachhilfe-Fähigkeiten niemals ihre naturwissenschaftlichen Fächer bestanden hätte. Naomi vermutete, dass es ihre unerwartete Geburt in Staceys letztem Jahr am College gewesen war und die daraus resultierende Ankündigung, dass Stacey ihren Abschluss nicht machen würde, die die Familie den Durans entfremdet hatten.
Naomi legte ihrem Vater einen Arm um die Hüfte, während sie in den Hinterhof gingen. Als sie um die Ecke kamen, schmetterten Trompeten los und sie machte überrascht einen Satz nach hinten.
»Mariachis? Ihr habt Mariachis für mich organisiert?«
»Es sind die Mariachi Cascabel«, sagte Belita stolz. »Sie sind den ganzen Weg von Laredo gekommen. Es sind die Besten.«
Tränen brannten in Naomis Augen, während ihre Großmutter und ihr Vater vor Stolz strahlten. Sie wusste, dass eine solche Band wirklich teuer war und dass sie sich das ganz sicher nicht leisten konnten. Es war erst einen Monat her, dass Lalos Vater, der Besitzer der Cruz Moving Company, angeboten hatte, Javier in Teilzeit einzustellen, damit er ihm beim Managen der Firma helfen konnte. Und das einzige Einkommen, dass Belita hatte, war Sozialhilfe.
»Belita, Dad, das ist zu viel. Ihr hättet nicht – «
»Keine Klagen.« Belita tätschelte Naomis Hand. »Mach dir keine Sorgen. So teuer war es gar nicht. Außerdem haben alle in der Nachbarschaft was dazugegeben.«
Naomi drehte sich zu ihren Nachbarn um, die beieinander saßen, sich unterhielten, aßen und tranken. Die meisten von ihnen kannte sie, seit sie ein kleines Mädchen war – wie Lalos Familie, die Cruzes, die an einem der Picknicktische saßen und sich mit einigen ihrer Verwandten aus Los Angeles unterhielten. Die Durans waren ebenfalls alle erschienen und waren sogar aus Laredo angereist, nur um hier sein zu können. College-Abschlüsse waren in ihrer Familie selten und es rührte sie, dass sie alle hier sein wollten, um mit ihr zu feiern. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Du sagst danke.«, sagte Chuy, während er die Einkaufstüten auf einem Picknicktisch in der Nähe abstellte.
»Das weiß ich.« Sie gab erst Belita, dann ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. »Vielen, vielen Dank.«
»Chuy, hier rüber, Alter. Bring den Alkohol mit.«
Naomi sah zu, wie Lalo eine helle Flüssigkeit in den Grill spritzte. Er wischte sich mit einem Papiertuch über die verschwitzte Stirn und stopfte es dann in seine Hosentasche. Lalo war ein großer Fan von XXXL-Hawaii-Hemden und Fajitas. Er war ein lieber Kerl und äußerst loyal. Man konnte ihm blind in allen Dingen vertrauen – außer mit entflammbaren Substanzen.
»Ihr habt Lalo die Verantwortung für den Grill übertragen? Seid ihr verrückt? Er wird das ganze Viertel in Flammen setzen.« Sie wollte gerade zu ihm eilen, als Belita sie zurückhielt.
»Warte mal kurz.«, sagte Belita. »Ich habe ein Geschenk für dich.«
Chuy schirmte seine Augen ab, als sie mit einer Hand in ihren Ausschnitt griff. »Ach, Belita. Mach das doch nicht vor allen Leuten.«
»Ay, Ama! Wieso steckst du Zeugs da rein?« Javier stellte sich vor sie und sah sich um, um zu sehen, ob jemand zusah.
Belita zog einen zusammengefalteten Umschlag heraus. »Es ist der sicherste Ort, den ich kenne.«
»Damit hast du allerdings recht«, sagte Chuy.
»Geh und hilf Lalo, Pendejo.« Belita schlug nach ihm.
»Nein, Lalo!« Chuy rannte zu ihm hin. »Eine Dose reicht!«
»Das hier ist für dich, Mijita.« Belita legte das weiße Päckchen in Naomis Hand.
»Das kann ich nicht annehmen. Du hast mir schon so viel gegeben.« Naomi versuchte, den Umschlag wieder in die Tasche ihrer Großmutter zu stecken.
»Nein, nein. Nimm es an. Es ist ein Geschenk. Du kannst ein Geschenk nicht ablehnen. Das wäre eine Beleidigung.«
Belita hatte die Hände in die Hüfte gestemmt und sah Naomi mit angriffslustigem Blick an. Es wäre wie ein Schlag ins Gesicht ihrer Großmutter, wenn sie das Geschenk nicht akzeptierte. Es war eine Frage des Stolzes, dass Belita es geschafft hatte, einen kleinen Geldbetrag zusammenzubringen.
Sie beugte sich herunter und küsste sie auf die Wange. »Gracias, Belita.« Irgendwie, das schwor sich Naomi, würde sie es ihr zurückgeben. Es wäre besser, das zu tun, ohne dass Belita es mitbekam. In dieser Hinsicht war sie äußerst stur.
Als der Abend voranschritt, lehnte sich Naomi mit Belita und den anderen zurück und lauschte den Mariachis. Irgendwann leitete Belita allen voran den bekannten Ranchero-Song »Cielito Lindo« ein.
»Anita, du bist genauso gut wie die Sängerin Lola Beltrán«, sagte Chela, ihre Nachbarin von nebenan, als Belita mit dem Singen fertig war.
Naomi sah Belita überrascht an. Sie war so daran gewöhnt, dass alle sie Belita nannten, dass sie manchmal ihren richtigen Namen vergaß. Sie reichte ihrer Großmutter eine Flasche Big-Red-Soda und und prägte sich die funkelnden Augen genau ein, die sich in Fältchen legten, wenn Belita lachte. Ihre Hände, die nach Jahrzehnten täglichen Gebrauchs abgearbeitet waren, tätschelten Naomis Knie, als sie ihr für das Getränk dankte.
Ein paar Stunden später nickte Belita ein und die Leute begannen, die Party zu verlassen. Naomi sah sich nach ihrem Vater um und winkte ihn heran, als sie ihn im Gespräch mit Mr. Cruz erblickte.
»Schläft sie?«, fragte Javier, als er sich ihr näherte. Er sah herab auf seine schnarchende Mutter und lachte leise. »Sie sieht so jung aus, wenn sie schläft. Es ist, als hätte sie sich überhaupt nicht verändert.«
Naomi starrte sie einen Moment lang an und glaubte, einen flüchtigen Blick auf die junge Frau zu erhaschen, die Belita einst gewesen war. Sie hoffte, ganz genau wie sie zu sein, wenn sie älter wäre.
»Mom.« In einem Versuch sie aufzuwecken, stupste er sie an der Schulter an. »Mom. Es Zeit fürs Bett.«
»Was?«, murmelte sie und rieb sich die Augen. »Nein, das hier ist eine Party. Ich kann etwas länger aufbleiben.«
»Es ist fast Mitternacht, Belita. Ich bin selbst ziemlich müde.« Naomi täuschte ein Gähnen vor und erhob sich von ihrem Platz. »Ich werde aufräumen. Geh du ins Bett.«
»Ich werde dir helfen.« Belita schob sich zur Kannte ihres Stuhls vor. »Hilf mir hoch, Javier.«
Javier stellte die Flasche, die er hielt, auf dem Tisch ab und streckte ihr einen Arm entgegen. Sie stemmte sich mit ihrem Gewicht gegen ihn und zog sich hoch.
»Geh du ins Bett.«, sagte er. »Ich werde Naomi helfen.«
Belita drehte sich zu ihrem Sohn um und tätschelte ihm die Wange. »Du bist ein guter Junge und hast eine phantastische Tochter großgezogen. Meine College-Absolventen.« Während sie das sagte, ergriff sie ihre Hände. »Ich bin so stolz auf euch beide.«
Naomi warf einen Blick hinüber zu Chuy, der sich noch immer mit einigen von seinen Freunden unterhielt, während sie und ihr Vater die beiseite geworfenen Becher und Teller aufsammelten. Jedes Mal, wenn Chuy zu einem der Mädchen hinsah, senkte dieses die Augen und gab vor, jedem Wort gebannt zu folgen, das aus seinem Mund kam. Er belohnte sie, indem er jedes Mal den Bizeps anspannte, wenn er die Flasche an die Lippen führte oder wenn er sich an der Kühltruhe zu schaffen machte, was er oft tat.
Irgendwann sah Chuy zu Naomi herüber und wackelte mit den Augenbrauen, als ein Mädchen namens Rosie sich an ihn schob. Sie war eines jener Mädchen – der Typ mit beeindruckendem Dekolltee, der die Männer zum Sabbern brachte. Rosie schob ihr langes gewelltes Haar über ihre Schulter und schenkte Chuy eines ihrer besonderen Lächeln. Naomi steckte sich einen Finger in den Mund und tat so, als müsste sie würgen. Sie war nicht besonders begeistert. Rosie hatte den Ruf, sich an alles heranzumachen, was sich bewegte und sie hatte zwei Babys, um das zu beweisen. Wäre Belita wach, würde sie wahrscheinlich ihren Besen holen und Rosie davonscheuchen.
»Hey, Naomi, komm mal her!«, rief Chuy.
»Was ist los?« Naomi lehnte das Bier, das Lalo ihr anbot, mit einer Handbewegung ab.
»Was stimmt denn mit deiner Cousine nicht, Alter?«, fragte Mateo, einer von Chuys Freunden. »Zu fein, um mit uns zu trinken?«
»Ich kann dich hören, Mateo«, sagte Naomi und stemmte die Hände in die Hüften. »Und um deine Frage zu beantworten, ich bin auf meinem Motorrad hergekommen, also kein Alkohol für mich – wenn ich nicht die Nacht auf der Couch verbringen und Chuys Schnarchen ertragen möchte, das das ganze Haus erschüttert.«
»Ich schnarche nicht«, entgegnete Chuy. »Du schnarchst.«
»Mhm. Ja, richtig.« Sie verdrehte die Augen.
»Komm schon Chuy, jetzt reib’s schon«, sagte Lalo. »Wenn wir jetzt losgehen, können wir noch ein paar Runden am Würfeltisch schaffen und vor unserem Konzert am Nachmittag zurück sein.«
»Reib was? Und wohin willst noch so spät? Musst du morgen nicht arbeiten?« Naomi schlug nach Chuys Händen, als er ihr das Haar von der Schulter strich. »Was machst du da?«
»Wir fahren zum Lake-Charles-Casino in Louisiana«, antwortete er, während er versuchte, den Kragen ihrer Bluse nach unten zu ziehen. »Komm schon, Naomi. Lass mich dran reiben, das bringt Glück.«
Naomi schlug ihm noch einmal auf die Finger, »Lass das sein, Chuy. Meine Geburtsfehler sind nicht zu deiner Unterhaltung da.«
»Ich gebe dir zwanzig Mäuse, wenn ich gewinne.«
»Nein.«
»Ach, komm schon.«
»Es ist nur eine Ansammlung von Sommersprossen, Chuy.«
»Sie bringen Glück.«
»Sprecht ihr von ihren Sommersprossen?«, rief Javier, als er, zwei volle Müllsäcke hinter sich herziehend, an ihnen vorbeikam. »Sie bringen Glück«, erklärte er, bevor er im Vorgarten verschwand.
»Dad«, stöhnte sie.
»Siehst du?«, sagte Chuy. »Selbst dein Dad denkt, sie sind Glücksbringer.«
»Ich muss dieses Ding sehen.« Mateo trat einen Schritt näher an Naomi heran.
Chuy stellte sich ihm in den Weg und hielt ihn zurück, indem er ihm eine Hand auf die Brust legte. »Das kannst du nicht, Mann. Es ist eine Familiensache.«
»Im Ernst, Chuy, jetzt bist du schon so abergläubisch wie Belita. Nur, weil meine Sommersprossen wie eine Sieben aussehen, heißt das noch lange nicht, dass sie Glück bringen. Wenn sie das täten, glaubst du, ich würde Belita in diesem Viertel wohnen lassen… mit dir?« Es was ein merkwürdig geformtes Mal in ihrem Nacken. Sie hatte es in ihrer Kindheit nicht bemerkt, bis sie eines Tages mit Chuy schwimmen gegangen war. Er hatte sich von hinten an sie herangeschlichen und wollte sie gerade in den Pool schubsen, als er das ungewöhnliche geformte Mal bemerkt hatte. Belita hatte ihnen erzählt, dass Naomi damit geboren worden und zu etwas Besonderem bestimmt war. Chuy hatte das so aufgefasst, dass das Mal ein Glücksbringer war.
»Es bringt Glück. Letzte Woche, nachdem ich dir den Nacken massiert hatte, habe ich ein Los fürs Lotto gekauft und fünfzig Mäuse gewonnen.«
Sie schäumte vor Wut. »Und ich dachte, du wolltest nett sein, weil ich in der Prüfungswoche so gestresst war!«
Chuy versuchte noch einmal, ihren Nacken zu berühren und sie schlug ihm auf die Finger. »Hör auf damit! Ich bin kein Flaschengeist.«
»Und wenn ich dich in meinen Selbstverteidigungskurs lasse?«
Chuy bot ehrenamtlich Selbstverteidigungskurse im Begegnungszentrum des Stadtteils an. Sie hatte ihn seit Wochen darum gebeten, sie beitreten zu lassen. Wenn man in Houston lebte, vor allem in diesem Stadtteil, war Selbstverteidigung etwas, das jede Frau beherrschen sollte.
Naomi seufzte. »Okay.« Sie hob ihr Haar an und zog den Kragen ihrer Bluse nach unten. »Mach schnell, ich will’s hinter mich bringen.«
Chuy rieb kurz daran. »Na siehst du, das war doch gar nicht so schlimm, oder?«
»Igitt, hau ab. Und nimm deine Freunde gleich mit.« Sie schubste ihn scherzhaft und ging davon, um nach ihrem Vater zu suchen.
3
Naomi warf den letzten Müllsack in die Tonne und setzte sich ihrem Vater gegenüber auf die Vordertreppe. Er spielte mit einer roten Marke, seinem Einen-Monat-nüchtern-Abzeichen und ließ es zwischen seinen Fingern kreisen. Sie lehnte sich gegen das Geländer und sah hinauf zu den Sternen am wolkenlosen Himmel. Sie saßen in einvernehmlichem Schweigen, keiner von ihnen wollte die außergewöhnlich friedliche Stille der Nacht stören. Normal waren das ferne Krachen von Schüssen und das Heulen von Sirenen. Obwohl Naomi nur wenige Meilen entfernt wohnte, machte sie sich Sorgen, weil ihre Großmutter und Chuy in einer so gefährlichen Gegend lebten.
»Hat es dir gefallen, Mijita?«, fragte Javier.
»Es war großartig, Dad.« Naomi warf einen Seitenblick auf die braune Flasche, die er hielt.
»Das ist Limo«, sagte er als Antwort auf ihren Gesichtsausdruck. »Ich weiß, dass du Angst hast, ich könnte wieder zu trinken anfangen. Du hast mein Wort darauf, dass ich das nicht tun werde.«
»Bist noch in Kontakt mit deinem Sponsor?«
»Jeden Tag.«
»Gut.«
Ihr Vater blieb einen Moment lang still. Er verlagerte das Gewicht, bevor er sprach. »Es gibt etwas, das ich dir geben möchte.«
»Dad– «
»Bevor du nein sagst, lass es mich erklären.« Er klopfte auf die freie Stelle neben ihm. »Komm her.«
»Aber– «
»Bitte, das hier ist wichtig.«
Sie rutschte über die Stufe heran und Unbehagen überkam sie, als sie darauf wartete, dass ihr Vater zu sprechen anfing. Das letzte Mal, als er so ein Gesicht gemacht hatte wie jetzt, war, als er ihr hatte sagen müssen, dass ihre Mutter gestorben war.
Er griff in seine Tasche und zog ein filigranes Silberkettchen hervor. Als er es im Verandalicht baumeln ließ, strahlten blaue und weiße Lichtblitze von den winzigen Diamanten ab, die das Kreuz säumten. Die Halskette ihrer Mutter. Tränen verschleierten ihren Blick, als sie sich erinnerte, wie sie auf dem Krankenhausbett gesessen hatte, ihre Mutter blass vor Schmerzen, mit dunklen Ringen unter den Augen und hohlen Wangen. Immer, wenn sie das Kettchen mit dem Finger nachgezogen hatte, hatte Frieden in ihren Augen geleuchtet. Ihr Glaube war so stark gewesen; es war etwas, von dem Naomi wünschte, sie hätte es auch.
Sie ließ ihre Finger über den Anhänger gleiten und fühlte die kalte Berührung des Silbers. Seitdem ihre Mutter gestorben war, hatte ihr Vater das Kettchen in einem kleinen Samtbeutelchen aufbewahrt, das er immer bei sich trug. »Das kann ich nicht annehmen.«
»Es ist deins«, sagte er. Seine Stimme klang laut in der stillen Nacht, obwohl er flüsterte.
Naomi ließ ihre Hand herabfallen. »Sie gehört dir.«
Er hob ihre Hand auf und drehte sie um. Er ließ die Kette in ihre Handfläche fallen und starrte einen Moment lang darauf. »Nein, sie gehört dir.«
»Dad, ich –«
»Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?«
»Schon, aber –«
»Ich fühle mich besser, wenn ich weiß, dass du sie hast. Du bist erwachsen und hast ein ganzes Leben vor dir. Jetzt musst du losziehen. Jemand Besonderen treffen. Wann bist du das letzte Mal auf einem Date gewesen?«
Naomi schnitt eine Grimasse. Es war etwas daran gewesen, ihren Vater die Liebe seines Lebens verlieren zu sehen, das das Daten in neues Licht gerückt hatte. Sie dachte an all die Jungen, mit denen sie ausgegangen war. Sie konnte sich an niemanden erinnern, für den sie so tief empfunden hätte wie ihre Eltern für einander.
»Ich bin nicht am Daten interessiert, zumindest jetzt nicht.«
Javier schüttelte den Kopf. »Schotte dich nicht vor der Liebe ab, Mijita. Wenn die Zeit reif ist, wird der Richtige dich finden. Alles, was du brauchst, ist Vertrauen.« Er nahm ihr das Kettchen aus der Hand und befestigte es um ihren Hals.
Naomi sah ihm aufmerksam ins Gesicht und fragte sich, weshalb er sich so merkwürdig verhielt. Er schien ihr noch mehr sagen zu wollen und sie wartete stumm ab in der Hoffnung, dass er fortfahren würde. Stattdessen seufzte er und stand auf.
»Wohin gehst du?«, fragte sie, überrascht, dass er jetzt los wollte.
»Zur Arbeit.« Er nahm den Autoschlüssel aus der Tasche. »Ich putze heute Nacht Büros.«
»Du hast zwei Teilzeitjobs?«
»Ich muss viele Rechnungen nachzahlen. Sieh mich nicht so an.« Er tippte ihr auf die gerunzelte Stirn. »Du kriegst noch Falten, bevor du dreißig bist.«
»Jetzt, wo es dir besser geht, könntest du vielleicht an einen IT-Job kommen.« Sie wandte den Blick ab, wohlwissend, dass selbst sein Abschluss in Computer Science die mehrfachen Verwarnungen seiner früheren Arbeitgeber nicht auslöschen konnte. Sie klammerte sich an die Hoffnung, dass in einer Großstadt wie Houston jemand ihm eine neue Chance geben würde und dass er einen Job fand, bevor die Welt der Technologie sich bereits viel weiter entwickelt hatte.
»Vielleicht.« Javier drehte den Schlüssel im Motor und die Lichter, die einen Kreis um den Mustang herum formten, erwachten blinkend zum Leben.
»Du und Chuy, ihr habt das wirklich gut hingekriegt.« Naomi trat zurück, um eine bessere Sicht zu haben. »Er ist wirklich cool. Ihr zwei solltet zusammen eine Firma aufmachen.«
»Das ist keine schlechte Idee. Obwohl, wie ich Chuy kenne, würde er die ganzen Gewinne verfressen.« Er legte den Rückwärtsgang ein. »Bis morgen. Vergiss nicht, deinen Helm aufzusetzen.«
»Mach ich doch immer.« Sie winkte.
Er war schon halb die Straße hinuntergefahren, als sie aus heiterem Himmel heraus das Bedürfnis hatte, ihm nachzulaufen. Sie schüttelte den Kopf schalt sich selbst für diesen Unsinn.
Ich sehe ihn morgen. Sie startete das Motorrad und fuhr in die entgegengesetzte Richtung davon.
Jane Sutherland lehnte sich an das Waschbecken und streifte ihre Jimmy Choos ab. Nach fünf Stunden voller Gespräche und Kontakteknüpfen mit den Reichen Houstons und den führenden Größen von Texas Oil schrien ihre Füße vor Schmerz. Sie wackelte mit den Zehen, während der Boden ihre gequälten Füße kühlte. Viel besser, dachte sie. Wenn sie doch bloß barfuß zu formellen Veranstaltungen gehen könnte, das würde sie um einiges erfreulicher machen.
Sie sah in den Spiegel und trug eine neue Schicht rubinroten Lippenstift auf. Ihr platinumblondes Haar, das zu einem Dutt aufgesteckt war, betonte ihre großen saphirfarbenen Augen. Siebenundvierzig Jahre, in denen sie die Sonne vermieden hatte – sie bekam leicht einen Sonnenbrand – hatten ihr Gesicht blass und faltenlos gelassen.
Es kopfte an der Tür. »Senatorin Sutherland? Mr. Prescott hat einen Gast, den er Ihnen gern vorstellen würde.«
»Ich bin gleich da.« Jane seufzte und legte den Lippenstift in ihr Gucci-Etui.
Noch ein Gast. Noch ein Drink.
Als sie ihre politische Karriere begonnen hatte, hatte sie keine Ahnung gehabt, dass sie die meiste Zeit mit der Beschaffung von Geldern verbringen würde. Sie hatte naiverweise geglaubt, sie sei anders als die anderen. Sie würde etwas bewegen. Mittlerweile war das Einzige, worüber sie entschied, ob ihre Geldgeber von ihren großzügigen Spenden für ihre Kampagne profitieren würden oder nicht.
Sie öffnete die Tür und fand im Flur einen wohlsituierten Mann vor.
»Senatorin.« Er lächelte strahlend. »Ich wollte gerade nachsehen kommen, ob ich dir behilflich sein kann.«
»Ich meine mich zu erinnern, dass ich dir das letzte Mal, als du mir behilflich sein wolltest und mir in die Damentoilette gefolgt bist, Wasser über deine Seidenkrawatte gekippt habe.« Jane lächelte Luke Prescott an.
Er bot ihr seinen Arm an und sie hängte sich bei ihm ein. »Ich habe dir einen Gefallen getan und dich hochgehoben, damit du dir die Hände waschen konntest. Ich hatte keine Ahnung, dass du meine Lieblingskrawatte zerstören würdest.«
»Das ist das Risiko, dass die Gesellschaft einer Fünfjährigen mit sich bringt.« Jane drückte zärtlich seinen Arm.
Ihr Vater hatte für Luke Prescott gearbeitet und er war ein enger Freund der Familie. In ihrer Kindheit und Jugend war Luke bei den wichtigen Ereignissen in ihrem Leben immer dabei gewesen – als sie die Hauptrolle in der Theateraufführung der Schule innehatte, beim Abschlussball, bei der Abschlusszeremonie – selbst, als ihr Vater es nicht gewesen war. Als dann ihre Mutter gestorben war, hatte er darauf geachtet, wenigstens einmal am Tag vorbeizuschauen. Er war ihr engster Vertrauter geworden. Es war seine Idee gewesen, dass sie die rechtswissenschaftliche Fakultät besuchen sollte und danach hatte er sie darin bestärkt und unterstützt, sich zur Senatorenwahl aufstellen zu lassen.
»Zum Glück hatte ich ein ganzes Dutzend mehr davon.« Seine grauen Augen funkelten.
»Und wieso auch nicht? I würde davon ausgehen, dass ein Milliardär zumindest einige hat.«
»Aber, aber, Jane. Sei nett zu den Superreichen. Wir haben auch Gefühle.«
Jane hielt vor dem Eingang zum Festsaal an. Im Raum wimmelte es von Unterstützern der American Federation Party und alle erwarteten sie Großes von ihr. Alles, was sie je gewollt hatte, war, daran mitzuwirken, dass Menschen ein besseres Leben hatten. Wann hatte sich das in das Tragen eines Designerkleids verwandelt und in Gespräche mit Leuten, die den Preis für einen Kleinwagen zahlten, nur um mit ihr im selben Raum zu sein? Wenn Luke sie nicht ständig zu dem, was er für eine notwendige Uniformierung hielt, gedrängt und ihre Garderobe gekauft hätte, hätte sie etwas weniger Pompöses getragen.
»Ich bin ein bisschen müde, Luke. Lass uns Schluss machen.«
»Noch eine letzte Person«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Die Conoleys wollen dich unbedingt persönlich kennenlernen. Sie sind extra von Oklahoma hergeflogen.«
»Zweifellos in ihrem Privatjet.«
»Es ist ein kleiner!«
»Oh, Verzeihung.« Jane täuschte Anteilnahme vor. »Ich wusste ja nicht, welche Strapazen sie auf sich genommen haben. Lernen wir sie also kennen.« Sie konnte es ebenso gut hinter sich bringen. So sehr sie die Spendenaktionen auch hasste, die American Federation Party war ihre Leidenschaft, denn sie glaubte daran, dass ihre Grundwerte in Hinblick auf steuerliche und gemeinschaftliche Verantwortung gut für das Land waren.
Nachdem Jane mit den Conoleys einen Drink eingenommen hatte, führte Luke sie zu einer anderen Gruppe von Leuten, die sie treffen sollte. Jedes Mal, wenn sie verschwinden wollte, fand Luke für sie einen Vorwand zum Bleiben. Es war merkwürdig, dass sie mit zunehmendem Abend das Gefühl hatte, betrunken zu sein, obwohl sie nur ein klein wenig an einem Glas Wein genippt hatte. Sie warf einen Blick auf ihr Glas und fragte sich, wie es immer noch halbvoll sein konnte. Es war, als hätte sie überhaupt nichts getrunken.
»Mir reicht’s, Luke«, sagte sie.
»Geh und gönn dir deinen Schönheitsschlaf.« Er winkte einem hochgewachsenen Mann zu, der am Rand des Raums stand. »Ich werde Sal sagen, dass er dir nach Hause folgen soll.«
»Das ist nicht nötig«, sagte sie. Sal war Lukes persönlicher Assistent und Bodyguard. Wo auch immer Luke hinging, Sal war immer dicht hinter ihm und lauerte im Schatten. Er versuchte, sich unauffällig unter die anderen zu mischen, was schwierig war für einen schwerfälligen, fast zwei Meter großen Muskelberg. Die Krokodillederstiefel, die er immer trug, halfen dabei auch nicht.
Sal stand mit ausdruckslosem Gesicht neben Luke. Seine schwarzen Augen glitten über Jane und für einen Moment spannte sich sein Blick an und er musterte sie, als sei sie unter seiner Würde. Ein eiskaltes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus. So hatte er sie noch nie angesehen; und Jane fragte sich, was sie getan hatte, um einen solchen Blick zu verdienen.
Luke nickte ihm kaum merklich zu und Sal warf einen letzten Blick auf Jane, bevor er sich seinen Weg durch die Menge bahnte und den Festsaal verließ. »Ich werde dich für heute gehen lassen, aber du wirst dich daran gewöhnen müssen, ständig Leute an deiner Seite zu haben, wenn du Präsidentin bist.« Luke ergriff ihren Ellbogen und führte sie zur Lobby.
Jane lachte. »Du bist voreilig. Lass uns erstmal abwarten und sehen, ob ich meine Amtszeit überstehe. Ich habe ja kaum meinen Platz im Senat gewonnen.« Als Luke und seine Freunde vorgeschlagen hatten, sie solle sich als Senatorin der American Federation Party aufstellen lassen, hätte sie nie geglaubt, dass sie die Wahl tatsächlich gewinnen könnte, weil die Partei neu war und wenige Unterstützer hatte. Luke hingegen hatte nie daran gezweifelt.
»Ich habe mich noch nie in Situationen wie dieser geirrt. Merk dir meine Worte, Jane. Du wirst noch Präsidentin der Vereinigten Staaten.«
Bei diesen Worten überlief Jane ein Frösteln. Sie hätte sich beschwingt fühlen sollen. Wieso fühlte sich das Frösteln an, als rührte es eher von Angst her als von Aufregung?
Ein safter Regen fiel, als sie in ihrem silbernen Jaguar XF – einem Geschenk von Luke, als sie vor langer Zeit ihr Studium der Rechtswissenschaften abgeschlossen hatte – durch die Außenbezirke Houstons in die Vororte nachhause fuhr. Weil ihr ein wenig schwindelig war, drehte sie die Klimaanlage auf und richtete die kühle Luft auf ihr Gesicht. Sie ergriff ihr Smartphone, presste einen Knopf und wartete auf den vertrauten Piepton.
»Spiel Mozart«, wies sie an.
»Eine kleine Nachtmusik« ertönte aus den Lautsprechern, während sie eine kurvenreiche Straße entlangfuhr. Das Scheinwerferlicht des Autos wurde von der Glasfassade eines Bürogebäudes reflektiert, an dem sie vorbeifuhr. Als sie, darum kämpfend, wachzubleiben, auf den Highway vor sich starrte, sah sie, wie in einiger Entfernung eine Straßenlaterne flackerte. Als sie daran vorbeifuhr, wurde das Licht stärker und normalisierte sich dann. Dann beobachtete sie dasselbe an einer anderen Laterne, als sie daran vorbeifuhr– sie flackerte, wurde heller und leuchtete dann normal.
Ich muss mehr getrunken haben, als ich dachte. Sie schlug sich leicht auf die Wangen.
Das Handy klingelte und sie fuhr erschrocken zusammen. Als sie einen Blick nach unten warf, erkannte sie den Namen »Luke Prescott« auf dem Bildschirm.
Es schien alles gleichzeitig zu geschehen. Ein gewaltiger Druck lag schwer auf ihrer Brust und eine Sekunde lan glaubte sie, sie hätte einen Herzinfarkt. Der Druck breitete sich aus, als ob er ihren ganzen Körper mit einem Kokon umgäbe, der sie schützte. Es war das gleiche Gefühl, dass sie vor fünfunddreißig Jahren gehabt hatte, kurz bevor das Flugzeug abgestürzt war. Da war das Quietschen von Reifen und ein Adrenalinrausch durchfuhr sie. Das Letzte, was sie sah, bevor sie ohnmächtig wurde, war ein galloppierendes Pferd, das auf sie zuraste.
4
Lash beobachtete die hochgewachsene Rothaarige, während sie den verräucherten Raum absuchte. Die einzige Beleuchtung kam von einer Reihe Lichter, die die Bühne säumten, wo zwei ihrer Kolleginnen an der Stange tanzten. Es war später Nachmittag und das Geschäft ging schleppend, abgesehen von der Gruppe Männer im Ruhestand, die Stammgäste der Bar waren. Als die Augen der Frau zur hinteren Ecke des Raums wanderten und seinem Blick begegneten, lächelte er spöttisch über das Begehren, das ihr ins Gesicht geschrieben stand, als sie das schwarze T-Shirt musterte, das wie angegossen um seinen gutgebauten Oberkörper lag, die ausgeblichenen, zerrissenen Jeans, die ihm auf den Hüften saßen und das wilde dunkle Haar.
Lash lächelte ihr entgegen, als sie auf ihn zu schlenderte. Seine Augen wanderten über ihren Körper und verschlangen die langen Kurven ihrer Beine, die mit Leoparden-Nippelpflastern überklebten Brüste und den dollargesäumten Tanga, der ihre Taille umrahmte und wenig der Phantasie überließ. Er stand auf, um sie zu begrüßen, als ihm eine Hand auf die Schulter schlug und ihn auf seinen Platz zurückstieß.
»Gabrielle«, knurrte er. »Wie hast du mich gefunden?«
»Hau ab, Schwester.«, sagte die Rothaarige und beäugte Gabrielle misstrauisch. »Der hier gehört mir.«
Gabrielle sah die Rothaarige an und runzelte die Stirn. Sie schüttelte den Kopf, zog ihre Lederjacke aus und warf sie dem Mädchen zu. »Verlass diesen Ort und komm nicht wieder.«
Die Rothaarige blinzelte verwirrt.
Gabrielle lehnte sich zu ihr vor und flüsterte: »Du wirst morgen einen besseren Job finden. Das verspreche ich.«
Verblüfft nickte die Rothaarige nur, zog Gabrielles Jacke an und ging zur Tür hinaus.
»Michael mag es nicht, wenn du deine Jedi-Tricks bei Menschen einsetzt.« Lash drohte mit dem Finger.
Gabrielle zerrte einen Stuhl hervor und wischte ihn mit einer Serviette ab, bevor sie sich setzte. »Fünfunddreißig Jahre auf der Erde und alles, was du dir angeeignet hast, ist umfasssendes Wissen über George-Lucas-Filme. Hervorragend.«
»Lass es uns als anthropologische Studien der menschlichen Natur bezeichnen.« Lash grinste und hob sein Glas.
Gabrielle runzelte die Stirn. »Du besudelst deinen Körper genauso wie deinen Verstand.«
»Ich hätte gedacht, du fändest das amüsant.«
»Ich habe wichtigere Dinge zu tun, als zuzusehen, wie du in deinem selbstgeschaffenen Elend schwelgst.«
»Was? Es ist dir egal, ob ich der dunklen Seite verfalle?« Lash täuschte großäugige Unschuld vor. »Das tut weh.«
»Ich weiß nicht, was Raphael in dir sieht. Ich verschwende hier meine Zeit.«
»Wenn du nicht vorhast, diese Klamotten da auszuziehen und um diese Stange da drüben herumzutanzen, dann würde ich sagen, ja, das tust du allerdings.«
Ihr Blick wurde kalt. »Primitivling.«
»Manchen Frauen gefällt das.« Er grinste unverschämt.
»Puh, lass uns das hinter uns bringen. Ich habe eine Aufgabe für dich.«
»Ich bin raus aus dem Familiengeschäft, weißt du noch?« Lash lehnte sich auf seinem Sitz zurück. »Soweit ich mich erinnere, warst du dabei, als ich ohne viel Aufhebens zur Tür rausgeworfen wurde.«
»Das war das Highlight meines Jahrhunderts.«
»Da bin ich sicher.« Lash blickte in ihre katzenartigen Augen und wünschte, er könnte ihr die Selbstgefälligkeit aus dem Gesicht wischen. »Egal, was du für mich hast, ich bin nicht interessiert.«
Gabrielle zog eine Augenbraue hoch. »Bist du sicher?« Sie zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Hintertasche ihrer Jeans und wedelte damit vor seinem Gesicht herum. »Bist du nicht ein kleines bisschen neugierig, weshalb Michael dir nach all diesen Jahren eine Aufgabe geben würde?«
Er war neugierig, aber er wollte auf gar keinen Fall, dass Gabrielle das mitbekam. Er kippte auf dem Sitz nach hinten, balancierte auf dessen Hinterbeinen und legte die Füße auf den Tisch. »Es ist mir völlig egal.«
»Ich habe Raphael gesagt, er soll seine Zeit nicht verschwenden.«
Sein Stuhl schwankte und er drohte die Balance zu verlieren. Schnell korrigierte er seine Haltung. Ohne die Augen von ihr abzuwenden, sagte er: »Da sind wir tatsächlich mal einer Meinung.«
Gabrielle warf das Papier in die Mitte des Tischs. »Ob es dir egal ist oder nicht, geht mich nichts an. Was du damit machst, ist deine Entscheidung.«
Lash warf aus dem Augenwinkel einen Blick auf das Papier. Er wusste, dass sie ihn weiterhin beobachten würde, nachdem sie gegangen wäre, um zu sehen, ob er doch einen Blick darauf warf. »Du gehst schon?« Er ließ die Vorderbeine des Stuhls auf dem Boden aufsetzen, als sie aufstand.
»Ich habe Wichtigeres zu tun, als dir beim Verschwenden deiner Gaben zuzusehen. Michael hätte sie dir alle wegnehmen sollen, als er dich rausgeworfen hat.«
»Gaben? Ich bitte dich. Mach keine Witze. Was ich in meiner menschlichen Form tun kann, ist begrenzt, das weißt du.« Seine Fähigkeit zu sehen und zu hören war immer noch besser als die der Menschen und er war um einiges stärker als sie, aber die Entfernung, die er fliegen konnte, war stark eingeschränkt. Er hasste das.
»Ach, du Ärmster«, sagte sie, bevor sie sich abwandte und zur Tür ging. »Ich bin hier fertig.«
»Warte!«, rief Lash hinter ihr her. »Warum hat Michael dich geschickt, um den Auftrag zu überbringen?«
Gabrielle drehte sich um, ihre durchdringenden Augen begegneten seinen und ihre Lippen verzogen sich zu einem durchtriebenen Lächeln. »Ich habe mich freiwillig gemeldet.«
Ihre Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Sie wusste, dass er die Nachricht ablehnen würde, wenn sie sie selbst überbrachte. Es musste etwas wirklich Wichtiges sein, wenn sie verzweifelt genug war, sicherzustellen, dass er sie nicht entgegen nehmen würde.
Lash griff nach dem Zettel und Gabrielles Lächeln gefrohr. Er lachte leise. »Du willst wirklich nicht, dass ich das sehe, oder?«
Gabrielle Gesichtszüge glätteten sich und sie zuckte mit den Schultern. »Wie gesagt, mir ist es ziemlich egal.« Sie öffnete die Tür und ließ das Licht des Nachmittags in den dunklen Club strömen. Als sie zur Tür hinaustrat, murmelte sie leise: »Schwächling«, und knallte die Tür hinter sich zu.
»Schlampe!«, rief Lash hinter ihr her, wohlwissend, dass sie ihn auch dann hätte hören können, wenn er geflüstert hätte. Ohne nachzudenken griff er nach dem Zettel, zerriss ihn in Stücke und warf sie in die Luft. Während die weißen Stücke zu Boden segelten, stürzte er den Rest seines Whiskeys hinunter und knallte das Glas auf den Tisch, dass es zerbrach.
Verdammter menschlicher Körper und dessen Schmerzempfinden. Er zuckte zusammen, als er seine Faust öffnete, um Glassplitter aus seiner Handfläche zu pflücken. Blut quoll hervor und tropfte auf den Tisch.
»Süßer, bist du – ach herrjeh, du blutest ja!«, sagte eine Frau mit gedehnter Stimme. Sie lief hinüber zur Bar und kam mit einem Geschirrtuch zurück. »Wickel dir das hier um die Hand.«
Lash entriss ihr das Tuch. Er war wütend, weil Gabrielle ihn überlistet hatte.
»Hey!«, rief die Frau. »Du musst nicht so gemein sein.«
Lash sah auf und blickte in ein Paar grüner Augen, die denen Gabrielles nicht unähnlich waren, nur viel freundlicher. Sie schnappte nach Luft.
»Du bist wunderschön«, murmelte sie fasziniert. »Kann ich dir irgendwas bringen?«
Lash grinste. In ihrer menschlichen Gestalt wurden alle Engel von den Menschen als umwerfend wahrgenommen, selbst die gefallenen. Zu seinem Glück bemühte sich jede Frau, der er seit seinem Rauswurf begegnet war, um seine Aufmerksamkeit und tat alles, worum er sie bat. Zuerst hatte er das nicht ausnutzen wollen, aber als ihm klar geworden war, dass er auf sich allein gestellt war, musste er von irgendetwas leben. Wunderschöner Körper hin oder her, er musste bekleidet, ernährt und untergebracht werden. Menschen waren so pflegebedürftig.
»Nein, mir geht’s gut«, antwortete Lash, wischte sich die Hand ab und steckte sie in seine Jackentasche. »Es ist nur ein Kratzer.« Er wusste, dass die Wunde in einigen Minuten verheilt sein würde. Das war eine der Fähigkeiten, die er hatte behalten dürfen und die sich über die Jahre als praktisch erwiesen hatten.
»Bist du sicher? Es sah ziemlich übel aus.«
»Ja, ich bin sicher.« Er musterte sie, während sie vorsichtig die Glassplitter aufsammelte und sie in einen Mülleimer in der Nähe warf. In der schummrigen Bar sah sie aus wie eine jüngere Version von Gabrielle. Als sie sich umdrehte, folgten seine Augen den Einstichspuren ihre Arme hinauf. Seine Hand stieß auf ein Plastiktütchen in seiner Tasche und er lächelte. Ihm kam ein Gedanke, wie er es Gebrielle heimzahlen und gleichzeitig ein wenig Spaß haben konnte.
Er schenkte der Frau seinen glühensten Blick. »Wie heißt du?«
Ihre Augen verdunkelten sich. »Megan«, sagte sie atemlos.
Er lehnte sich vor und schob ihr eine Strähne blonden Haars hinters Ohr. »Hast du Lust auf ein bisschen Spaß?«
Lash konzentrierte sich auf auf den Druck, der sich in seinem Magen anstaute. Sein Körper bewegte sich vor und zurück. Er genoss das Glühen auf der Haut – es war die einzige Art von Wärme, die ihm eine Ruhepause von der Taubheit der letzten fünfunddreißig Jahre verschaffen konnte.
Anfangs hatte er das Leben unter den Menschen für ein Abenteuer gehalten. Er war wirklich neugierig gewesen, wie es sich anfühlte, sich auf der anderen Seite zu befinden. Er hatte gedacht, man würde ihm vergeben und ihn wieder in die Gemeinschaft aufnehmen. Es war ja nicht so, als ob er eine Todsünde begangen hätte oder so was. Aber Monate waren zu Jahren geworden und Jahre zu Jahrzehnten. Als ihm klar geworden war, dass er nie nach Hause zurückkehren würde, war ihm alles egal geworden.
Er schloss fest die Augen und versuchte, den zufriedenen Ausdruck auf Gabrielles Gesicht in dem Moment, als er verstoßen worden war, auszulöschen, aber er schwelte weiter in seinen Gedanken.
Es störte ihn, dass er so einfach rausgeworfen worden war. Hatten sie nicht anerkannt, wie schwer es für ihn gewesen war, Menschen zu helfen, die so undankbar waren? Es war so weit gekommen, dass viele sich zu dem berechtigt fühlten, was er zu geben hatte. Die Leute glaubten, dass alles was sie tun musssten, war, darum zu bitten und sie würden es erhalten. Ja, es gab Zeiten, in denen er gegen Anordnungen verstoßen hatte, aber letztendlich hatte es sich immer ausgezahlt und seinen Schützlingen war es dadurch besser gegangen. Als es um das kleine Mädchen gegangen war, das es wirklich verdient hatte, zu leben, hatte er aus reinem Instinkt heraus gehandelt. Er war sich sicher gewesen, dass Michael in dieser Sache auf seiner Seite stehen würde. Na, scheiß drauf – und scheiß auf den Job.
Ein Stöhnen lenkte ihn von seinen Gedanken ab und er blickte hinab auf dessen Ursprung. Strähnen künstlich blonden Haars schwangen synchron mit seinen Hüften und streiften seine Oberschenkel. Das Gefühl von feuchter Hitze verschlang ihn, als er schneller in die glitschigen Tiefen ihres Mundes stieß. Er lechzte verzweifelt nach Wärme und nach dem Loslassen der Dunkelheit, die ihn überwältigt hatte.
»Fuck!«, rief er, als der Druck in seinem Innern explodierte. Für diesen kurzen Moment entkam er den unsichtbaren Ketten, die ihn an die Kälte fesselten, und Wärme breitete sich in seinem Körper aus. Er war wieder zuhause, wandelte unter dem leuchtend blauen Himmel und die Sonne schien ihm aufs Gesicht.
So schnell, wie es gekommen war, verschwand das Gefühl. Ein Frösteln kroch seinen Rücken hinauf und ließ ihn schaudern. Plötzlich überfiel ihn der Gestank von verfaulten Eiern und Urin und er riss die Augen auf. Er befand sich wieder in dem Drecksloch, das jetzt sein Leben war. Gestern war es das »Triple Leaf Motel« gewesen; heute war es das »The Lucky Seven Inn«. Sie waren alle gleich. So wie die Frauen, die ihm halfen, alldem zu entkommen, selbst wenn es nur für einen Augenblick war.
Grüne Augen sahen zu ihm auf. Er stellte sich vor, dass es ihr Gesicht war, dasjenige, dass ihn zu dem Schicksal verdammt hatte, weitab von Familie und Freunden auf Erden zu wandeln. »Schluck’s runter.«
Megan schluckte, stand dann langsam auf und rieb ihren dünnen, nackten Körper an seinem. »Komm schon, Baby, gib mir ’nen Schuss.«, schnurrte sie.
Er griff nach seiner Jeans, zog ein Tütchen voller klarer Kristalle heraus und warf es ihr zu.
Sie kreischte auf und lief zur anderen Seite des Zimmers, wo ihre Handtasche lag. Sie schüttete den Inhalt auf den Boden, was ein Gewimmel an Schaben dazu brachte, Deckung zu suchen.
Lash ging zur Küche, wenn man das in einer Einzimmerwohnung so nennen konnte. Er goss sich ein Glas Whiskey ein, während er Megan beobachtete. Mit der Präzision einer Chirurgin bewegten sich ihre Hände. Sie hielt mit der einen Hand ein Feuerzeug unter einen rostigen Löffel und in der anderen eine Kanüle.
Für einen kurzen Moment regten sich Schuldgefühle in seinem Gewissen.
»Oh, Baby, das hier ist verdammt gutes Zeug!« Sie löste die Bandage von ihrem Arm, kroch ins Bett und sah ihn verführerisch an. »Warum leistest du mir nicht Gesellschaft?«
Im gedämpften Licht sah er einen Abglanz der Schönheit, die sie einst gewesen war. Es war offensichtlich, dass ihre Drogenabhängigkeit ihren Tribut gefordert hatte – ihr Haar hing kraftlos und fettig herunter und ihre Haut war bleich. Nadelzerstochene Arme streckten sich ihm entgegen. »Komm her. Ich helf dir.«
»Ich würde viel mehr als das brauchen, um auch nur den kleinsten Kick zu fühlen.« Er sammelte ihre Kleider vom Boden auf und warf sie ihr zu. »Zieh die an.«
Sie zog sich ein ausgeleiertes, dunkelrotes T-Shirt über den Kopf. »Wieso das denn? Bist du so ’ne Art Supermensch oder so?«
Er schnaubte. »Wenn ich dir was zeige, versprichst du, es für dich zu behalten?«
Sie kroch an die Bettkannte. »Ich schwöre es bei meinem Leben.« Sie machte das Zeichen eines Kreutzes über der linken Seite ihres Oberkörpers.
Lash grinste und trat einen Schritt zurück. Er ließ die Arme an seine Seite fallen, die Handflächen nach oben gerichtet, und entspannte seine Schultern. Dann presste er.
Das Mädchen keuchte auf, als das Geräusch zerreißender Haut erklang.
»Was machst du da?«, rief sie, als Blutstropfen zu Boden fielen.
Er lächelte. »Warte. Da kommt noch mehr.«
Ihre Augen weiteten sich, als sich zwei weiße Objekte hervorschoben, die sich über die Länge seines Rückens erstreckten. Er presste ein letztes Mal und sie entfalteten sich.
»Was zum…« Sie rieb sich die Augen. »Scheiße! Du bist ein Engel.«
Sie fuhr hoch, als es jemand an der Tür klopfte.
»Lahash, ich bin es, Raphael. Öffne die Tür. Ich weiß, dass du da drinnen bist.«
»Geh weg!«, knurrte Lash.
Die Tür schwang auf und Raphael trat ein. Kalte blaue Augen starrten Lash zornig an. »Ich habe genug von deinem Unsinn, Lahash.«
»Oh Gott«, sagte Megan und ihre Augen weiteten sich. »Bist du Er? Bist du –« – sie schluckte – »Gott?«
Raphael blickte herab auf das halbnackte Mädchen. Seine Augen wurden sanft. »Wie ist dein Name, mein Kind?«
»Megan.« Glasige Augen sahen ihn ehrfürchtig an.
Lash machte einen Schritt nach vorn. »Raphael, du hast kein –«
»Ich weiß, was du sagen willst. Und du irrst dich. I habe sehr wohl das Recht, hier zu sein.« Raphaels Lippen pressten sich zu einer dünnen Linie zusammen, als er zwischen Lashs Flügeln und Megans schockiertem Gesicht hin- und hersah. »Du hättest dich vor ihr nicht so zeigen sollen. Es wird nur eine Belastung für das arme Mädchen sein.«
»Oh, ich habe Teile von mir gezeigt, von den du nicht einmal träumen könntest.« Lash zog den Reißverschluss seiner Jeans hoch und grinste.
»Was ist mit dir passiert?« Raphael trat einen Schritt nach vorn und sein Gesichtsausdruck wechselte von wütend zu besorgt. »Du hast noch nie mit solcher Verachtung zu mir gesprochen.«
»Fünfunddreißig Jahre sind passiert! Was hast du denn erwartet?« Lash faltete seine Schwingen in seinen Körper und griff nach seinem Hemd. »Sie wird wahrscheinlich denken, es ist ein Teil ihres Trips.« Um ihretwillen hoffte er, dass sie sich an nichts erinnern würde. Raphael hatte Recht – er hätte sie nie hierher bringen sollen. Er hatte allerdings nicht vor, das ihm gegenüber zuzugeben. Gabrielle mochte diejenige gewesen sein, die seinen Rauswurf veranlasst hatte, aber bis jetzt hatte er nichts von seinem sogenannten Freund gehört.
Raphael schüttelte den Kopf und wandte sich mit mitleidigem Blick Megan zu. »Komm her, mein Kind.«
Megan stolperte auf Raphael zu und war kurz davor, zu Boden zu stürzen, als er sie auffing. Er hob ihren Kopf und musterte sie aufmerksam. »Weißt du, wer ich bin?«
»Gott?«, flüsterte sie.
»Ich bin Raphael, Erzengel des Heilens, des Mitleids und der Liebe. Du hast deinen Körper entweiht, um den Schmerz zu lindern, der tief in deiner Seele wütet. Er weiß, wonach dein Herz sich sehnt. Du musst nur darum bitten, dann wird es dir gewährt.«
Sie zwinkerte verwirrt. »Wer ist Er?«
»Er ist unter vielen verschiedenen Namen bekannt: Gott, Herr, Allah, Jahwe… sie sind alle ein und derselbe. Wisse dies: Er liebt dich.«
»Worum soll ich bitten?«
»Um was immer du wünschst.« Raphael streichelte sanft ihr Gesicht.
Sie blickte in Raphaels Augen und ihr Gesicht verzerrte sich. Sie ließ sich auf die Knie fallen und schlang ihre Arme um seine Beine. »Mach, dass es weggeht, bitte. Ich will den Schmerz nicht mehr fühlen.«
Raphael hockte sich auf den Boden und nahm Megans Hände in seine eigenen. »Der Mann, der sich dein Vater nennt, wird dir nicht länger weh tun. Du bist kein Sexobjekt oder die persönliche Sexsklavin, zu der er dich gemacht hat. Du bist ein Kind Gottes, und mit Vertrauen in Ihn wirst du Frieden finden.«
Es tat Lash im Herzen weh, als er sah, wie ihr Tränen über die Wangen liefen, und wieder nagten Schuldgefühle an ihm. Sie war nicht die erste Frau, die er benutzt hatte. Es war leicht, von einem Mädchen zum nächsten zu ziehen; es war nur Sex. Sie waren zufrieden – er war zufrieden. Was war schlimm daran? So lange er sich auf One-Night-Stands beschränkte und sie nicht näher kennenlernte, war er in der Lage, die Mauer, die er um sich selbst errichtet hatte, aufrecht zu erhalten. Aber tief im Innern hatte er gewusst, dass das, was er tat, egoistisch und falsch war.
Raphael fasste nach ihrem Arm und fuhr mit seiner Hand über die frischen Nadelstiche. Megan stöhnte, als ein Kräuseln die Länge ihres Arms hinauffuhr wie ein Wurm, der unter ihrer Haut gefangen war. Die Bewegung kam an der kleinen Einstichstelle zum Stillstand, wo sie sich die Injektion gesetzt hatte, und eine weiße, gel-artige Substanz quoll hervor.
Megans Augen weiteten sich und sie schauderte, als das weiße Gel auf den Fußboden tropfte. Als es vorüber war, sah sie zu Raphael. Ihre Augen waren klar und wach. »Danke.«
»Gehe nun und sündige nicht mehr.«
Megan küsste seine Hände. Eilig zog sie sich ihre Jeans an, griff nach ihrer Handtasche und warf deren Inhalt und ihr Drogenbesteck hinein. Als sie zur Tür ging, begegneten ihre Augen denen Raphaels und ihre Wangen röteten sich vor Scham.
Raphael berührte leicht ihre Wange. »Denke daran, was einmal war, ist nicht mehr.«
Sie begann zu lächeln. Mit einem Blick hinunter auf ihre Handtasche, drehte sie sich um und warf sie in den Mülleimer, bevor sie mit erhobenem Kopf hinausging.
Lash ging zum Mülleimer und durchsuchte die Tasche, um ein Feuerzeug und einen Joint herauszuholen. Er funkelte Raphael an und forderte ihn stumm heraus, einzugreifen, als er ihn anzündete und einen Zug nahm.
»Lahash, du kannst mir nicht weißmachen, dass dieses… dieses Zeug bei dir tatsächlich wirkt«, tadelte Raphael. »Unsere Körper reagieren nicht so auf Fremdsubstanzen, wie menschliche Körper es tun.«
»Nein«, antwortete er und hielt einen Moment lang den Atem an, um dann langsam den Rauch auszustoßen. »Ich fühle gar nichts.«
Raphael verzog das Gesicht. Lash war kurz davor, einen weiteren Zug zu nehmen, als – mit einem Wedeln von Raphaels Hand – der Rauch verschwand und sich der Joint in Asche verwandelte. »Erkläre mir doch bitte, warum du dir dann die Mühe machst, deinen Körper damit zu beschmutzen?«
»Weil es dich zur Weißglut treibt.« Er lächelte spöttisch.
Raphaels Augen wurden kalt. Er packte Lash am Hals und warf ihn gegen die Wand. Er kam ganz nah heran, sein Gesicht weniger als zwei Zentimeter von Lashs entfernt. »Es ist genau diese Einstellung, die dich aus dem Himmel verbannt hat.«
»Einen Scheiß war es das.« Lash kämpfte gegen ihn an. »Diese Schlampe Gabrielle ist Schuld. Sie hätte mich nicht anschwärzen müssen.«
»Nein, Lahash. Du warst es. Du warst es ganz allein.« Raphaels Gesicht rötete sich, während er Lash so stark gegen die Wand presste, dass dabei Risse in ihr entstanden. »Du hast in ihre Aufgabe eingegriffen und ihre Autorität als Erzengel in Frage gestellt. Alle Missionen werden aus einem Grund erteilt und sollten entsprechend ausgeführt werden. Das Mädchen hätte den Unfall nicht überleben sollen.«
»Gabrielle« – er spuckte ihren Namen aus, als hätte er einen bitteren Geschmack – »hat auf eine Gelegenheit gewartet, mich rauswerfen zu lassen. Sie hasst mich.«
»Das ist nicht wahr.«
Sein Blick verfinsterte sich. »Das tut sie. Du bist nur zu blind, es zu sehen.«
Raphael schloss seine Augen und atmete tief ein. Seine Wut half Lash nicht, zur Vernunft zu kommen; sie tat genau das Gegenteil.
»Ich weiß, dass ihr beide nicht im besten Einvernehmen steht.«
»Das ist eine Untertreibung«, murmelte Lash.
Raphael beachtete ihn nicht und fuhr fort. »Ihr liegt das Wohl aller am Herzen, auch deines. Davon bin ich überzeugt.« Er lockerte seinen Griff und trat beiseite. »Du warst leichtsinnig, diejenigen um dich herum nicht zu beachten. Ich verstehe diese Art deines Verhaltens nicht.«
Lash seufzte und setzte sich auf die Kannte des Bettes. »Ich sehe den Sinn darin nicht. Wieso geben wir uns überhaupt mit dem, was wir tun, ab? Die Menschen werden sowieso machen, was sie wollen. Wie Megan. Sie wird wahrscheinlich innerhalb einer Stunde wieder high sein.«
»Genau das ist dein Problem, Lahash. Du hast den Glauben verloren.«
»Den Glauben?« Lash schnappte sich die Fernbedienung vom Nachttisch und schaltete den Fernseher ein. Er zappte durch die verschiedenen Kanäle und hielt zwischen jedem Knopfdruck einen Moment lang inne. Er spannte de Unterkiefer an, als er düster auf jedes Bild sah, das über den Bildschirm flackerte: blutüberströmte Männer, Leichen auf einer Schotterstraße und in Schwarz gewandete Frauen, die vor Schmerz und Trauer weinten; ein zerstörtes Gebäude mit Rauch und Asche in der Luft, Frauen und Kinder, die aus ihm hinausliefen, aschebedeckt; ein dunkelhäutiger kleiner Junge, nicht älter als vier Jahre, gekleidet in schlammverschmierte Shorts, mit vor Hunger geschwollenem Bauch und leerem Gesichtsausdruck, der allein am Rande einer Straße stand.
Er stoppte bei einem Kanal, der eine Gruppe Frauen zeigte, die Kleinkinder schminkten und anzogen, so dass sie wie teure Eskort-Girls aussahen, damit sie bei einem Schönheitswettbewerb gewannen.
Lash schleuderte die Fernbedienung von sich, so dass der Bildschirm zerbrach. »Ist es das, von dem du willst, dass ich daran glauben soll? Wie soll ich an sie glauben?«
Raphael sah zum zerbrochenen Fernseher, seine Augen glänzten. »Lash, denkst du nicht, dass ich nicht genau wie du gefühlt habe? Ich hatte auch Schwierigkeiten, an Menschen zu glauben, besonders, wenn es so aussieht, als ob sich niemand um irgendjemanden schert als sich selbst.« Raphael legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Michael hat zugestimmt, dir noch eine Chance zu geben. Er wird dir erlauben, zurückzukehren, wenn du deine Hingabe und dein Vertrauen unter Beweis stellst.«
»Weshalb sollte ich das tun wollen?«, fragte Lash und täuschte Desinteresse vor. Die Mauer, die er um sich selbst errichtet hatte, um sich vor Verletzungen zu schützen, war vollkommen.
»Mich kannst du nicht täuschen. Ich weiß, dass du zurück willst.«
Scheiße. Er hätte sich denken können, dass Raphael ihn sofort durchschauen würde.
»Also gut. Was muss ich tun?«
Erleichterung leuchtete in Raphaels Augen auf und er ließ den Atem ausströmen. Er nahm einen Umschlag aus der Innentasche seiner Jacke. »Das sind der Ort und das Foto deines nächsten Schützlings.«
Lash seufzte, riss den Umschlag auf und holte eine Karte heraus. »Naomi Duran«, las er. »Duran. Warte mal, ist sie mit Javier Duran verwandt?«
Raphael öffnete den Mund und schloss ihn dann. Lash ahnte, dass es etwas Wichtiges gab was er ihm sagen wollte, aber es sah aus, als hielte ihn etwas zurück.
»Alles, was ich dir sagen kann, ist, dass es von größter Wichtigkeit ist, dass du sie beschützt«, erklärte Raphael.
Lash fluchte zwischen zusammengebissenen Zähnen. Sie würden es ihm nicht leicht machen. Er drehte die Karte um. Von der Rückseite blickte ihn eine hübsche junge Frau mit großen hellblauen Augen an. Stille senkte sich über das Zimmer, als er das Foto eingehend betrachtete. Er sah auf und stellte fest, dass Raphael sich erwartungsvoll zu ihm hingebeugt hatte.
»Was denn?«
»Nichts.« Raphael wandte die Augen ab. Er ging zum einzigen Fenster im Zimmer und zog den Vorhang zurück. »Schau es dir nochmal an. Wenn du ein Foto von besserer Qualität brauchst, kann ich dir eines besorgen.«
Lash sah Raphael misstrauisch an. Er verhielt sich seltsam. Lash sah noch einmal auf das Foto hinunter. Da war etwas Vertrautes an ihr, das er nicht genau benennen konnte. Er zeichnete mit einem Finger ihren vollen, roten Lippen nach. Er hatte ihr nicht in der Vergangenheit zugeteilt sein können; an jemanden, der so aussah wie sie, hätte er sich erinnert. »Das Foto ist in Ordnung. Also, alles, was ich tun muss, ist sie zu beschützen. Wovor?«
Raphael blickte zum schmutzigen Fenster hinaus und neigte dann den Kopf, als lauschte er auf etwas. »Wir sollten uns bei dem hier beeilen«, sagte er und kam auf Lash zu. Er legte seine Hände an Lashs Schläfen und eine Vision von Naomi erschien.
»Was zum… versucht sie, sich umzubringen?«, rief Lash.
Raphael zog seine Hand zurück.
»Du kannst mir das nicht einfach zeigen und verschwinden«, sagte Lash.
»Ich hätte dir das überhaupt nicht zeigen sollen.« Raphaels Gesicht spiegelte Sorge wider, während er hinausging.
Lash lief in den Flur. »Warte! Wird Michael mir wenigstens alle meine Kräfte wiedergeben?«
Raphael ging weiter, sein Bild verblasste mit jedem Schritt, den er machte, mehr. »Nein. Das hier musst du allein machen.«
5
Jane wische sich die verschwitzten Hände am Saum ihrer schwarzen Bluse ab. Sie sah aus der getönten Fensterscheibe des Mercedes hinaus auf die kleine Menschenansammlung, die sich um den geschlossenen Sarg versammelt hatte. »Das hier ist falsch, Luke. Ich sollte nicht hier sein.«
Luke nahm sein Handy vom Halter und tätschelte Janes Hand. »Wir haben das doch besprochen«, sagte er. »Es wäre schlimmer, wenn du der Familie nicht deine Anteilnahme für ihren Verlust aussprächest. Du bist vollkommen in Sicherheit. Sal wird direkt hinter dir sein.«
»Das meinte ich nicht,«, entgegnete sie. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war die Familie mit Sals Anwesenheit zu beunruhigen. »Meinetwegen ist dieser arme Mann tot. Ich bin die Letzte, die sie sehen wollen.«
»Es wurde entschieden, dass es ein Unfall war«, merkte er an.
»Der Mann ist tot.« Sie schloss die Augen und presste eine Hand gegen ihre Stirn. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt für eine weitere Migräne. »Ich habe nicht auf die Straße geachtet und deshalb hat ein Mann sein Leben verloren.«
Luke nahm ihre Hand und gab ihr ein Aspirin. »Es war nicht deine Schuld.« Er reichte ihr eine Flasche Wasser. »Eine meiner Quellen in der Investigation sagte mir, dass er Alkohol im Blut hatte.«
»Ich bin sicher, das hätten sie in meinem auch gefunden, wenn sie sich die Mühe gemacht hätten, es zu überprüfen.« Jane warf sich die Pille in den Mund und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Beerdigung. Eine kleine ältere Frau, wahrscheinlich die Mutter des Mannes, lehnte sich an einen jungen Mann und weinte an seiner Brust.
»Das hast du Sals Geistegegenwart zu verdanken.« Luke drehte sich beim Geräusch von knirschendem Kies um, als ein Lieferwagen neben dem Auto zum Stehen kam. »Gut. Sie sind hier.«
»Du hast die Medien herbestellt?« Jane schnappte nach Luft. »Unglaublich.«
»Sieh mal, Jane. Wir können nicht das Risiko eingehen, dass dieser Vorfall deinen unbefleckten Ruf beschmutzt.« Luke tippte an die Rückseite des Fahrersitzes. »Sie ist so weit.«, sagte er zu Sal.
»Ich möchte das hier lieber privat erledigen.« Sie hasste den Gedanken an eine Übertragung ihrer Entschuldigung in den Abendnachrichten.
»Deine Wahl in ein politisches Amt betrifft mehr als nur dich selbst.«, sagte Luke streng. »Denk an all die Arbeitskraft und das Geld, das dich zu dem gemacht hat, was du heute bist. Du schuldest es der Partei.«
So sehr Jane es hasste, das zuzugeben, er hatte Recht; zu viele Menschen verließen sich auf sie und im Spiel der Politik war das Image alles.
Luke sah hinunter auf seine Uhr. »Es wird nur wenige Minuten dauern. In einer Stunde steht die Spendenaktion des Houstoner Kinderkrankenhauses im Stadtzentrum an.«
Janes Magen verkrampfte sich. Sie konnte sich nicht vorstellen, diese bedauernswerte Familie zu verlassen und dann direkt zu einer Spendenaktion zu fahren, wo sie eine Rede über die Wichtigkeit des gegenseitigen Unterstützens in einer Gesellschaft in schweren Zeiten halten sollte. Es fühlte sich so verlogen an.
Die Tür öffnete sich und Sal streckte ihr abwartend seine Hand entgegen. Sie seufzte, reichte ihm die Hand und stieg aus. Als sie in Richtung der Versammelten gingen, konnte sie fühlen, wie ihre Augen neugierig zu ihr hinsahen. Sie blieb in einiger Entfernung stehen und wartete auf den richtigen Moment, um sich den Durans zu nähern. Sie musste an dein kleinen Jungen denken, Javier, der an jenem schicksalhaften Tag hinter ihr gesessen hatte, als ihr Flugzeug von Los Angeles abgestürzt war und alle bis auf sie beide umgekommen waren.
Als sie herausgefunden hatte, dass der Name des Mannes, in den sie hineingefahren war, Javier Duran war, hatte sie Luke gebeten, etwas über dessen Hintergrund herauszufinden. Die Wahrscheinlichkeit war gering, dass es sich um den gleichen Javier handelte, dem sie vor vielen Jahren begegnet war, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass es sich um dieselbe Person handelte. Sie war erleichtert gewesen, als Luke ihr mitgeteilt hatte, dass er untröstlich sei, aber der Javier aus dem Flugzeug sei vor Jahren an Krebs gestorben.
»Frau Senatorin.« Sal berührte sie am Ellbogen und führte sie näher an die Gruppe heran.
Jane sah zu den Medienvertretern und presste ihre Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Die perfekte Szene, dachte sie. Stellt bloß sicher, dass ihr das Aushängesschild der American Federation Party auf das Foto bekommt, wenn sie die Familie tröstet.
Als die Beerdigungszeremonie sich dem Ende näherte, wartete Jane ab, bis die anderen gegangen waren, bevor sie sich ihnen näherte. Tief einatmend wischte sie sich die Hände ein letztes Mal an ihrem Rock ab und ging auf die trauernde Familie zu.
Naomi musste ihre ganze Kraft aufwenden, um zu bleiben, wo sie war und nicht vor dem Schmerz wegzulaufen, der sie zu überwältigen drohte. Während der letzten paar Tage der Beerdigungsvorbereitungen hatte sie es geschafft, die Trauer über den Verlust ihres Vaters in Schach zu halten.
Beim Anblick Belitas, die sich in ihr schwarzes Spitzentuch schnäuzte, zerriss es ihr das Herz und sie fragte sich, was für ein Gott ihnen das antun würde. Von all den Menschen auf der Welt, warum er? Warum jetzt? Es war nicht fair. Ihr Vater war endlich dabei gewesen, sein Leben umzukrempeln und es neu aufzubauen, nur um es innerhalb eines Augenblicks zu verlieren.
Sie legte eine Rose auf seinen Sarg und fragte sich, was sie tun würde, jetzt, da er tot war. In diesem Moment sah sie aus einem Augenwinkel heraus eine schlanke Frau aus einem schwarzen Mercedes steigen. Ihre Augen verengten sich, als sie erkannte, wer es war. Für wen zur Hölle hält sie sich, dass sie hierher kommt?
Sie stieß einen unterdrückten Fluch aus, als zwei Männer mit Kameras dicht hinter der Senatorin folgten.
Chuy stupste sie am Arm an. »Was ist los?«
»Da drüben.« Sie deutete mit dem Kopf in Richtung der Eindringlinge. »Die Dreistigkeit dieser Frau. Sie hat ihre eigene Crew mit dabei.«
»Wir sind hier fertig. Ich werde Lalo sagen, er soll das Auto holen. Belita muss das nicht ertragen.«Chuy eilte zu Belita, die sich gerade mit dem Priester unterhielt.
»Beeil dich.« Naomi beobachtete die Senatorin, als sie auf sie zu kam. Ihre Absatzschuhe knirschten auf dem Kies, der den Pfad bedeckte. Ein grobschlächtiger Riese folgte hinter ihr. Mit seinem schwarzen Cowboyhut und seinen Krokodillederstiefeln sah er aus wie der typische Texaner, aber der scharfe Blick in seinen Augen strahlte Gefahr aus. Sie fröstelte.
»Was ist los, Mijita?« Belita trat neben sie. »Chuy sagt, du willst gehen.«
»Es wird heiß, und die Hitze ist nicht gut für dein Herz«, antwortete Naomi. »Wir müssen dich nach Hause bringen.«
Belita sah verwirrt aus. »Meinem Herzen geht es – «
»Mrs. Duran!«, rief Jane ihr zu.
»Scheiße,«, murmelte Naomi leise.
Belita drehte sich um und Wiedererkennen zeichnete sich auf ihrem Gesicht ab. »Senatorin Sutherland.«
Naomi stellte sich vor Belita. »Senatorin, wir haben Ihnen nichts zu sagen.« Sie nahm Belitas Arm und steuerte sie in Richtung ihres Autos.
»Nein, bitte,«, sagte Jane und trat auf sie zu. »Bitte fühlen Sie sich nicht angegriffen. Ich bin hier, um Ihnen mein Beileid auszusprechen.«
Naomi fuhr herum. »Sie sind nicht unseretwegen hier.« Sie schoss einen Blick in Richtung der Nachrichtenkameras. »Sie sind hier zu Ihrem eigenen Vorteil, Sie Schlam – «
»No seas grocera, Naomi!«, schalt Belita. »Hüte deine Zunge.«
»Tut mir leid, Belita. Diese Frau verdient keine Freundlichkeit. Sie platzt hier herein mit ihrem schicken Mercedes, als ob ihr alles gehörte, und denkt sich, sie kann einfach sagen ,Es tut mir leid’ und wir werden uns alle umarmen und ihr vergeben.«
»Das ist gar nicht meine Absicht, schauen Sie – « – Jane nahm einen tiefen Atemzug – »beruhigen wir uns doch alle, bevor die Dinge eskalieren.«
»Uns beruhigen? Beruhigen?« Naomi ließ Belita los und machte einen großen Schritt auf Jane zu, die Hände zu Fäusten geballt. »Lady, Sie haben keine Ahnung, wozu ich fähig bin.«
»Chuy, halt sie zurück!«, rief Belita und ihre Augen weiteten sich, als sie Sal in die Innenseite seines Jacketts greifen sah.
Jane berührte Sal am Arm und schüttelte den Kopf. Er zögerte und trat zurück, seine Hand noch immer im Jackett.
»Komm, Naomi.« Chuy ergriff ihren Arm. »Du regst Belita auf.«
»Ich? Ich rege sie auf? Sie – « – Naomi zeigte auf Jane – »sie hat doch angefangen, indem sie ihre Visage hier zeigt.« Naomi hatte Mühe, sich von Chuys festem Griff zu befreien, ihre Stimme klang hitzig. »Sie will in die Nachrichten kommen. Ich werde sie in die Nachrichten bringen. Ich werde ihr Video berühmt machen.«
»Naomi… hör auf.« Belita bgeann zu schnaufen.
»Beruhigen wir uns doch.«, sagte Jane. »Ich bin sicher – «
»Halten Sie verflucht nochmal die Klappe!«, knurrte Naomi und sah dann zu Belita. »Sehen Sie doch, was Sie meiner Großmutter antun.« Sie drehte sich zu der TV-Crew um. »Nehmen Sie das auch alles auf? Ist das Belästigen einer alten Frau genug, um Ihnen hohe Einschaltquoten zu sichern oder brauchen Sie noch ein bisschen Blut?«
»Hör auf damit. Sofort!« Chuy schüttelte Naomi, dann packte er ihr Gesicht. »Sieh mich an. Reiß dich zusammen. Was würde dein Vater sagen, wenn er sähe, dass du dich so aufführst?«
Naomi sah Chuy an und blinzelte. In seinen braunen Augen sah sie ihren Vater. Die Erkenntnis erfüllte sie und sie hörte Belita hinter sich schluchzen, als sie sie mit ihrer weichen Stimme darum bat, mit ihnen nach Hause zurückzukehren. Sie wollte wütend bleiben. Wut war das Einzige, das die dunkle Trauer zurückhielt, die sie zu überwältigen drohte. Sie sah hinab auf Belita und dann zurück zu Chuy.
Der Schmerz überkam sie mit aller Macht, als ihr klar wurde, wie sehr sie der einzigen Familie wehtat, die sie noch hatte. Sie musste aufhören – für den Moment.
Tränen brannten in ihren Augen und sie schluckte schwer, als das Feuer in ihr abkühlte. Das Letzte, was sie wollte, war, der Welt zu zeigen, wie sie heulte.
Ohne ein weiteres Wort ging sie zu Belita, küsste sie auf die Wange und legte ihr einen Arm um die dürre Schulter, als sie sie zum Auto führte.
»Mrs. Duran. Wenn es irgendwas gibt, was ich für Sie tun kann…«
Diese Frau wird nicht aufgeben. Statt einer Antwort packte Naomi den Türgriff, drehte sich aber nicht um. Sie atmete tief ein und schwor sich, dass sie einen Weg finden würde, der Senatorin heimzuzahlen, was sie getan hatte. Auf die eine oder andere Weise würde sie Gerechtigkeit für ihren Vater finden.
6
Verborgen in den Schatten hinter Belitas Haus spähte Lash durch das offene Fenster und hoffte, dass er Naomi finden würde. Er war zu der Adresse gegangen, die man ihm gegeben hatte, aber als er herausgefunden hatte, dass sie nicht da war, hatte er die Wohnung nach Hinweisen darauf durchsucht, wo sie sein könnte. Nach der Vision, die Raphael ihm gezeigt hatte, musste er offensichtlich vorrausschauend vorgehen und konnte nicht warten, bis sie zurückkam.
Er fand nichts Ungewöhnliches: ein spärlich eingerichtetes, kleines Schlafzimmer, ein Wohnzimmer, in dem Schulbücher die Regale füllten, eine Küche, die abgesehen von einem Stapel Zeitungen auf dem Tisch makellos war. Er warf einen Blick auf die Zeitung ganz oben auf dem Stapel. Die Seiten mit den Nachrufen war aufgeschlagen und das Foto eines Mannes im mittleren Alter lächelte ihm entgegen. Unter dem Foto stand ein Name: Javier Duran.
Lash griff sich die Zeitung und las es sich durch. Da waren einige Sätze, die besagten, dass Javier seinen Abschluss an der University of Texas gemacht hatte und dass seine Frau verstorben war. Was ihm ins Auge fiel, waren zwei der Namen, die unter den Hinterbliebenen aufgeführt waren: Naomi und Anita Duran.
Er rief sich die junge Frau mit dem pechschwarzen Haar und der getönten Brille, die am Telefon gesprochen hatte, in Erinnerung. Anita war Javiers Mutter. Derselbe kleine Junge, der vor Jahren sein Schützling gewesen war, und jetzt war er tot. Lash warf die Zeitung zurück auf den Tisch und fuhr sich niedergeschlagen mit der Hand durchs Haar. Was war hier los? Das Kind, dass er gerettet hatte, hatte nicht einmal die Möglichkeit gehabt, sein Leben zu Ende zu leben.
Er schritt nachdenklich auf und ab. Es musste einen Grund dafür geben, dass Michael Naomi gerade ihm zugeteilt hatte und es würde sich um mehr handeln, als nur darum, sein Vertrauen und seine Loyalität zu beweisen – aber was?
Lash sah sich einen Laptop auf dem Couchtisch im Wohnzimmer an und ergriff ihn. Was auch immer die Verbindung war, er würde es bald genug herausfinden. Aber zuallererst musste er Naomi finden. Er googelte kurz und fand Anitas Adresse. Er dachte, dass Naomi vielleicht dort wäre, zumal heute die Beerdigung war, und begab sich direkt zu Anitas Haus.
Als Lash sich dem kleinen weißen Haus näherte, hörte er gedämpfte Stimmen streiten. Er schlich sich in den Hinterhof und nahm Bewegungen hinter einem geöffneten Fenster wahr.
»Streite es nicht ab, Naomi.«, sagte eine tiefe Stimme. »Dir ist schon der Gedanke gekommen, dass dein Vater wahrscheinlich betrunken war.«
»Er hat es mir versprochen, Chuy«, sagte Naomi hitzig. »Er hat gesagt, er hätte das Zeug seit über einem Monat nicht angerührt.«
»In den Zeitungen stand –«
»Scheiß auf die Zeitungen. Ich kenne meinen Vater.«
Lash war überrascht von Naomis kräftiger Stimme, so anders als das liebliche Lächeln auf dem Foto, dass ihm gegeben worden war. Er schob sich in eine bessere Position, um zu versuchen, einen Blick auf sie zu erhaschen. Er war neugierig zu sehen, wie jemand, der so zerbrechlich aussah, so klingen konnte. Als er sich allerdings vorlehnte, war ein Blick auf Chuys breite Schultern, die von einem weißen Trägershirt bedeckt waren, alles, was er bekam.
»Komm schon, Naomi«, sagte er. »Du hattest Zweifel.«
Naomi hielt den Atem an und atmete dann langsam aus. »Ja, hatte ich. Als ich ihn in der Nähe des Biers sah, war ich ein bisschen nervös, das gebe ich zu. Bevor er zur Arbeit gefahren ist, haben wir miteinander gesprochen. Er war nüchtern. Ich weiß es. Es ist unmöglich, dass er irgendwo angehalten hat und – «
»Schhhh, da kommt Belita.«
Belita schlurfte in die Küche. »Wieso tut ihr so, als könnte ich nicht hören? Ich kann euch den ganzen Weg bis in den Flur hinunter hören.«
»Du solltest dich ausruhen. Wieso bist du auf?« Chuy trat vom Fenster weg.
Lash stockte der Atem, als er endlich Naomi sah, die am Kühlschrank lehnte und einen Fuß gegen die Tür gestemmt hatte. Seine Augen wanderten ihre langen Beine hinauf. Die Ärmel und der Kragen des schwarzen Band-T-Shirts waren abgeschnitten und ließen ihre blassen Schultern frei. Dunkle Wimpern rahmten eindringliche hellblaue Augen ein, die zwischen Belita und Chuy hin- und herfuhren. Ein merkwürdiges Gefühl überkam ihn und sein Herz klopfte heftig. Ihre Augen hatten etwas an sich… Er hatte sie schon einmal irgendwo gesehen, aber er konnte nicht sagen, wo.
Belita ging in Richtung der Speisekammer. »Ich bin gekommen, um Futter zu holen für… was ist das?«
Was zur Hölle? Lash duckte sich, als Belita sich zum Fenster umdrehte. Wie konnte sie mich sehen? Es war dunkel draußen und es gab kein Licht, das ihn hätte verraten können.
»Was ist los?«, fragte Naomi.
»Ich dachte, ich hätte was am Fenster gesehen«, entgegnete Belita.
Nackte Füße tappten über den Boden und Lash hörte, wie die Fensterscheibe höher geschoben wurde. Er hielt den Atem an, als Naomi heraussah. Wind kam auf und der Geruch von Jasmin und Vanille, gemischt mit Moschus, wurde durch die Luft herangetragen. Sie roch genau so sinnlich wie sie aussah.
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