Interviews Aus Dem Kurzen Jahrhundert

Interviews Aus Dem Kurzen Jahrhundert
Marco Lupis


Marco Lupis
ISBN: 9788873043560
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Inhaltsverzeichnis

1  Werke desselben Autors (#ua730b6e2-fb8d-5328-879a-9b95ce88ca5c)
2  INTERVIEWS (#u28ee6862-d975-5f20-bf7c-4b317f8eef67)
3  LITERARISCHE URHEBERRECHTE VORBEHALTEN (#u4a5e6540-ff02-5c6c-a7fb-5547e833a2db)
4  Einleitung (#u6b3481bf-3566-5c7b-be21-230ed49d92fb)
5  Sub-Comandante Marcos (#ucd6b2d6b-66e1-502e-ba9d-ca3ef8117bb2)
6  Peter Gabriel (#u5f11852c-f85b-5767-b7a5-c0ce600a8884)
7  Claudia Schiffer (#u83d58c95-4fe3-5a74-aaf9-44593a5aafa0)
8  Gong Li (#u67c601ac-7f1e-55ae-b6f5-444e6ceea8a1)
9  Ingrid Betancourt (#uf626a521-f791-5d8e-99ac-d5cd5979e59f)
10  Aung San Suu Kyi (#uc5ed826d-a95d-5221-9359-e8c6b9d82f35)
11  Lucia Pinochet (#u411879d1-00b3-53c3-9a64-ce43c7e4bb55)
12  Mireya Garcia (#u143ad46b-57c0-57eb-881f-ce19a2dc1800)
13  Kenzaburo Oe (#u145d9e40-f8a3-5c52-b6f7-ef71343ef2fd)
14  Benazir Bhutto (#litres_trial_promo)
15  König Konstantin von Griechenland (#litres_trial_promo)
16  Hun Sen (#litres_trial_promo)
17  Roh Moo-hyun (#litres_trial_promo)
18  Hubert de Givenchy (#litres_trial_promo)
19  Maria Dolores Mirò (#litres_trial_promo)
20  Tamara Nijinsky (#litres_trial_promo)
21  Franco Battiato (#litres_trial_promo)
22  Ivano Fossati (#litres_trial_promo)
23  Tinto Brass (#litres_trial_promo)
24  Peter Greenaway (#litres_trial_promo)
25  Suso Cecchi d’Amico (#litres_trial_promo)
26  Rocco Forte (#litres_trial_promo)
27  Nicolas Hayeck (#litres_trial_promo)
28  Roger Peyrefitte (#litres_trial_promo)
29  José Luis de Vilallonga (#litres_trial_promo)
30  Baronesse Cordopatri (#litres_trial_promo)
31  Andrea Muccioli (#litres_trial_promo)
32  Xanana Gusmao (#litres_trial_promo)
33  José Ramos-Horta (#litres_trial_promo)
34  Monsignore do Nascimento (#litres_trial_promo)
35  Khalida Messaoudi (#litres_trial_promo)
36  Eleonora Jakupi (#litres_trial_promo)
37  Lee Kuan Yew (#litres_trial_promo)
38  Khushwant Singh (#litres_trial_promo)
39  Shobhaa De (#litres_trial_promo)
40  Joan Chen (#litres_trial_promo)
41  Carlos Saul Menem (#litres_trial_promo)
42  Pauline Hanson (#litres_trial_promo)
43  General Volkogonov (#litres_trial_promo)
44  Gao Xingjian (#litres_trial_promo)
45  Wang Dan (#litres_trial_promo)
46  Zhang Liang (#litres_trial_promo)
47  Stanley Ho (#litres_trial_promo)
48  Palden Gyatso (#litres_trial_promo)
49  Gloria Macapagal Arroyo (#litres_trial_promo)
50  Kardinal Sin (#litres_trial_promo)
51  General Giáp (#litres_trial_promo)
52  Admiral Corsini (#litres_trial_promo)
53  Monsignore Gassis (#litres_trial_promo)
54  Men Songzhen (#litres_trial_promo)
55  Epilog (#litres_trial_promo)
56  Danksagungen (#litres_trial_promo)
57  Anmerkungen (#litres_trial_promo)

Werke desselben Autors


Werke desselben Autors:
Il Male inutile
I Cannibali di Mao [Maos Kannibalen]
Cristo si è fermato a Shingo [Christus kam nur bis Shingo]
Acteal



Auf einer Mission an Bord eines amerikanischen Armeehubschraubers
Der Journalist, Fotoreporter und Schriftsteller Marco Lupis war Korrespondent der Tageszeitung La Repubblica in Hong Kong.
Geboren 1960 in Rom, arbeitete er für die wichtigsten italienischen Zeitungen ( Panorama , Il Tempo , Il Corriere della Sera , L'Espresso und La Repubblica ) und für die rai ( Mixer , Format , TG2 und TG3 ) als Korrespondent und Sonderberichterstatter in aller Welt. Da er oft in Kriegsgebieten war, gehörte er zu den wenigen Journalisten, die die auf die Unabhängigkeitserklärung von Ost-Timor folgenden Massaker kommentierten, die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Christen und Islamisten auf den Molukken, das Blutbad von Bali und die SARS-Epidemie in China. Seine Korrespondentenberichte deckten für über ein Jahrzehnt den gesamten asiatisch-pazifischen Raum ab. Mit Basis in Hongkong streckte er seine Fühler bis nach den Hawaiianischen Inseln und in die Antarktis aus. Er interviewte viele Größen der Weltpolitik, hauptsächlich der Asiatischen, wie den birmanischen Nobelpreisträger Aung San Suu Kyi und die pakistanische Premierministerin Benazir Bhutto und prangerte häufig in seinen Artikeln Verstöße gegen die Menschenrechte an. Seine Reportagen wurden ebenfalls in spanischen, argentinischen und amerikanischen Tageszeitungen veröffentlicht.
Marco Lupis lebt in Kalabrien.

INTERVIEWS
aus dem kurzen Jahrhundert

Marco Lupis




Treffen mit Vertretern von Kultur, Politik und Kunst des XX. Jahrhunderts





Übersetzung von Monika Westhagen:













Verlag: Tektime




LITERARISCHE URHEBERRECHTE VORBEHALTEN


Copyright © 2017 by Marco Lupis Macedonio Palermo di Santa Margherita
Sämtliche Rechte liegen beim Autor
interviste@lupis.it
www.marcolupis.com (http://www.marcolupis.com)























Erste italienische Ausgabe 2017
ISBN 9788873043560
© 2018 Tektime
Dieses Werk ist gesetzlich und urheberrechtlich geschützt.
Jede nicht autorisierte auch auszugsweise Vervielfältigung ist untersagt.





Der Journalist ist der Historiker des Augenblicks
Albert Camus







Für Francesco, Alessandro und Caterina











Einleitung



Tertium non datur










In Mailand war gerade Herbst. Damals, im Oktober des Jahres 1976, war ich schnellen Schrittes zum ersten Interview meines Lebens unterwegs, über den Corso Venezia in Richtung Teatro San Babila.
Als Siebzehnjähriger war ich in Begleitung meines Freundes Alberto auf dem
Weg zu einer Nachrichtenübertragung in einem der ersten italienischen Privatsender, Radio Milano Libera, mit dem wenig originellen Titel “Spazio giovani/Raum für die Jugend”.
Es waren damals wirklich unglaubliche Jahre, wo alles möglich war und auch wirklich geschah. Phantastische Jahre. Schreckliche Jahre zugleich. Es waren die anni di piombo , die der Jugendproteste, der autonomen Zirkel, der Schulstreiks, der Demos, die fast immer in Gewalt ausarteten. Jahre mit enormem Enthusiasmus, voll von kulturellem Aufruhr, der kurz vor dem Siedepunkt schien, so lebendig, engagiert und allumfassend wurde er empfunden. Es waren Jahre der Konfrontation und zuweilen auch die von Menschen, die einen gewaltsamen Tod starben: auf der einen Seite die linke Jugend, auf der anderen die Rechte. Im Vergleich zu heute war alles denkbar einfach: man stand entweder auf der einen oder auf der anderen Seite. Tertium non datur .
In erste Linie waren es jedoch Jahre, in denen jeder von uns den Eindruck hatte – und manchmal war es sehr viel mehr als nur ein Eindruck – den Lauf der Dinge ändern zu können. Es – als kleiner Niemand – zu schaffen anders zu sein .
In diesem Scherbenhaufen von Aufgeregtheit, Kultur und Gewalt bewegten wir uns in ruhigen Gewässern. Wir navigierten nach Sicht. Attentate, Bomben, die Roten Brigaden, sie waren in unserer Jugendzeit – oder als Teenager, je nachdem, in welchem Alter wir gerade waren – allgegenwärtig, aber im Grunde genommen beunruhigte uns das nicht allzu sehr. Wir hatten rasch gelernt, damit umzugehen, auf eine Art und Weise, die nicht sehr unterschiedlich zu der war, die ich in späteren Jahren bei Völkern antreffen sollte, die inmitten von Konflikten oder in Bürgerkriegsregionen lebten. Sie hatten ihr Leben an diese extremen Bedingungen angepasst, es war ein klein wenig vergleichbar mit unserem früheren Leben.
Mein Freund Alberto und ich wollten wirklich versuchen, anders zu sein. Daher hatten wir, gewappnet mit grenzenlosem Enthusiasmus und einem enormen Maß an Leichtsinn, in einem Alter, in dem die Jugend von heute die Zeit damit verbringt, Selfies über Instagram zu posten und Smartphones zu tauschen, alles gelesen, was wir erwischen konnten; wir nahmen an Musikvolksfesten teil – in jenem magischen Moment der die Geburtsstunde des Rock und dessen Verbreitung einläutete – bis zu Megakonzerten in Parks und im Filmforum.
Mit ähnlichen Gefühlen, den Kopf voller Ideen und einem Kassettenrecorder in der Tasche waren wir an jenem regnerischen Oktober vor vierzig Jahren auf dem Weg in Richtung Teatro San Babila.
Den Termin hatten wir um siebzehn Uhr, etwa eine Stunde vor Beginn der Nachmittagsaufführung. Man führte uns hinab in die Katakomben des Theaters, wo die Garderoben der Akteure waren, bis zu der des Hauptdarstellers. Dort wartete unser Interviewpartner, der erste in meiner “Karriere” als Journalist: Peppino de Filippo.
Ich kann mich nicht an viele Details jenes Interviews erinnern und leider sind die Bänder der Aufzeichnung bei einem der zahllosen Umzüge im Laufe meines Lebens verlorengegangen.
Ich kann mich aber noch heute genau an diesen leichten elektrischen Schlag erinnern und an das energetische Prickeln, welches ihm vorausgeht – ich sollte es danach noch tausend Mal spüren – es war ein wichtiges Interview. Ein
Treffen von Bedeutung, denn jedes Interview ist weit mehr, als eine einfache Folge von Fragen und Antworten.
Peppino de Filippo stand am Ende einer Theater- und Filmkarriere, mit der er bereits zu jener Zeit Geschichte geschrieben hatte – er sollte nur wenige Jahre danach sterben. Er empfing uns, während er sich gleichzeitig weiter vor dem Spiegel schminkte. Er war freundlich, höflich und bereitwillig und er tat so, als sei es für ihn nichts Ungewöhnliches, sich zwei pickelige Jungens gegenüber zu sehen. Ich erinnere mich noch an seine ruhigen Bewegungen; er trug seine Theaterschminke mit Methode nach einem bestimmten Schema auf, das mir schwer und intensiv und sehr deutlich erschien. Insbesondere ist mir eines im Gedächtnis geblieben; die tiefe Traurigkeit in seinem Blick. Eine Traurigkeit, die mich tief traf, denn ich konnte sie tief in meinem Inneren spüren. Vermutlich spürte er, dass sein Leben zu Ende ging, oder es war nur eine Bestätigung für das, was man allen Komikern nachsagt, dass sie, die alle zum Lachen bringen in Wirklichkeit zu den traurigsten Menschen auf der Welt gehören.
Wir sprachen über das Theater und natürlich über seinen Bruder Eduardo. Er erzählte uns von seinem Leben auf den Brettern, die die Welt bedeuten, immer auf Reisen, in Begleitung der Familie.
Wir gingen nach fast einer Stunde, etwas benebelt, mit einer vollen Tonbandkassette.
Dies war nicht nur das erste Interview meines Lebens, es war insbesondere der Moment, in dem ich begriff, dass der Beruf des Journalisten für mich die einzige überhaupt denkbare Option war. Und es war der Augenblick, an dem ich zum ersten Mal diese merkwürdige Alchimie, diese subtile Magie spürte, die sich zwischen dem Interviewten und dem Interviewer aufbaut.
Ein Interview kann entweder die mathematische Formel einer Lebensweisheit sein, oder eine unnütze und eitle Zurschaustellung. Das Interview ist aber auch eine mächtige Waffe in den Händen des Journalisten, der die Macht hat, zu wählen, ob er dem Interviewten beipflichten- oder sich in den Dienst des Lesers stellen und diesen begeistern soll.
Was mich anbelangt, so ist in meinen Augen das Interview sehr viel mehr; es ist eine psychologische Konfrontation, eine Sitzung mit Psychoanalyse. Involviert sind beide, der Interviewte und der, der ihn interviewt.
So wie mir später der Marchese di Vilallonga in einem in diesem Buch
enthaltenen Interview sagte: «das Geheimnis liegt allein in diesem Zustand der Erlösung, der entsteht, wenn der Journalist sich von seinem Status als Journalist löst und zum Freund wird, dem man alles erzählt, auch das, was man einem Journalisten niemals anvertrauen würde.»
Das Interview ist die praktische Umsetzung der von Sokrates praktizierten Kunst der Mäeutik, die Fähigkeit der Journalisten, dem Interviewpartner seine aufrichtigsten Gedanken zu entlocken, ihn dazu zu bringen, unachtsam zu werden, ihn reden zu lassen und auf das Überraschungsmoment zu hoffen, um ihm die ungeschminkte Wahrheit zu entlocken.
Nicht immer gelingt es, diese besondere Magie in die Praxis umzusetzen, aber wenn es geschieht, dann ist das Ergebnis ein gutes Interview. Etwas mehr als ein Schlagabtausch und eine sterile Antwort; es hat nichts gemein mit der unnützen Selbstgefälligkeit des Journalisten, der nur versucht, einen Scoop zu landen.
In über dreißig Jahren journalistischer Aktivitäten bin ich Berühmtheiten begegnet, Staatsmännern, Premierministern, religiösen und politischen Führern. Ich muss allerdings gestehen, dass nicht sie es waren, bei denen ich ein echtes Gefühl von Empathie empfand.
Auf Grund meines kulturellen Hintergrunds und meines familiären Umfelds hätte ich mich ihnen zugehörig fühlen müssen und auf der Seite der Männer und Frauen stehen müssen, die die Fäden der Macht in Händen hatten, die die Macht hatten über das Schicksal von Millionen Menschen zu entscheiden, über ihr Leben und oftmals über ihren Tod. Zuweilen über das Schicksal und die Zukunft ganzer Völker.
Aber so war es nicht. Empathie, eine Woge der Sympathie, den Schauder und die Erregung habe ich beim Treffen mit den Rebellen gespürt, den Kämpfern, die bereit waren – und das auch unter Beweis stellten – ihr Leben zu opfern, die oftmals, da beseelt von ihren Idealen, Ruhe und Freiheit ausstrahlten.
Gleich ob ich einen Revolutionsführer mit schwarzer, wollener Skimütze in einer Hütte im mexikanischen Dschungel traf, oder eine couragierte Mutter, die in aller Bescheidenheit, aber verbissen darum kämpfte, die Wahrheit über das schreckliche Ende ihrer Kinder zu erfahren, die in Chile unter dem Pinochet-Regime verschollen sind.
Sie waren in meinen Augen die wirklich Mächtigen.
Grotteria, August 2017

*****

Die Interviews in diesem Buch wurden in einem Zeitraum zwischen 1993 und 2006 in den großen Zeitschriften veröffentlicht, für die ich in jenen Jahren als Korrespondent oder Sonderberichterstatter hauptsächlich in Lateinamerika und in Fernost tätig war: die Wochenzeitschriften Panorama und L’Espresso , die Tageszeitungen Il Tempo , Il Corriere della Sera und La Repubblica sowie einige für die rai
Ich habe bewusst die Originalform beibehalten, in der sie damals geschrieben wurden, zuweilen nach dem traditionellen Aufbau von Frage/Antwort, andere mehr in der umgangssprachlicheren Form des Zitats in Anführungszeichen .
Ich habe mich entschieden, jedem einzelnen Interview eine kurze Einleitung voranzustellen, die dem Leser helfen soll, sich zeitlich und räumlich in der jeweiligen Epoche zu orientieren, in der sie gemacht wurden.

1

Sub-Comandante Marcos



Venceremos [Wir werden siegen]! (früher oder später)








Chiapas, Mexiko, San Cristobal de Las Casas, Hotel Flamboyant. Man hatte die Nachricht unter der Zimmertür durchgeschoben:

Fahrt in die Selva unbedingt heute.
Treffpunkt 19 h an der Rezeption.
Mitzubringen: Bergschuhe, eine Decke,
ein Rucksack und Dosenverpflegung.

Mir bleiben nur eineinhalb Stunden, um die wenigen Sachen zu packen. Mein Ziel liegt im Herzen des Dschungels. An der Grenze zwischen Mexiko und Guatemala, wo die Selva Lacandona beginnt, einer der wenigen Orte der Welt, die bis heute völlig unerforscht sind. Momentan gibt es nur einen einzigen sehr speziellen “Reiseveranstalter”, der mich dazu bewegen könnte, dort hinzugehen. Er lässt sich mit Sub-Comandante Marcos ansprechen und die Selva Lacandona ist sein letztes Refugium.

*****
Das, worauf ich noch heute in meiner Karriere wahrscheinlich am meisten stolz bin, ist dieses Treffen mit dem Sub-Comandante Marcos im Dschungel von Lacandona del Chiapas im April 1995 für die Wochenzeitschrift Sette des Corriere della Sera; ich war der erste italienische Journalist, dem es gelang, in zu interviewen (allerdings weiß ich ehrlich gesagt nicht, ob vor mir nicht der sympathische und allgegenwärtige Gianni Minà dort war), aber es war sicherlich lange bevor der mystische Sub-Comandante mit seiner legendären schwarzen Skimütze in den späteren Jahren eine Art authentisches „Guerilla-Pressebüro“ ins Leben rief, zu dem die Journalisten aus den entlegensten Winkeln hin- und herpendelten.

Es waren gerade mal zwei Wochen vergangen, nachdem, in den letzten Märztagen des Jahres 1995, das Flugzeug aus Mexiko-Stadt auf dem kleinen Militärflugplatz von Tuxla Gutierrez, der Hauptstadt des zentralen Hochlandes von Chiapas gelandet war. Auf der Piste rollten Maschinen mit den Emblemen der mexikanischen Armee, flankiert von Militärfahrzeugen, die bedrohlich an beiden Rändern der Rollbahn Parkposition bezogen hatten. In einem Gebiet, das flächenmäßig ein Drittel von Italien umfasst leben drei Millionen Menschen. Bei der Mehrzahl fließt Indioblut in den Venen: Zweihundertfünfzigtausend sind direkte Nachkommen der Maya.
Ich befand mich in einer der ärmsten Gegenden der Welt: Neunzig Prozent der Indios hatten kein Trinkwasser. Sechzig von Hundert waren Analphabeten.
Die Sachlage schien mir klar zu sein: auf der einen Seite die weißen Grundbesitzer, wenige und sehr Reiche. Auf der anderen die Campesinos, viele, die im Schnitt sieben Peso, weniger als zehn Dollar pro Tag verdienten.
Für diese Menschen hatte die Hoffnung auf Rückeroberung am ersten Januar 1994 begonnen. Während Mexiko das Freihandelsabkommen mit den Vereinigten Staaten und mit Kanada unterschrieb, erklärte ein vermummter Revolutionär dem Land den Krieg: zu Pferde, mit Gewehren bewaffnet – einige (wenige) davon echt, die anderen Attrappen aus Holz – besetzten zweitausend Mann der Nationalen Befreiungsarmee der Zapatisten San Cristobal de Las Casas, die antike Hauptstadt des Hochlandes von Chiapas, die Parole lautete: «Land und Freiheit».
Heute wissen wir, an wen die erste Runde ging, die Entscheidende: sie wurde von den fünfzigtausend Soldaten gewonnen, die man mit Panzern geschickt hatte, um den Aufstand niederzuschlagen. Und Marcos? Was war aus dem Mann geworden, der auf eine gewisse Art dafür gesorgt hatte, dass die Legende von Emiliano Zapata, dem Helden der mexikanischen Revolution von 1910 wieder auflebte?




*****
19 Uhr, Hotel Flamboyant: Unser Kontaktmann kommt pünktlich. Er heißt Antonio und ist ein mexikanischer Journalist, der nicht einmal, sondern zehn oder zwanzig Mal im Dschungel war. Sicher, heute ist es nicht mehr wie noch vor einem Jahr, als Marcos noch ein relativ ruhiges Leben mit den Seinen im kleinen Dorf von Guadalupe Tepeyac, am Eingang zur Selva führte, mit Handy und PC “bewaffnet“ und mit Internetverbindung, jederzeit bereit, die Abgesandten der amerikanischen TV-Sender zu empfangen. Für die Indios hat sich bis heute nichts verändert, für Marcos und die Seinen schon – alles ist anders: nach der letzten Offensive der Regierung mussten sich die Anführer der Zapatisten wirklich und wahrhaftig in den Bergen verstecken. Hier gibt es keine Telefone, es gibt keinen Strom, keine Straßen: nichts.
Der colectivo (wie man hier diese komischen Taxi-Minibusse nennt) verschwindet rasch Kurve für Kurve in die Nacht. Im Innenraum riecht es nach Schweiß und nach feuchtem Stoff. Man braucht zwei Stunden bis nach Ocosingo , einem Pueblo am Eingang zum Dschungel. Auf den belebten Straßen treffen wir auf lachende Mädchen mit langen schwarzen Haaren und Indio-Gesichtern und auf viel Militär – überall. Die Zimmer des einzigen Hotels haben keine Fenster, nur ein Gitter in der Tür. Es sieht aus wie eine Gefängniszelle. Im Radio kommt eine Nachricht: «Heute hat die Mutter von Marcos erklärt: Mein Sohn, der Universitätsprofessor Rafael Sebastian Guillen Vicente, 38 Jahre, geboren in Tampico, ist der Sub-Comandante Marcos».
Am nächsten Tag haben wir einen neuen Führer. Er heißt Porfirio. Auch er ist ein Indio.
In seinem Minibus brauchen wir fast sieben Stunden durch Schlaglöcher und Staub, bevor wir in Lacandon, der letzten Ortschaft ankommen. Hier endet die befestigte Straße. Es beginnt der Dschungel. Es regnet nicht, aber der Schlamm reicht uns trotzdem bis zu den Knien. Geschlafen wird in Baracken am Weg, im Dschungel. Nach zwei Tagen strammem und kräftezehrendem Marsch durch den unwirtlichen Dschungel, halb erstickt wegen der Feuchtigkeit, kommen wir im Dorf an. Die Gemeinde nennt sich Giardin ; wir sind im Gebiet der Montes Azules . Hier wohnen etwas zweihundert Menschen. Alles Alte, Kinder und Frauen. Die Männer sind im Krieg. Man empfängt uns freundlich. Nur weniger sprechen Spanisch. Alle sprechen Tzeltal , den Dialekt der Maya. «Werden wir Marcos treffen?» fragen wir «Kann sein», Porfirio nickt zustimmend.
Um drei Uhr morgens werden wir sanft geweckt: wir müssen aufbrechen. Es scheint kein Mond, aber es gibt viele Sterne. Nach einem Marsch von einer halben Stunde kommen wir an eine Hütte. Im Inneren sind die Gestalten von drei Männern zu erahnen. Drinnen ist es dunkel, schwarz wie ihre Skimützen. Nach dem Steckbrief der Regierung ist Marcos ein Universitätsprofessor mit Abschluss in Philosophie mit einer Dissertation über Althusser, der an der Pariser Sorbonne promoviert hat. An diesem Punkt wird die Stille in der Hütte von einer Stimme in französischer Sprache unterbrochen: «Wir haben nur zwanzig Minuten. Ich würde lieber Spanisch sprechen, wenn das in Ordnung ist. Ich bin Sub-Comandante Marcos. Das Aufnahmegerät benutzen Sie besser nicht, denn wenn Sie abgehört werden, hätten wir alle ein Problem, vor allem Sie. Auch wenn wir uns offiziell im Waffenstillstand befinden, sucht man mich in Wirklichkeit mit allen Mitteln. Sie können mich fragen, was Sie wollen.»

Warum nennen Sie sich Sub-Comandante?
Man sagt über mich: «Marcos ist der Capo». Das stimmt nicht. Die Anführer sind sie, das zapatistische Volk, ich habe nur militärisch die Verantwortung. Sie haben mich beauftragt, für sie zu sprechen, weil ich Spanisch spreche. Die Kameraden benutzen mich als Sprachrohr. Ich gehorche nur.

Zehn Jahre im Untergrund sind lang... Wie leben Sie in den Bergen?
Ich lese. Von den zwölf Büchern, die ich mit in den Dschungel genommen habe ist eins der Canto General von Pablo Neruda. Ein anderes ist der Don Quijote ...

Und sonst?
Ansonsten vergehen die Tage und Jahre während unseres Kampfes. Wir sehen Tag für Tag dieselbe Armut, dieselbe Ungerechtigkeit... Du kannst hier nicht leben, ohne dass der Wille zu kämpfen, etwas zu verändern, stärker wird. Da müsstest du schon entweder Zyniker sein, oder ein Hurensohn. Dann sind da noch Dinge, die Journalisten mich für gewöhnlich nicht fragen. Das wir uns nämlich hier im Dschungel schon mal von Mäusen ernähren oder den Urin der Kameraden trinken müssen, um bei den langen Ortswechseln nicht zu verdursten … mehr ist dazu nicht zu sagen.

Was fehlt Ihnen? Was haben Sie zurück gelassen?
Mir fehlen Zucker und ein paar trockene Socken. Tag und Nacht nasse Füße zu haben, in der Kälte, das wünsche ich niemandem, und Zucker ist das einzige, was uns der Dschungel nicht liefern kann, man muss ihn von weit her beschaffen; wegen der physischen Anstrengungen braucht man ihn. Für diejenigen von uns, die aus der Stadt kommen sind bestimmte Erinnerungen gleichbedeutend mit Masochismus. Wir sagen uns ständig vor: «Erinnerst du dich an das Eis aus Coyoacàn ? Und die Tacos von Division del Norte ?». Erinnerungen. Wenn wir hier einen Fasan oder ein anderes Tier fangen, dann muss man drei oder vier Stunden warten, bis es fertig zubereitet ist. Und wenn die Truppe kurz vor dem Verhungern ist und das Fleisch roh isst, dann haben alle am nächsten Tag Durchfall. Das Leben ist hier anders und man sieht die Dinge anders … Moment, Sie haben mich gefragt, was ich in der Stadt zurückgelassen habe. Ein Metro-Ticket, einen Haufen Bücher, ein Heft voll mit Gedichten … und ein paar Freunde. Nicht viele, den einen oder anderen.

Wann werden Sie Ihr Gesicht zeigen?
Ich weiß es nicht. Ich denke, dass unsere Skimützen auch eine positive ideologische Bedeutung haben und sich mit unserem Verständnis der eigenen Revolution decken, die nicht individueller Natur ist, die keinen Anführer hat. Mit der Skimütze auf dem Kopf sind wir alle Marcos.

Nach Ansicht der Regierung verstecken Sie Ihr Gesicht, weil Sie etwas zu verbergen haben…
Die haben nichts kapiert. Aber das eigentliche Problem ist nicht mal die Regierung, sondern es sind vielmehr die reaktionären Kräfte der Chiapas, die Viehzüchter und Großgrundbesitzer der Region mit ihren privaten “weißen Wachen“. Ich glaube nicht, dass ein großer Unterschied zwischen der traditionellen rassistischen Einstellung eines Weißen aus Südafrika gegenüber einem Schwarzen und der eines Grundbesitzers der Chiapas gegenüber einem Indio besteht. Hier liegt für einen Indio die Lebenserwartung bei 50-60 Jahren für die Männer und bei 45-50 für die Frauen.

Und die Kinder?
Die Kindersterblichkeit ist sehr hoch. Ich möchte jetzt auch Ihnen die Geschichte von Paticha erzählen. Vor langer Zeit, bei einem Umzug von einem Dschungelgebiet in ein anderes kamen wir zufällig durch ein kleines, sehr ärmliches Dorf, wo wir stets von einem Zapatisten Kameraden mit einem drei bis vierjährigen Kind empfangen wurden. Die Kleine hieß Patricia, sprach ihren Namen aber «Paticha» aus. Ich habe sie gefragt, was sie einmal werden möchte, wenn sie groß ist und sie hat mir immer geantwortet: «una Guerrigliera». Eines Nachts fanden wir sie mit hohem Fieber vor. Antibiotika hatten wir nicht und sie hatte 40° Fieber oder höher. Die nassen Sachen trockneten an ihrem Körper wie an einem Ofen. Sie starb in meinen Armen. Patricia hatte keine Geburtsurkunde. Sie hatte auch keine Sterbeurkunde. Für Mexiko hat sie niemals existiert. Auch ihr Tod hat nie existiert. Das ist die Realität der Indios aus den Chiapas.

Die Zapatistenbewegung hat das gesamte politische System Mexikos in die Krise gestürzt, hat aber nicht gewonnen.
Mexiko braucht Demokratie und Personen, die über den Parteien stehen und diese garantieren. Wenn unser Kampf dazu beiträgt, dieses Ziel zu erreichen, dann war er nicht vergebens. Die Armee der Zapatisten wird jedoch niemals zu einer politischen Partei konvertieren. Sie wird von der Bildfläche verschwinden. Und am Tag, an dem das geschieht, werden wir eine Demokratie haben.

Und wenn das nicht geschieht?
Militärisch gesehen sind wir eingekesselt. Die Wahrheit ist, dass die Regierung schwerlich nachgeben werden wird, denn die Chiapas und insbesondere der Dschungel von Lacandona schwimmen buchstäblich in einem Meer von Öl. Und das Öl aus Chiapas ist die Garantie, die der mexikanische Staat den Vereinigten Staaten für die Milliarden von Dollar gegeben hat, die ihr die USA geliehen haben. Die Regierung kann also den Amerikanern gegenüber nicht zugeben, dass sie die Situation nicht unter Kontrolle hat.

Und Ihr?
Wir hingegen haben nichts zu verlieren. Unser Kampf ist ein Kampf ums Überleben und für einen Frieden in Würde.
Unser Kampf ist ein gerechter Kampf.

2

Peter Gabriel



Der Rock-Kobold










Bei jedem seiner (seltenen) Auftritte unterstreicht der legendäre Gründer und Frontmann der Gruppe Genesis, dass sein Hunger nach jeglicher Form eines musikalischen, kulturellen und technologischen Experiments wirklich keine Grenzen kennt.
Ich traf Peter Gabriel zu diesem Exklusiv-Interview während der Musikshow «Sonoria», einem dreitätigen Event in Mailand, das ausschließlich dem Rock gewidmet war. Während einer zweistündigen großen Musikdarbietung sang und tanzte Gabriel, hüpfte auf der Bühne herum wie eine Sprungfeder und begeisterte das Publikum in einem Spektakel, das, wie immer, weit über das hinausging, was man von einem normalen Rockkonzert erwartet.
Am Ende des Konzerts lud er mich ein, zu ihm in die Limousine zu steigen, die ihn zum Flughafen brachte und auf der Fahrt erzählte er von sich, von seinen Zukunftsplänen, seinem sozialen Engagement im Kampf gegen Rassismus und Ungerechtigkeit an der Seite von Amnesty International, von seiner Passion für multimediale Technologien und von den Geheimnissen seiner neuen Scheibe «Secret World Live», die demnächst gerade überall in der Welt auf den Markt kommen sollte.

War das Ende des Rassismus in Sudafrika, das Ende der Apartheit u.a. auch ein Siegeszug des Rock?
Es war ein Sieg des südafrikanischen Volkes. Ich glaube aber, dass die Rockmusik auf irgendeine Weise zu diesem Ergebnis beigetragen hat.

Auf welche Weise?
Ich glaube, dass die Musiker viel getan haben, um die öffentliche Meinung in Europa und in Amerika in Bezug auf diese Thematik zu sensibilisieren. Ich habe selbst Songs wie "Biko" geschrieben, um zu erreichen, dass Politiker diverser Länder die Sanktionen gegen Südafrika unterstützten und Druck machten. Es war ein kleiner Beitrag, der sicherlich nicht die Welt verändert, aber es macht einen Unterschied, einen kleinen Unterschied, der uns alle mit einbezieht. Es sind nicht immer die großen Events, die thea-tralischen Gesten, die am Ende über die Ungerechtigkeit triumphieren.

In welcher Hinsicht?
Um ein Beispiel zu nennen: In den USA gibt es zwei alte Damen aus dem Middlewest, die das Schreckgespenst aller Folterknechte Lateinamerikas sind. Sie verbringen ihre Zeit damit, unablässig Briefe an Gefängnisdirektoren zu schreiben. Und weil sie sehr gut informiert sind, werden ihre Briefe häufig in amerikanischen Zeitschriften mit großer Auflage und großer Resonanz veröffentlicht. Davon profitieren auch auf die politischen Gefangenen, deren Namen sie öffentlich gemacht haben, die man – auf wundersame Weise – plötzlich nicht mehr schikaniert. Das meine ich, wenn ich von kleinen Unterschieden spreche. Im Grunde genommen hat unsere Musik für sie dieselbe Bedeutung wie ein Brief!

Ihr Engagement gegen den Rassismus ist eng verbunden mit der Aktivität Ihres Aushängeschildes, der Real World, zu Gunsten der ethnischen Musik ...
Das ist richtig. Für mich war es eine große Befriedigung, dass ich so viele unterschiedliche Musiker aus so entfernten Ländern, von China über Indonesien und Russland bis Afrika zusammenbringen konnte. Wir haben Künstler herausgebracht wie die chinesischen Guo Brothers oder den Pakistani Nusrat Fateh. In ihren Werken wie in denen der anderen Musiker von Real World habe ich viel Inspirierendes gefunden. Den Rhythmus, die Harmonie, die Stimmen... Bereits ab 1982 habe ich übrigens damit begonnen, mich in dieser Richtung zu engagieren, indem ich das Bath Festival organisiert habe, das im Grund genommen zugleich der erste öffentliche Auftritt der von mir gerade ins Leben gerufenen Körperschaft mit Namen “Womad - World of Music Arts and Dance” war. Hier haben Menschen die Möglichkeit, sich aktiv am Event zu beteiligen und zusammen mit den afrikanischen Gruppen auf vielen Bühnen zu spielen. Alles in allem war es eine so spannende und bedeutsame Erfahrung, dass das Experiment später in vielen Teilen der Welt wiederholt wurde: Japan, Spanien, Tel Aviv, Frankreich...

Gelten Sie deshalb als Erfinder der World Music?
Real World und die World Music sind in erster Linie ein Markenzeichen, unter dem Musik von Artisten aus aller Welt publiziert wird, damit diese Musik überall in der Welt verbreitet werden kann, Eingang findet in Plattenläden, Radiosender... Dennoch hoffe ich, dass dieses Logo rasch verschwindet, nämlich dann, wenn die Künstler die für mich ihre Musik aufnehmen, berühmt werden. Kurz gesagt, ich möchte, dass das geschieht, was mit Bob Marley und der Reggae-Musik passierte: die Leute sagen nicht mehr «das ist Reggae», sie sagen «das ist Bob Marley». Ich hoffe, dass mit der Zeit niemand meine Künstler mehr mit «das ist World Music betitelt.»

Sie haben sich in letzter Zeit stark in Richtung multimedialer Technologien orientiert. Ihre CD «Xplora 1» traf auf ein breites Interesse. Wie lässt sich das alles mit den Aktivitäten von Real World verbinden?
Mit und auf dieser CD kann man viele Dinge tun, zum Beispiel unter den Stücken der einzelnen Künstler auswählen, indem man auf die CD-Hülle klickt. Ich möchte aber sehr viel mehr solcher Optionen anbieten, denn die Interaktivität ist ein Medium, das die Musik zu Menschen bringt, die noch nicht viel Kontakt damit hatten. Im Grunde genommen ist es das, was Real World versucht, traditionelle Musik – die, wenn Sie so wollen, home made ist, mit den Möglichkeiten zu verschmelzen, die uns die neue Technologie bietet.

Wollen Sie damit sagen, dass Ihrer Ansicht nach die Rockmusik sich inzwischen selbst nicht mehr genügt und der Intervention des Hörers bedarf? Möchten Sie, dass jeder beim Produkt Rock selbst Hand anlegen kann?
Nicht unbedingt. Ich zum Beispiel höre die meiste Zeit Musik im Auto und möchte vermeiden, dass ich dazu einen Bildschirm
oder einen Computer brauche. Wenn mich dagegen ein Künstler interessiert, oder wenn ich mehr über seine Vita wissen möchte, wo er herkommt, was er denkt, dann habe ich mit Multimedia ein visuelles Instrumentarium an der Hand, mit dem ich diese Bedürfnisse befriedigen kann. Letztlich würde ich dafür plädieren, dass alle CDs künftig über diese doppelte Nutzerebene verfügen würden: einmal die einfache Hörfunktion und einmal die Möglichkeit, die darauf gespeicherten Daten im wahrsten Sinne des Wortes zu “erforschen” Mit “Xplora1” wollten wir eine kleine, eigene Welt schaffen, in der die Menschen sich bewegen und entscheiden können, in der sie Entscheidungen treffen und mit ihrem Umfeld und mit der Musik interagieren können. Im Inneren der CD kann man viele Dinge tun, wie beispielsweise einen virtuellen Rundgang durch die Aufnahmestudios von Real World machen, an vielen Events teilnehmen (u.a. an der Verleihung des Grammy Awards oder am Womad Festival), man kann Clips aus Konzerten anhören, meine Karriere mit Genesis von Anfang bis heute nachverfolgen, und schließlich einen Remix meiner Songs nach Lust und Laune starten.

Und etwa auch in Ihrer Garderobe herumstöbern, virtuell natürlich …
Bingo ( lacht ). Man kann auch in der Garderobe von Peter Gabriel herumstöbern!

All dies scheint Lichtjahre entfernt von der Erfahrung mit Genesis. Was ist von diesen Jahren noch geblieben? Hatten Sie zum Beispiel niemals Lust, eine Rock-Oper zu machen, nach dem Muster «The lamb lies down on Broadway»? Ist das alles überholt?
Das ist gar nicht leicht zu beantworten. Ich bin glaube ich schon noch an einigen dieser Ideen interessiert, aber in einer anderen Welt. In gewisser Weise besteht bei dem, was ich in der letzten Schaffensperiode mit Genesis machen wollte, eine Verknüpfung mit Multimedia. Zu jener Zeit waren der Tontechnik durch die Technologie jener Epoche Grenzen gesetzt. Jetzt möchte ich auf dieser Straße ein ganzes Stück weiter in Richtung Zukunft vorangehen...

Kommen wir zurück auf Ihr politisches und humanitäres Engagement nach dem Ende der Apartheit, was sind Ihre anderen diesbezüglichen Projekte in Bezug auf die Gründe für die Ungerechtigkeiten auf dieser Welt, die es zu bekämpfen gilt?
Es gibt viele, aber im Moment glaube ich, dass es vorrangig ist, die Menschen dabei zu unterstützen, Zeugnis abzulegen. Beispielsweise, jedem die Möglichkeit zu geben, Aufnahmen mit einer Videokamera zu machen, oder über Kommunikationsmittel wie Fax, Computer usw. zu verfügen. Kurz gesagt, ich denke, dass heute die Möglichkeit besteht, die Technologie der Kommunikationsnetze für eine stärke Verteidigung der Menschenrechte zu nutzen.

Hoch interessant. Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Ich möchte kleine, konkrete Ziele verfolgen. Beispielsweise mit Hilfe dieser Kommunikationsmittel den Alltag eines ganzen Dorfes verändern: Telefonverbindungen, zwanzig oder dreißig Personal Computer, usw. Solche “Pakete” könnte man in jedem Dorf der Welt installieren, in Indien, in China, im Gebirge... Auf diese Art und Weise könnte man in einer Zeitspanne von drei oder fünf Jahren die Menschen auf solchen Posten instruieren, wie sie Informationen generieren, verwalten, und damit umgehen können. Dies würde dazu beitragen, mit geringem Aufwand die Wirtschaft vieler Länder zu transformieren und den Menschen die Möglichkeit zu geben, von einer reinen Agrarwirtschaft zu einem informationsbasierten System zu wechseln. Das wäre zweifellos von Vorteil.

Was sind Ihre Zukunftsprojekte?
Ein Urlaub ( lacht ). Wir sind sehr viele Monate auf Tour. Wir haben auch Pausen gemacht, aber ich glaube, ich muss mal abschalten. On Tour gibt es immer Stress, zeitliche Engpässe, Reisestress... und dann ist es unmöglich, Sport zu treiben. Ich spiele zum Beispiel viel Tennis. Was die Arbeit anbelangt, denke ich an etwas anderes als eine CD-ROM. Momentan habe ich mein neues Album “Secret World Live” abgeschlossen, eine Doppel-CD mit Live-Aufnahmen, die auf eben dieser langen Tournee aufgenommen wurden. Im Grunde genommen handelt es sich um eine Zusammenfassung von allem, was ich bisher gemacht habe, eine Art Sammelalbum, mit einem einzigen Stück, “Across the River”, das man als halbwegs unveröffentlicht bezeichnen könnte. Das Album ist im Prinzip auch eine Art Danksagung an alle, die auf dieser mörderischen Tour mit mir zusammen gespielt haben. Von den “habitués” wie Tony Levin oder David Rhodes bis Billy Cobham und Paula Cole, die mich auch in Mailand begleitet haben; der erste am Schlagzeug und die zweite als Vokalistin.

Haben Sie einen Wunsch, einen Traum?
Ich wünschte, die Vereinigten Staaten Europas würden bereits existieren.

Warum?
Weil es inzwischen offensichtlich ist, dass kleine Länder in der Weltwirtschaft keine große Rolle spielen können. Man braucht eine Organisation, die sie gegenüber dem Rest der Welt vertritt, auf künftigen Märkten und die ihre kulturelle Identität schützt. Es braucht eine kompakte wirtschaftliche Vertretung, eine Handelsunion, die ihr Überleben sichert, insbesondere, um sich an jenen Plätzen behaupten zu können, wo Arbeitskräfte zu Niedrigpreisen gehandelt werden. Und um dann das Bild von der Unterteilung der Welt in zwei Modelle zu zerreißen: das des weißen, des historischen Europas und das der armen Länder, die ausgebeutet werden. Man sollte die Unterschiede zwischen den Menschen eines jeden Landes hervorheben und nicht versuchen, alles über einen Kamm zu scheren, damit alle gleich sind.

3

Claudia Schiffer



Die Schönste von allen










Sie war die schönste Frau der Welt, die mit den höchsten Gagen, alles in allem auch die sittsamste. «Ich bin das einzige Modell, dessen Busen noch niemand gesehen hat» erklärte sie stolz. Ihr milliardenschwerer Vertrag mit Revlon untersagte ihr sogar, sich hüllenlos zu zeigen.
Zumindest so lange, bis zwei spanische Fotografen der Agentur Korpa auch dieses Bollwerk zum Wanken brachten und die ganze Welt die perfekten Brüste der legendären Claudia Schiffer zu Gesicht bekam. Diese Fotos gingen um die Welt und die Internationale Presse widmete diesem Ereignis ausreichend Raum. Nur das deutsche Wochenblatt Bunte zeigte sie bekleidet auf der Titelseite. Nicht ohne ihr jedoch heuchlerisch viele Seiten im Innenteil zu widmen, auf denen sie topless abgebildet war. Die neue Bardot konterte mit wütenden Protesten und der Androhung von immensen Schadenersatzklagen.
Da ich einige gute Kontakte zur Modebranche hatte, beschloss ich, das Eisen zu schmieden, so lange es noch heiß war und auf der Welle der “Skandalfotos” mitzuschwimmen und zu versuchen, sie für die Zeitschrift Panorama zu interviewen. Es war äußerst kompliziert und es folgten zahlreiche Telefonate und lange Verhandlungen mit ihrer Agentin, die jeglichen Annäherungsversuch von Journalisten abblockte. Dennoch wurde meine Hartnäckigkeit endlich im August 1993 belohnt und ich bekam einen Termin: Claudia war mit der Familie in Urlaub auf den Balearen und um sie zu interviewen hätte ich mich dort hinbegeben müssen.
Es war ein echter Scoop , ein Interview von absoluter Exklusivität: die schöne Claudia hatte der italienischen Presse nie Interviews gegeben und vor allem hatte noch nie zuvor ein Journalist einen Fuß in ihr Ferienhaus gesetzt und war in die familiäre Intimsphäre vorgedrungen. Noch dazu, genau an dem Ort, an dem die
Skandalfotos geschossen wurden, Port d’Andratx , eine diskrete Bucht auf der Insel Mallorca im Süden von Palma, wo die Familie Schiffer seit vielen Jahren ein Ferienhaus besitzt.
In diesem Jahr hatte Claudia einen Grund mehr, sich dorthin zurückzuziehen, um sich auszuruhen. Sie hatte soeben ein Selbstportrait in einem langen Dokumentarfilm beendet, der ihre Lebensgeschichte erzählte: Claudia Schiffer special, unter der Regie von Daniel Ziskìnd, ehemaliger Assistent von Claude Lelouch, der in Frankreich, Deutschland und in den Vereinigten Staaten gedreht wurde. Die Filmaufnahmen waren gerade beendet und schon wetteiferten sämtliche Fernsehsender in aller Welt miteinander, im Kampf um die Rechte.

Kurz vor meiner Abreise sprach ich zufällig mit einem damals sehr guten, ziemlich wohlhabenden Freund, dessen Familie eine bekannte Werkzeugfabrik gehörte und ließ verlauten (vielleicht wollte ich auch nur etwas angeben…) dass ich kurz vor der Abreise nach Palma de Mallorca war, um sie zu treffen, woraufhin mein Freund meinte, ich solle kein Hotel reservieren: er sagte spontan zu mir «ich habe dort meine Yacht liegen» (ein Traum von einem zweiunddreißig Meter langen Segelboot). «An Bord sind fünf Mann Besatzung plus der Koch, die fürs Nichtstun bezahlt werden. Das Boot liegt im Hafen von Palma. Geh du hin, dann sind die nicht ganz umsonst dort!». «Und wenn du schon mal dort bist, lass dich mit dem Boot nach Port d‘Andratx schippern, dann kommst du auch gleich in den Genuss einer schönen Kreuzfahrt!»
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen und am Tag des Interviews ging ich in dem kleinen Hafen, zwei Stunden Fahrtzeit von Palma de Mallorca entfernt von Bord der Yacht meines Freundes. Ich verabschiedete mich von der Mannschaft und begab mich um 15:30 h zum Treffpunkt im Cafè de la Vista , gegenüber der Mole des überfüllten Yachthafens.
Dies war mit Sicherheit der spektakulärste Auftritt der jemals einem Journalisten zuteilwurde, der nur ein Interview machen wollte!

*****
Kurz vor der vereinbarten Zeit kam ein Audi 100 mit Düsseldorfer Kennzeichen. Das mussten sie sein: Vorne zwei Männer, auf dem Rücksitz die unvermeidliche Agentin, Aline Soulier. Enttäuschung machte sich breit: Wo ist sie? Nur ein kurzer Augenblick und hinter Aline kommt eine blonde Wolke zum Vorschein und beugt sich vor in Richtung Vordersitz. «Ciao, ich bin Claudia» sie reicht mir die Hand und lacht, ein Anblick, der einen in den Bann zieht, irgendwo zwischen einer Lolita und der Madonna.
Niemand steigt aus. «Überall lauern Paparazzi» flüstert mir die Agentin auf der kurzen Fahrt zum Haus, eine ziegelfarbene, einstöckige Villa, zu. Beim Eintreten betont Claudia dass bis zu diesem Tag kein Journalist jemals einen Fuß in das Haus der Schiffers gesetzt hat. Sie stellt vor: «Mein kleiner Bruder, meine
Schwester Caroline, meine Mutter». Eine sehr distinguierte Dame, ziemlich Deutsch, blonde kurze Haare, sogar noch etwas größer als die 1,80 m große Tochter. Beim Vorstellen fehlt der Vater, ein Düsseldorfer Rechtsanwalt, der im Hintergrund die Fäden zieht. Wenn man gut informierten Kreisen glauben darf, war er verantwortlich für den Erfolg seiner Tochter. Verdanken wir ihm die Entstehung eines Mythos der Schönheit?

Alles begann in einer Düsseldorfer Diskothek…
Ich war sehr jung. Eines Abends sprach mich der Inhaber der Metropolitan Agentur an und fragte, ob ich Lust hätte, für ihn zu arbeiten...

Und wie haben Sie reagiert?
«Wenn es etwas Seriöses ist» habe ich geantwortet «dann sprechen Sie morgen mit meinen Eltern». Sie wissen ja, es gibt viele Anmachen in Discos, das hätte eine davon sein können, nicht mal besonders neu...

Haben Sie eine enge Beziehung zu Ihrer Familie?
Ja, eine sehr enge Bindung. Wir sind eine bodenständige Familie. Mein Vater ist Rechtsanwalt, meine Mutter hilft ihm in der Kanzlei. Mein Erfolg hat bei ihnen keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Sie sind nicht besonders leicht zu beeindrucken. Sie sind sehr stolz auf mich, das ja, aber für sie ist es nichts anderes als mein Beruf und sie erwarten von mir, dass ich meine Arbeit so gut wie möglich mache.

Und Ihre Geschwister, sind die nicht eifersüchtig?
Ach woher ! Sie sind vielmehr stolz auf mich. Besonders mein kleiner Bruder mit zwölf. Dann habe ich noch eine Schwester, sie ist neunzehn und geht auf die Uni; es gibt also keine Konkurrenz zwischen uns beiden. Dann ist da noch ein zwanzigjähriger Bruder: ein Freund.

Verbringen sie ihre Ferien immer gemeinsam mit ihnen auf Mallorca?
Ich liebe diesen Ort, seit ich Kind war.

Jetzt, nachdem Sie erwachsen sind, haben Sie scheinbar das eine oder andere Problem, wenn Sie in dieser Gegend spazieren gehen…
In der Tat, die Paparazzi sind überall, sogar auf den Bäumen... es nervt. Jede meiner Bewegungen wird observiert, studiert, fotografiert, ... Urlaub ist das keiner, zumindest so gesehen! (sie lacht ).

Man nennt es den Preis des Ruhmes…
Ach ja, so ist es wohl, und trotzdem fahre ich oft mit dem Boot hinaus, mit der Mamma, mit meinen Brüdern. Auf dem Meer fühle ich mich sicher.

Ist es dort wirklich sicher?
Ach Sie meinen die Fotos “oben ohne”? Ich weiß wirklich nicht, wie das passieren konnte. Ich war auf dem Boot, zusammen mit der Mamma und meiner Schwester Carolina. Wir lagen vor Anker und haben uns gesonnt. Bei uns war noch Peter Gabriel, einer meiner guten Freunde...

Das haben wir mitbekommen…
Ja, stimmt. Auch er war auf diesen Fotos. Ich möchte nicht da-rüber reden... ich habe bereits Anwälte eingeschaltet wegen der Schadenersatzklagen ...

Es wird gemunkelt, dass Sie Schauspielerin werden wollen.
Ich würde es gern mal probieren, das ist alles. Man bietet mir Drehbücher an und je mehr ich lese, umso mehr Lust bekomme ich, einen Versuch zu starten ... Heute habe ich Lust darauf, einen Film zu machen. Richtig Lust.

Aber Sie übernehmen keine Rolle im nächsten Jahr in Robert Altmans “Prêt-à-porter”, einem Film, im Zeichen der Modewelt?
Es ist wirklich unglaublich. Die Weltpresse behauptet das immer wieder hartnäckig, aber es ist absolut unwahr. Und dann möchte ich keinen Film machen, in dem ich mich wieder selber spiele.

Wenn Sie die Wahl hätten zwischen dem Top-Model und der Schauspielerin, was würden Sie tun?
Model ist kein Beruf für ein ganzes Leben. Es ist ein Beruf für sehr junge Mädchen, den man nur wenige Jahre machen kann, etwa so wie Tennis spielen oder Schwimmen... d.h., man muss die Chancen nutzen, solange es geht. Danach würde ich gerne zurück an die Uni und Kunstgeschichte studieren.

Sie haben immer gesagt, Sie würden Ihre Privatsphäre verteidigen, koste es, was es wolle. Wenn Sie diesen Film über Ihr Leben drehen, in Ihrem Haus, im Haus Ihrer Eltern, empfinden Sie das nicht als Widerspruch?
Ich glaube nicht. Die wirklich privaten Momente sind es auch geblieben. Im Film sieht man das, was ich bewusst beschlossen habe, dem Publikum zu zeigen: meine Familie, meine Freunde, meine Ferien, meine Hobbies ... eben alles, was ich liebe. Und daneben die Reisen, der Catwalk, die Fotos, mit denen ich arbeite, die Pressekonferenzen...

Sie leben teils in Paris, teils in Montecarlo?
Im Grund genommen ist mein Wohnsitz Montecarlo und ich lasse keine Gelegenheit aus, dorthin zu fahren, wenn ich nicht arbeite, beispielsweise an den Wochenenden.

Reisen Sie immer in Begleitung Ihrer Agentin?
Normalerweise nicht. Ich brauche sie, wenn ich in Ländern arbeite, die ich nicht kenne. In Argentinien, Japan, Australien oder Südafrika. Bei diesen Gelegenheiten bin ich immer von vielen Fans umgeben, und dann sind da noch die Journalisten, Paparazzi...

Langweilen Sie sich auf den vielen Reisen?
Nein, denn ich lese gerne und mit einem Buch kann man sich immer die Zeit vertreiben, selbst im Flugzeug. Letztlich geht es hier um Arbeit und nicht um Urlaub!

Welche Art Bücher lesen Sie?
Vorwiegend Bücher über Kunst. Ich bevorzuge den Impressio-nismus und Pop Art. Ich habe auch eine Vorliebe für Geschichte und für die Biographien berühmter Männer. Ich habe die von Christoph Kolumbus gelesen – unglaublich!”

Man sagt Ihnen nach, Sie seien zur Hälfte Brigitte Bardot und zur anderen Hälfte Romy Schneider (Sissi). Sehen Sie sich in diesen beiden Figuren?
Ja. Aber nicht so sehr physisch betrachtet. Ich glaube vielmehr einige gemeinsame Charakterzüge zu haben, den Lebensstil... Die Bardot finde ich ganz außergewöhnlich, abgesehen von ihrer Schönheit, was für ein Charakter! Für Romy Schneider empfinde ich dagegen ein Gefühl der Verehrung. Ich habe alle ihre Filme gesehen und es war furchtbar, als sie starb. Nach einem so unglücklichen Leben ...

Wenn wir das Unglück mal weglassen, würden Sie die neue Romy Schneider sein wollen?
Noch so ein schönes Kompliment! Die einen sagen so, die anderen sagen so: Ähnlichkeit mit der oder jenen schönen Frau. Das sind alles sehr schöne Komplimente, aber ich möchte vor allem ich selbst sein. Ich setze alles daran, ich selbst zu sein.

Träumten Sie als Kind von einem bestimmten Beruf?
Eine Karriere als Model hatte ich absolut nicht in der Planung. Ich wäre gerne Anwältin geworden.

Wie Ihr Vater?
Ja, ich hätte mit Freuden in seiner Kanzlei gearbeitet. Dann wurden aber alle meine Pläne über den Haufen geworfen. Als mir bewusst wurde, was für ein Glück ich hatte, habe ich beschlossen, darauf zu verzichten.

Ihre Geschichte klingt wie ein Märchen der Neunziger. Gab es auch schwierige Momente?
Die gibt es, natürlich. Aber es kommt beispielsweise niemals vor, dass ich mich einer Situation nicht gewachsen fühle...

Wie lautet Ihr Geheimnis?
Sehr viel Disziplin und die Lust an Geselligkeit. Ich bin gerne unter Menschen. Es macht mir Spaß mich auf Pressekonferenzen dem Kreuzverhör der Journalisten zu stellen. Da fordert mich heraus. Ich will damit sagen, ich habe keine Angst.

Nur eine Frage der Disziplin?
Auch ein großes inneres Gleichgewicht. Hierbei ist es wichtig, dass man eine Basis hat, durch die Erziehung, die einem die Familie mitgegeben hat: Mir hat das enorm viel geholfen. Es hat meinen Charakter geformt, mir Sicherheit, einen Sinn fürs Praktische und inneres Gleichgewicht gegeben. Und man darf in schwierigen Momenten niemals die Selbstbeherrschung verlieren. Es ist das Verdienst meiner Eltern, das ich heute zum Beispiel frei vor Publikum reden kann.

Wenn man den Medien glauben darf, verlieben Sie sich rasch und wechseln ebenso rasch die Partner: heute Albert von Monaco, morgen Julio Boca. Wie sieht die echte Claudia aus?
Die echte Claudia ist ein Mädchen mit vielen Freunden. Prinz Albert ist einer davon, Julio Boca ein anderer. Dann gibt es aber auch noch Placido Domingo oder Peter Gabriel und viele andere Personen, die im Rampenlicht stehen. Kaum bin ich mit einem von ihnen zusammen auf einem Foto, macht die Internationale Presse sofort einen Verlobten daraus! Das stimmt aber nicht.

Und gibt es in Ihrer Zukunft einen Verlobten, einen Ehemann, Kinder?
Ich bin mehr als bereit, mich zu verlieben, auch möglichst bald. Im Moment habe ich aber keinen Lebensgefährten, aus dem einfachen Grund, weil ich in niemanden verliebt bin.

Worauf achten Sie bei einem Mann am meisten?
Für mich gibt es keinen Idealtyp – ich meine, ästhetisch betrachtet. Als erstes schaue ich auf den Charakter und vor allem auf den Sinn für Humor. Von einem Mann erwarte ich, dass er Charme hat dass er mich erobert, mit Intellekt, also mit dem Kopf, um es klar zu sagen. Er muss ein Verständnis für Ironie haben und die Fähigkeit, mir solche Gefühle zu vermitteln. Wenn man im Leben nicht miteinander lachen kann…

Sind Sie anspruchsvoll - bräuchte Ihr Verlobter besondere Qualitäten …
Jeder Partner eines berühmten Menschen braucht einen starken Charakter. Ich liebe Männer mit Charakter, aber sie müssen auch gefühlsbetont sein. Wer mit mir ausgehen will, muss Lärm ertragen, Verletzungen der Privatsphäre, Klatsch, die Journalisten...

Haben Sie ein schlechtes Gewissen?
In welcher Beziehung?

Naja, so wie es aussieht, haben Sie alles: Schönheit, Ruhm, Geld…
Ich fühle mich vom Glück begünstigt, das stimmt, ich danke Gott und meinen Eltern, dass ich in diese Verhältnisse hineingeboren bin. Wenn ich kann, versuche ich daher, etwas Gemeinnütziges, etwas Soziales zu tun.

Auf dem Modesektor ist nicht alles Gold was glänzt. Es gibt auch Drogen, Alkohol, Rivalitäten…
Drogen und Alkohol interessieren mich nicht. Eifersüchteleien dagegen sind schon ein Thema, aber ich verstehe es nicht. Meiner Ansicht nach sind Models vom Physischen, vom Charakter und von der Mentalität her so unterschiedlich, dass Platz für alle ist. Und man braucht auch nicht herausragend schön zu sein. Jede Frau hat etwas Schönes an sich. Man muss es nur würdigen.

Was braucht es, um den Durchbruch zu schaffen?
Vor allem Charakter, denn schöne Mädchen gibt es viele auf der Welt... Dann Bildung, Persönlichkeit und Disziplin.

Disziplin auch bei der Ernährung?
Nicht übermäßig. Ich rauche nicht und ich trinke keinen Alkohol, aber nur, weil es mir keinen Spaß macht. Ich esse nicht viel Fleisch, weil ich glaube, dass es ungesund ist und ich bin vorsichtig mit Fetten. Dafür liebe ich Schokolade... Oh! Ich liebe natürlich auch Fanta! (sie lacht ).

Welche Beziehung haben Sie zu Geld?
Es ist nicht das Wichtigste, aber es wird mir in meiner Zukunft die Möglichkeit geben, das zu tun, was ich möchte. Geld ist Freiheit.

Was verbinden Sie mit dem Wort Sex – welche Bedeutung hat es für Sie?
Für mich? (sie scheint wirklich verblüfft zu sein ).

Ja, für Sie
Was soll ich sagen, etwas, das ganz natürlich zwischen zwei in-einander Verliebten passiert. Mehr nicht.

Glauben Sie, dass Sie eine starke erotische oder eine mehr sinnliche Ausstrahlung haben?
Hundertprozent.

Hundertprozentig nein?
Hundertprozentig ja!



4

Gong Li



Mondsüchtig










Anfang 1996, ich arbeitete erst kurz als Korrespondent für den Fernen Osten, besuchte ich häufig zusammen mit einigen befreundeten Journalisten John Colmey, den Kollegen von Time in Hong Kong. John vermittelte den Kontakt zum Manager der wunderschönen chinesischen Schauspielerin Gong Li und es gelang mir, mit ihr am Set des Films, den sie gerade in der Nähe von Shanghai drehte ein Exklusivinterview für die Zeitschrift Panorama zu arrangieren.
*****
Chen Kaige drehte gerade eine der letzten Szenen seines sehn-lichst erwarteten Films Verführerischer Monde ( Temptress Moon ) in Suzhou, am Ufer des Tai-Sees, hundert Kilometer westlich von Shanghai, drei Jahre nach dem Welterfolg von Lebewohl meine Konkubine . Die Assistenten bewegen sich im Laufschritt zwischen den über zweihundert Komparsen, gekleidet im Stil der Zwanziger Jahre, die den Hafenkai bevölkern. Die Frauen tragen den typischen cheongsam aus Seide, einige Gentlemen sitzen lesend in einer Sänfte und im Hintergrund siehe man Hafenarbeiter, die ein Dampfschiff beladen. Gedreht wird eine große Abschiedsszene: Gong Li, die im Film Ruyi heißt und die schöne und verwöhnte Erbin einer superreichen Familie aus Shanghai spielt, in der Inzest und Opium-Rituale praktiziert werden und jeder jeden mit dem jeweils anderen Partner betrügt, ist kurz davor, mit ihrem Verlobten, Zhongliang, nach Peking aufzubrechen, gespielt von Leslie Cheung, dem Schauspieler aus Hong Kong, der schon in Lebewohl meine Konkubine an ihrer Seite spielte.
Am Kai steht ihr Jugendfreund Duanwu (interpretiert von dem künftigen Stern am Kinohimmel, Taiwan Lin Chìen-hwa), der schon immer heimlich in Ruyi verliebt war: «Denk dran: du siehst sie jetzt hier zum letzten Mal! Das muss man auf deinem Gesicht ablesen können, und das will ich von dir sehen!» ermahnt ihn Chen Kaige, sechsundvierzig, Lederjacke, schwarze Jeans. «Gut... Yu-bei ... (Anm . also los, ) ... Action !». Als Lin Chien-hwa sich umschaut und dem ablegenden Dampfschiff nachsieht, kann man den Abschiedsschmerz in seinen Augen lesen. « Okay! » ruft ein zufriedener Kaige. Und die letzte Klappe fällt an diesem Tag.
Über zwei Jahre sind vergangen, in denen er das Drehbuch umgeschrieben hat. Jetzt arbeitet Kaige wie ein Besessener, damit sein Streifen bis zum Filmfestival von Cannes im Mai im Kasten ist. Er ist die Nummer Eins des chinesischen Kinos der Neunziger und trat in die Fußstapfen seines Vaters (sein Vater, Chen Huai’ai, war ein Monument des Kinofilms der Nachkriegszeit). Chen Kaige ist dafür bekannt, dass er das Maximum aus seinen Darstellern herausholt und ihre Geduld zuweilen auf eine harte Probe stellt. Das gilt gleichermaßen für die chinesische Regierung, die seine Filme jahrelang auf den Index gesetzt-, geschnitten und zensiert hat, bis sie am Ende seine Qualitäten als Meister des zeitgenössischen Kinos anerkennen musste.
Der neue Film Temptress Moon, der bislang bereits sechs Millionen Dollar gekostet hatte, repräsentiert in gewisser Hinsicht symbolisch die aktuelle Realität des chinesischen Kinos, eine Gratwanderung zwischen Liberalismus und Repression, projiziert auf die Weltmärkte, die Füße fest verwurzelt am Boden des Vaterlandes; Kosmopolit und engstirniger Patriot zugleich. Der Filmset erscheint einem wie ein Mikrokosmos des modernen China.
Die Protagonisten sind vom Feinsten was aktuell von den «drei Chinas» geboten wird: Hong Kong (Leslie Cheung), Taiwan (Lìn Chien) und die Volksrepublik China (Gong Li). Der Regisseur ist ein Intellektueller aus Peking und die Produzentin, Hsu Feng, ein ehemaliger Kinostar aus Taiwan, verheiratet mit einem Ge-schäftsmann aus Hong Kong, wo sie in den Siebziger Jahren die Tomson Film gründete (und sie war es auch, die Kaige vor acht Jahren davon überzeugte, die Novelle von Lilian Lee, Lebewohl meine Konkubine auf die Leinwand zu bringen).
Selbst wenn die Erwartungen an die neue Regiearbeit von Kaige hoch sind, die des Publikums und der Kritik, was die schauspielerische Leistung des unbestrittenen Kinostars Gong Li anbelangt, sind ungleich höher. Die einunddreißigjährige Schauspielerin ist zweifellos in diesem Moment die bekannteste Chinesin der Welt. In ihrer Kinovergangenheit finden wir Filme wie Roter Mohn (1987), rote Laterne (1991) und Lebewohl meine Konkubine (1993). Und eine lange, soeben zu Ende gegangene Love Story mit Zhang Yimou, ihrem Begleiter über acht Jahre, dem Regisseur, der sie zu einem Weltstar gemacht hat und mit dem sie im vergangenen Jahr den letzten Film gedreht hat, Shanghai Serenade .
Trotz des Erfolges, den sie beim westlichen Publikum genossen hat ist Gong Li zu hundert Prozent Chinesin geblieben.
Am Ende dieses Tages am Set hat sie eingewilligt, für Panorama dieses Exklusivinterview zu geben.

Wieder ein großer Film, aber wieder eine antike Geschichte, die im China der Zwanziger Jahre spielt und nicht Fakten der jüngsten Geschichte beleuchtet ..
Ich denke der Grund liegt darin, dass China sich dem Rest der Welt erst vor wenigen Jahren geöffnet hat. Als das geschah, hat in unserem Land auch das Kino stilistisch und kulturell eine Öffnung erfahren. Sicherlich hat die Zensur über Jahre eine wesentliche Rolle gespielt, wenn es um die Themenwahl ging und um die Zukunft des Kinos. Es gibt aber auch einen eher künstlerischen Grund, wenn man das so sagen kann: viele chinesische Regisseure sind der Ansicht, es sei gut, Filme aus einer Epoche vor der Kulturrevolution zu machen. Dies dient einer Art Rehabilitation jener Fakten und der Vergangenheit. Vermutlich glauben sie auch, es sei noch zu früh, für ein internationales Publikum Episoden zu verfilmen, Bilder, die noch zu frisch sind, die noch zu weh tun und die allen noch im Gedächtnis sind.

Sie sind weltweit die populärste chinesische Frau. Empfinden Sie ein Gefühl der Verantwortung in dieser Rolle als Botschafterin?
Das Wort Botschafterin macht mir ein wenig Angst... dieser Titel ist meiner Ansicht nach eine Nummer zu groß für mich. Sagen wir mal, ich fühle mich auf dem Umweg über meine Filme eher wie eine Brücke zwischen unserer Kultur und unserer Geschichte und der des Westens. Das ja: da ich glaube, dass man bei Ihnen nicht viel von der Realität des heutigen China weiß. Wenn also einer meiner Filme helfen kann, dem Westen unser Leben, unser Volk, uns selbst etwas näher zu bringen, dann ist das etwas, worauf ich in der Tat stolz bin.

In letzter Zeit ist das Image Chinas in der Welt allerdings nicht eines der besten: Massenexekutionen, Waisenhäuser des Todes … Entspricht das alles der Wahrheit?
China hat viele Probleme, das ist sicher. Insbesondere, wenn man nur die negativen Dinge betrachtet und die positiven Seiten vergisst. Wenn man von einem Land nur die Missstände kennt, dann muss man klar sagen, dass das Image, das man sieht, unvollständig ist. Mein Land ist ein großes Land, hier leben über eine Milliarde Menschen und daher gibt es im Inneren von China enorme Unterschiede. Es ist alles andere als einfach, hier ein Urteil abzugeben.

Wann haben Sie sich entschlossen, die Rolle der Ruyi in Temptress Moon zu spielen?
Es war mehr oder weniger ein Zufall. Oder eine Fügung des Schicksals, denn es war auch für mich eine «Versuchung». Man hat mir die Rolle im letzten Moment angeboten, als die Dreharbeiten bereits begonnen hatten und nachdem die taiwanesische Darstellerin nicht weiter machen wollte. Wissen Sie, dass chinesische Kritiker Temptress Moon mit Vom Winde verweht verglichen haben?

Ach ja – und warum?

Nicht wegen des Inhalts. Wegen der Wahl der Akteure. Chen hat sich zig Darsteller für meine Rolle angeschaut, genauso wie bei Vom Winde verweht , als eine Schauspielerin nach der anderen ausgemustert wurde, bevor er sich entschied und die Rolle der Scarlett O’Hara mit Vivian Leigh zu besetzen. So kam auch ich dazu, als die Dreharbeiten bereits begonnen hatten. Und das war nicht leicht. Man wollte, dass ich einen völlig anderen Part verkörpere, als ich das für Gewöhnlich tue: hier muss ich ein reiches und verwöhntes Mädchen spielen.

Das chinesische Kino erlebt zurzeit einen magischen Moment. Das ist das Verdienst von Regisseuren wie Kaige und von Darstellern wie Sie. Daneben auch Namen wie John Woo oder Ang Lee, die in Hollywood arbeiten .

Ich glaube, der Grund hierfür liegt darin, dass die chinesischen Regisseure eine optimale Kinotechnik mit jener einzigartigen Kombination von Faszination und Stil verbinden, die Teil unserer Kultur ist.

Wie kamen Sie zur Schauspielerei?
Aus purem Zufall. Als Kind habe ich gerne gesungen. Eines Tages nahm mich mein Gesangslehrer mit in ein Fernsehstudio in Shandong, wo gerade eine TV-Sendung aufgenommen wurde. Ich erinnere mich noch, dass der Regisseur eine Frau war. Als sie mich sah, beschloss sie, mir eine Rolle zu geben, also gab sie mir ein Drehbuch zum Lesen. Es war eine kleine Rolle. Aber in ihren Augen war ich die geborene Schauspielerin. Sie sagte also zu meiner Mutter: «Lassen Sie Ihre Tochter Schauspielerin werden». Es gelang mir, sie zu überzeugen und zwei Monate später ging ich auf die Schauspielschule nach Peking. Ich erinnere mich noch, dass es harte Arbeit war. Begonnen habe ich mich kleinen Rollen und später …

Ihr Leben spielt sich zwischen Hongkong und Peking ab und die Zeitungen schreiben von einer neuen Liebesaffäre mit einem Geschäftsmann aus Hong Kong. Werden Sie endgültig dort hinziehen?
Ich glaube nicht. Hong Kong gefällt mir, weil es eine quirlige Stadt ist und man dort gut shoppen kann. Aber ich langweile mich dort. Peking ist anders. Man trifft Menschen auf der Straße, spricht mit ihnen, wird angesprochen. In Hongkong dreht sich alles nur ums Geld.

Stört Sie das Interesse der Presse in Ihrem Privatleben?
Man kann es vermutlich nicht verhindern. Insbesondere die asiatische Presse schreibt oft diskriminierende oder erfundene Geschichten. Westliche Zeitungen sind da korrekter.

Ist es auch in China für eine Darstellerin wichtig, schön zu sein?
Finden Sie mich schön?

Im Westen gelten Sie als Sexsymbol .
Ach ja, das freut mich zu hören. Ich fühle mich aber weder sexy noch als Sexsymbol. Vielleicht gelingt es mir, die Persönlichkeit und den Charme der chinesischen Frau zu verkörpern. Die Chinesinnen sind anders, als die Frauen im Westen.

Welches sind Ihre künftigen Projekte?
Ich würde gerne heiraten und Kinder haben, weil ich denke, dass die Familie im Leben einer Frau eine wichtige Rolle spielt. Ohne eine Familie kann man bei der eigenen Arbeit die Realität des täglichen Lebens nicht umsetzen.

Gibt es Leinwandprojekte?
Im Augenblick nicht. Ich lese viele Drehbücher, aber keins kann mich überzeugen. Ich bin nicht eine von der Sorte, die glaubt, eine Rolle annehmen zu müssen, nur um etwas zu tun.

Würden Sie für einen westlichen Regisseur arbeiten?
Wenn er eine passende Rolle für mich hat, eine, die für eine Chinesin geeignet ist, warum nicht?

Gibt es einen Italiener, unter dem Sie gerne arbeiten würden?
Aber sicher, Bernardo Bertolucci!

5

Ingrid Betancourt



Die Pasionaria der Anden










Liebe Dina, anbei das Stück, die Box wird nachgeliefert. Ich hoffe, es ist alles in Ordnung. Heute (Montag den 11.) nehme ich das Flugzeug nach Tokyo via Buenos Aires, wo ich morgen, am 12. Februar ankomme. Danach bin ich ständig per Satellitentelefon erreichbar, auch an den Tagen der antarktischen “Seereise”. Am 24. Februar bin ich zurück in Argentinien und reise weiter nach Bogotá, wo ich die Betancourt in den ersten Märztagen treffen werde.
Sag mir, wenn’s dich interessiert.
Bis bald
Marco

Diese Mail, das ich auf einem alten PC fand, schrieb ich Anfang Februar 2002 an Dina Nascetti, eine meiner Vorgesetzten beim Espresso, um sie über meine Unternehmungen zu informieren. Ich war zuvor in Japan wegen einer Reportage am Grab von Jesus
und bereitete eine lange Reise vor, auf der ich fast zwei Monate weit weg von zu Hause sein würde. Endstation war die geografische Außengrenze: die Antarktis.
Unterwegs plante ich einen Zwischenstopp in Argentinien, zu einer Reportage über die schwere Wirtschaftskrise, die das südamerikanische Land in jenen Monaten erschütterte, danach in Kolumbien, wo ich Ingrid Betancourt Pulecio interviewen sollte, die kolumbianische Politikerin und Vorkämpferin für die Menschenrechte. Tatsächlich kam ich einige Tage früher als geplant nach Bogotá. Das war – wenigstens für mich – ein Glücksfall. Ich traf die Betancourt am zweiundzwanzigsten Februar und genau vierundzwanzig Stunden später verschwand Ingrid Betancourt, die im Auto unterwegs in Richtung Florencia war spurlos und zwar in der Gegend von San Vicente del Caguan. Von den FARC-Rebellen entführt, war sie mehr als sechs Jahre in Geiselhaft.
Wäre ich nur einen Tag später in Kolumbien angekommen, wäre ich ihr nie begegnet.

*****
Das braune schulterlange Haar trägt sie offen. Sie hat dunkle Augen, wie eine echte Kolumbianerin und trägt einen Armreif aus Bernstein. Ihre Lippen sind geschlossen; sie lächelt so gut wie nie.
Ingrid Betancourt hat auch wenig Grund zum Lachen. Ihre vierzig Jahre sieht man ihr nicht an, die fünfzig Kilo sind auf einen Meter siebzig gut verteilt. Aktuelle Kandidatin für den unbequemen Präsidentenposten in Kolumbien, einem der gewalttätigsten Länder der Erde. Ein Ort, an dem im Schnitt täglich siebzig Menschen umgebracht werden, Kriegsschauplatz seit vierzig Jahren mit 37.000 Opfern unter der Zivilbevölkerung von 1990 bis heute. Ein Land, in dem alle vierundzwanzig Stunden an die zehn Personen entführt werden. Ein Land, das als Kokainproduzent weltweit an der Spitze steht und aus dem in den letzten drei Jahren mehr als eine Million Menschen geflüchtet sind.
Es ist noch nicht allzu lange her und dieselbe Frau, die mir jetzt mit kugelsicherer Weste und nervösem Blick in einem anonymen, streng geheimen und Hochsicherheits-Apartment im Zentrum von Bogotà gegenübersitzt, lag mit einem glücklichen Lächeln am Strand der Seychellen, unter den nachsichtigen Blicken des Vaters, Gabriel de Betancourt, einem französischen Diplomaten. Schön, gebildet, intelligent, hatte man sie nach den schwierigen Jahren in Kolumbien in diesen Winkel des Paradieses geschickt hatte, um dort zu arbeiten.
Genau vierundzwanzig Stunden nach diesem Interview verschwand Ingrid Betancourt auf einer Autofahrt nach Florencia in der Gegend von San Vicente del Caguan, an der äußersten Grenze des Gebietes in dem kolumbianischen Truppen gegen die FARC-Rebellen kämpften. Mit ihr verschwanden ein Kameramann und ein französischer Fotograf, die sie auf ihrer riskanten Wahlkampagne begleiteten. Alles deutete auf eine Entführung hin.
Eine dramatische Wendung, die paradoxerweise – oder in einem so grausamen Land wie Kolumbien auch wieder nichts Ungewöhnliches – «schlagartig ihre Wahlchancen erhöht», wie es Gabriel Marcela pragmatisch ausdrückt. Er muss es wissen, denn er ist Professor an der Escuela de Guerra und das kolumbianische Tagesgeschehen ist sein Fachgebiet.

Ingrid Betancourt Pulecio ist 1990 freiwillig in dieses Inferno zurückgekehrt und zwar nicht am Ende ihres Lebens, sondern erst dreißigjährig.
Als ehemalige Abgeordnete und heutige Senatorin gründete sie eine Partei namens Oxigeno Verte , «um die korrupte kolumbianische Politik mit sauberer Luft zu versorgen», wie sie ernsthaft erläutert. Daraus entsteht der Slogan: «Ingrid es oxigeno». Auf dem Foto ist sie abgebildet, mit Antismog-Maske und bunten Luftballons. Mit einhundertsechzigtausend Anhängern hat sie im Land den größten Zuspruch. Allerdings würde heute wohl niemand mehr über sie sprechen, wenn sie nicht ihre Autobiografie geschrieben hätte, die gerade in diesen Tagen auch in Italien erscheint. Der Titel lässt keinen Zweifel am Charakter der Autorin: “Probabilmente domani mi uccidono“ (in Deutsch: «Möglich, dass ich morgen umgebracht werde»).

Vielleicht etwas zu theatralisch?
«Die französische Fassung hat den Titel La rage au cœur– (deutscher Titel) die Wut in meinem Herzen» sagt sie zu ihrer Verteidigung. «Die italienischen Verleger wollten aber einen stärkeren Titel, so haben wir diesen gewählt. Außerdem entspricht das meinen Gefühlen und mit diesem Gedanken wache ich jeden Morgen auf und schlafe jeden Abend ein. Ich glaube nicht, dass das in irgendeiner Form etwas mit Heldenmut zu tun hat. Die Möglichkeit, morgen umgebracht zu werden ist eine sehr reale Perspektive und in einer breiten Bevölkerungsschicht dieses Landes äußerst präsent.»
Die Zeitungen haben Sie quasi in den Status einer Heiligen erhoben. Paris Match nannte Sie “Die Frau im Fadenkreuz”. Libération “Eine Heldin”. Le Figaro , “Die Pasionaria der Anden”. Le Nouvel Observateur schrieb «hätte Simon Bolívar, der libertador Lateinamerikas eine Nachfolgerin auswählen können, er hätte Sie gewählt».
Die Kolumbianischen Zeitungen haben sich dagegen etwas über sie lustig gemacht. Die Semana , das wichtigste Informationsblatt
des Landes hat sie auf der Titelseite als “Jeanne d’ Arc” abgebildet und auf der Fotomontage sind Sie als Jungfrau von Orleans dargestellt, zu Pferd, mit Rüstung und Lanze, bereit zum Angriff. In Wirklichkeit ist das Buch sehr gemäßigt und nicht so reiße-
risch wie sein Titel; das gilt auch für die Rezensionen. Ingrid
verhehlt nicht, dass sie Privilegien genoss. Auf Grund Ihres Status in der Oberschicht hatte sie sich einen gewissen Luxus bewahrt: sie ging beispielsweise einmal die Woche auf einem Gestüt von Freunden zum Reiten.
Ansonsten fehlt es ihr nicht an Ideen, und sie nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, diese zum Ausdruck zu bringen. «Die farc , die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens, wichtigste Guerillagruppe des Landes konnten vorsichtigen Schätzungen zufolge 1998 mit jährlichen Finanzierungen in Höhe von dreihundert Millionen Dollar rechnen, vorwiegend aus “Finanzmitteln” aus Drogenschmuggel und Lösegeldeinnahmen aus Entführungen und Erpressungen. Heute wissen wir, dass sie jährlich auf Finanzmittel zurückgreifen können, die annähernd eine halbe Milliarde Dollar betragen, während ihre Truppen von fünfzehntausend auf einundzwanzigtausend Mann angewachsen ist. Dies» so erklärt sie, «bringt den kolumbianischen Staat in ein totales Kräfteungleichgewicht gegenüber der Guerilla. Um entscheidende Ergebnisse erzielen zu können müsste nach unserer Kalkulation die Regierung zwischen drei und viertausend gut ausgebildete Militärs pro Kopf eines jeden Guerillas einsetzen, während heute höchstens proportional ein, höchstens zwei Soldaten auf ein FARC-Mitglied kommen. All das zudem verbunden mit wirtschaftlichen Anstrengungen, die für mein Land fast als unmenschlich zu bezeichnen sind. Man kalkuliert, dass sich ab 1990 die Kosten zur Bekämpfung des Terrorismus beinahe verzehnfacht haben. Wenn sie am Anfang noch ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes betrugen, so übersteigt die Quote heute schon zwei Prozent und hat inzwischen bereits die astronomische Summe von einhundert Millionen US-Dollar erreicht».
Ihre Feinde bezeichnen Sie als Fanatikerin, oder ist sie – nach eigenen Aussagen – eine Frau, die etwas für ihr Land tun will? Politische Kreise in Bogotà boykottieren ihre Kandidatur. Insgeheim fürchten sie sie jedoch. Omar, der Chef ihrer Leibwächter sagt: «Wenn du in diesem Land ehrlich bist, riskierst du dein Leben». Sie kontert: «Ich habe keine Angst zu sterben. Die Angst schärft nur meine Sinne».
Punkt eins ihrer Wahlcampagne ist der Kampf gegen Korruption. An zweiter Stelle steht der Bürgerkrieg: «Der Staat muss mit den linken Guerillas verhandeln und zwar ohne Wenn und Aber» sagt sie abschließend «und sich vom AUC, den rechtsgerichteten para-militärischen Gruppen distanzieren, die für die meisten Morde in diesem Land verantwortlich sind».
Aber wie kann man tagtäglich ein Leben unter Bedrohung und in Angst führen?
«Möglicherweise wird auch das zur Gewohnheit. Eine schreckliche Gewohnheit. Erst kürzlich» sagt sie abschließend mit ruhiger Stimme, «fand ich beim Öffnen der Post das Foto eines abgeschlachteten Kindes. Darunter stand: “Se ñ ora Senatorin, auch Ihr ist schon bezahlt. Für Ihren Sohn haben wir eine Sonderbehandlung reserviert…”»

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Aung San Suu Kyi
Friedensnobelpreisträgerin 1991

Frei von Angst








Auf Druck der UNO wurde Aung San Suu Kyi am sechsten März 2002 freigelassen. Die Nachricht ging um die Welt, auch wenn ihre Freiheit nur von kurzer Dauer war. Am dreißigsten Mai 2003 eröffnete eine Gruppe Militärs das Feuer auf ihren Konvoi, in dem sie sich zusammen mit vielen Anhängern befand. Es gab viele Tote und nur den Reflexen ihrer Fahrers Ko Kyaw Soe Lin war es zu verdanken, dass Aung San Suu Kyi sich retten konnte; allerdings wurde sie erneut unter Hausarrest gestellt.
Am Tag nach ihrer Freilassung im Mai 2002 gelang es mir auf Grund einiger Kontakte zu birmanischen Dissidenten, ihr eine Reihe von Fragen für ein „Ferninterview“ per Mail zukommen zu lassen.

*****
Die Wachen, die vor der Residenz von Aung San Suu Kyi, Leader der demokratischen Opposition von Birma Posten bezogen hatten, waren um zehn Uhr des gestrigen Tages still und heimlich wieder in ihre Kaserne zurückgekehrt. Durch diesen überraschenden Schachzug hatte die Militärjunta von Rangun die Restriktionen aufgehoben, die die Anführerin der Pazifisten oder “die Lady”, wie sie von der birmanischen Bevölkerung genannt wurde, in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkten. Die Friedensnobelpreisträgerin von 1991 stand nämlich bereits seit Juli 1989 unter Hausarrest.
Seit gestern Morgen zehn Uhr stand es Aung San Suu Kyi nach fast dreizehn Jahren frei, das Haus am See zu verlassen; sie durfte reden, mit wem sie wollte, sich politisch betätigen, sie durfte ihre Kinder sehen.
Aber ist die schreckliche Isolation der “passionierten Birmanin“ wirklich vorbei? Die im Exil befindliche Opposition glaubt noch nicht an die hochtrabenden Worte der Militärjunta, die erklärt hatte, sie ohne Bedingungen freizulassen.
Die birmanischen Exilanten warten ungläubig und beten. Seit gestern hat nämlich die birmanische Diaspora in allen buddhistischen Tempeln Thailands und Ostasiens zu Gebetszeremonien aufgerufen.
Sie, die Lady , hat nach ihrer Freilassung keine Zeit verloren und sich sofort im Auto zu ihrer Parteizentrale begeben, zum
Hauptquartier der Nationalen Liga für Demokratie (NLD), die bei den Wahlen von 1990 (mit achtzig Prozent aller Stimmen) eine überwältigende Mehrheit gewinnen konnten, während die Regierungspartei der Nationalen Einheit sich nur zehn der 485 Sitze sichern konnte. Die Militärregierung annullierte das Wahlergebnis, verbot alle Aktivitäten der Opposition, unterdrückte gewaltsam alle Straßendemonstrationen und die Oppositionsführer wurden ins Gefängnis geworfen oder ins Exil verbannt. Das neue Parlament wurde nie einberufen.

Die italienische Ausgabe ihrer Autobiographie trägt den Titel “Libera dalla paura”. [frei von Angst] Entspricht das ihren aktuellen Gefühlen?
Jetzt fühle ich mich zum ersten Mal nach über zehn Jahren frei, frei im physischen Sinne. Insbesondere frei zu handeln und zu denken. Wie ich in meinem Buch schreibe fühle ich mich schon seit etlichen Jahren “frei von Angst”. Seit ich begriffen habe, dass der in meinem Land herrschende Machtmissbrauch mich verletzen und demütigen konnte, ja mich sogar hätte umbringen können, aber das konnte mir keine Angst mehr machen.

Heute, kaum in Freiheit, haben Sie sofort erklärt, dass man keinerlei Bedingungen an Ihre Freilassung geknüpft hat und dass die an der Macht befindliche Militärjunta Ihnen gestattet hat, auch ins Ausland zu reisen. Glauben Sie das wirklich?
Ein Sprecher der Junta hat in einer gestern veröffentlichten schriftlichen Verlautbarung angekündigt, dass «für das Volk von Myanmar und für die internationale Gemeinschaft eine neue Seite im Buch der Geschichte aufgeschlagen werden soll». In den letzten Monaten wurden hunderte von politischen Häftlingen freigelassen und die Militärregierung hat mir versichert, dass man auch weiterhin diejenigen freilassen wird, die – wie sie es ausdrücken – “keine Gefahr für die Gemeinschaft darstellen“. Alle Menschen hier wollen das nur allzu gerne glauben und hoffen, dass dies echte Anzeichen für einen Wandel sind. Die Rückkehr auf diese Straße in Richtung Demokratie, die mit dem Staatsstreich von 1990 plötzlich und gewaltsam unterbrochen wurde, aber im Herzen des birmanischen Volkes stets präsent war.

Jetzt, da Sie frei sind, befürchten Sie da nicht ausgewiesen- und von ihren Anhängern getrennt zu werden ?
Es sollte jedem klar sein, dass ich nicht gehe. Ich bin Birmanin und habe die britische Staatsbürgerschaft ausgeschlagen, um dem Regime keinen Angriffspunkt zu bieten. Ich habe keine Angst. Das gibt mir Kraft. Aber das Volk hungert, daher die Angst, die die Menschen schwach werden lässt.

Sie haben mehrfach und mit Nachdruck die Einschüchterungsversuche des Militärregimes gegenüber den Sympathisanten für die Demokratische Liga angeprangert. Gibt es die auch heute noch?
Wir sind in Besitz von Daten, die besagen, dass allein im Jahr 2001 über tausend militante Kämpfer der Opposition auf Geheiß der Generäle des slorc [ State Law and Order Restauration Council/Name der Spitze der Militärjunta] festgenommen wurden. Viele andere sahen sich gezwungen, der Liga abzuschwören, nachdem sie eingeschüchtert und bedroht wurden. Für diese Art von illegalen Pressionen gibt es keine Rechtfertigung. Die Strategie erfolgt flächendeckend nach demselben Muster: Man setzt Einheiten staatlicher Funktionäre auf sie an, die “von Tür zu Tür” gehen und die Bürger auffordern, die Liga zu verlassen. Den Familien, die sich weigern, droht man mit Repressalien wie dem Verlust des Arbeitsplatzes und oftmals sind es offene Drohungen. Viele Parteizentren wurden geschlossen und tagtäglich kontrollieren die Militärs die Zahlen der ausgetretenen Mitglieder. Das beweist, wie groß die Angst vor der Liga ist. Die Hoffnung, die wir alle im Augenblick haben ist die, dass dies alles wirklich und wahrhaftig ein Ende gefunden hat.

Hat Sie die heutige Wende, der Paukenschlag ihrer Befreiung, überrascht oder war es ein von den Militärs sorgfältig geplantes und vorbereitetes Manöver, das aus Gründen des “Ansehens” in aller Welt erfolgte, quasi ein Vorhaben mit „Außenwirkung“?
Von ’95 bis heute kam es zu einer schrittweisen Lockerung der Isolation von Birma. Die Universität von Rangun wurde wieder geöffnet und möglicherweise haben sich die Lebensumstände leicht verbessert; dennoch wird der Gang der Geschichte von Birma im täglichen Alltag immer noch von Gewalt, Illegalität und Machtmissbrauch, sowohl gegen Dissidenten als auch gegen ethnische Minderheiten (Shan, We, Kajn) bestimmt, die sich nach Autonomie sehnen, sowie ganz generell, gegen die Mehrheit der Bevölkerung des Landes. Die Militärs haben immer mehr Probleme, sowohl intern als auch international betrachtet. In der Zwischenzeit betreiben sie weiter Drogenhandel, sofern es ihnen nicht gelingt, eine andere, ebenso lukrative Einnahmequelle aufzutun. Nur welche? Die Nation gleicht praktisch einem großen Panzerschrank, von dem nur das Militär die Kombination kennt und es wird nicht leicht werden, die Generäle davon zu überzeugen, diesen Reichtum mit den anderen fünfzig Millionen Birmanen zu teilen.

Wie sehen aktuell die Bedingungen für eine Dialogbereitschaft aus ?
Wir werden so lange keine wie auch immer geartete Initiative akzeptieren - die Rede ist auch von Wahlen, die von den Generälen einberufen werden – bis das 1990 gewählte Parlament nicht zusammengetreten ist. In meinem Land herrscht auch weiterhin die Angst. Einen echten Frieden wird es so lange nicht geben, so lange es kein echtes Engagement gibt, im Namen aller, die für ein freies und unabhängiges Birma gekämpft haben, auch wenn ihnen bewusst war, dass es nicht möglich sein würde, Frieden und Versöhnung für alle Zeiten zu sichern und dass es daher notwendig sein würde, die Anstrengungen im Sinne von mehr Wachsamkeit zu verdoppeln, mehr Mut zu beweisen und den wahren, aktiven aber gewaltlosen Widerstand im eigenen Herzen zu entwickeln.

Was kann die Europäische Union tun, um dem birmanischen Volk zu helfen?
Weiterhin Druck machen, damit die Generäle merken, dass die Welt ihnen auf die Finger schaut und dass sie nicht ungestraft weitere Schändlichkeiten begehen können.
*****
Am dreizehnten November 2010 erlangte Aung San Suu Kyi endgültig die Freiheit. 2012 bekam sie einen Sitz im birmanischen Parlament und am sechzehnten Juni desselben Jahres konnte sie den Friedensnobelpreis entgegennehmen. Nachdem die Regierung ihr endlich erlaubte hat, ins Ausland zu reisen, konnte sie nach England fahren, um nach vielen Jahren ihren Sohn wiederzusehen.
Am sechsten April 2016 wurde sie zur Staatsrätin (ziviles Staatsoberhaupt) von Myanmar ernannt.
Birma, die heutige Republik der Union Myanmar, ist noch immer kein völlig freies Land und seine Geschichte wird von der Diktatur der Vergangenheit belastet, die auch Auswirkungen auf die Zukunft der Nation hat, aber die Öffnung des Landes der tausend Pagoden lässt Raum für mehr als nur die Hoffnung auf Freiheit und Demokratie.
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Lucia Pinochet



“ Asasinar, torturar y hacer desaparecir ”
[Morden, foltern und verschwinden lassen]









Santiago de Chile, März 1999 .
«Pinochet? Für die Chilenen ist er wie ein Krebsgeschwür, ein Stück dunkle Vergangenheit, das sie male oscuro nennen..., etwas Schmerzhaftes. Etwas, von dem man weiß, dass man es hat, aber sich fürchtet, darüber zu reden, auch nur den Namen auszusprechen. Am Ende tut man so, als habe es ihn nie gegeben. Vielleicht, weil wir hoffen, dass wir durch Ignorieren erreichen, dass dieses Böse von selbst verschwindet, ohne dass wir ihm in die Augen schauen müssen...» Die junge Frau, die im Cafè El Biografo , einem Treffpunkt für Dichter und Studenten im malerischen Barrio von Bellavista in Santiago bedient, einem Künstlerviertel mit vielen alten Restaurants und farbenfrohen Häusern ist gerade mal etwas älter als Zwanzig. Vermutlich war sie nicht einmal geboren, als General Augusto Pinochet Ugarte, der “Senador vitalicio”, wie sie ihn hier nennen, befahl, seine Gegner “umzubringen, zu foltern und verschwinden zu lassen” – wie es die Familienangehörigen der über dreitausend Verschwundenen in die Welt hinausschreien - oder, wie seine Bewunderer es ausdrücken, während er mit eiserner Faust versuchte, Chile von der Bedrohung durch den internationalen Bolschewismus zu befreien. Sie will mir ihre persönliche Meinung zu Pinochet sagen und sie hat eine klare Vorstellung: «Pinochet ist hier allgegenwärtig. Egal, ob man pro oder contra ist, in jedem Detail des täglichen Lebens von Chile ist der General präsent. Natürlich in erster Linie in der Politik, klar. Aber auch im Gedächtnis aller, in den Erzählungen meiner Eltern, in den Vorträgen der Lehrer in der Schule. Und als Titelfigur in Romanen und Büchern... im Kino. Ja, auch im Kino. Hier in Chile kann man nur pro oder contra Pinochet sein. Und wir, wir tun so, als ob er nicht existieren würde...”.
Tja, dieser eigensinnige ältere Herr, der «mit der Würde eines Soldaten» der britischen Justiz entgegentritt («...armer alter Mann» flüstert mir der Portier des “Circulo de la Prensa” ins Ohr, einem Ort, an dem die engstem Vertrauten des Senador vitalicio , in den dunklen Jahren der Militärdiktatur aufkreuzten, um unangenehme Journalisten “abzuholen“, direkt hinter dem Palast la Mondea, wo Salvador Allende starb, gejagt nach dem Staatsstreich des Generals), dieser “arme alte Mann” der mittlerweile im Chile des 21. Jahrhunderts zum sperrigen Koloss geworden ist, der mit seinem Umfang jedes Viertel, jeden Winkel, jede Gasse von Santiago füllt, der etwas unentschlossen wirkt, beinahe introvertiert.
Aber er ist immer noch das lebende Gedächtnis dieses Landes, ein immenses, einschneidendes, unangenehmes Gedächtnis für seine Anhänger und nervig für seine Gegner und Kritiker. Ein Gedächtnis, das sich ausweitet, klebrig wie der gallertartige Blob [A.d.Ü. “The Blob“, US-amerikanischer Horrorfilm] und alles umschließt: Leben, Hoffnungen und Schmerzen – die Vergangenheit und die Zukunft der Chilenen.

Pinochet wurde im Oktober 1998, wenige Monate nach seiner Abdankung als Chef des Heeres und eben Senator (auf Lebenszeit) geworden, festgenommen und unter Hausarrest gestellt, während er sich zu medizinischen Behandlungen in London aufhielt. Zunächst in der Klinik, in der er sich einer Rückenoperation unterzogen hatte und später in der von ihm angemieteten Residenz.
Ein spanischer Richter, Baltasar Garzón hatte den internationalen Haftbefehl wegen völkerrechtswidrigen Verhaltens unterschrieben. Die Anklagepunkte umfassten annähernd einhundert Fälle von Folter zu Lasten spanischer Staatsbürger und einen Fall von konspirativem Vorgehen zum Zweck von Folter. Großbritannien hatte erst kürzlich die Internationale Anti-Folter Konvention unterzeichnet und sämtliche Vorwürfe bezogen sich auf Taten, die während der letzten vierzehn Monate seiner Herrschaft verübt
worden waren.
Die chilenische Regierung protestierte sofort gegen die Verhaftung, die Auslieferung und gegen einen Prozess. Es entstand ein hartnäckiger Rechtsstreit vor der Kammer der Lordrichter, dem obersten britischen Gerichtsorgan, der sechzehn Monate andauerte. Pinochet berief sich auf seine diplomatische Immunität als ehemaliger Staatschef, aber diese wurde ihm von den Lords angesichts der Schwere der erhobenen Anklagen abgesprochen und dem Auslieferungsersuchen wurde stattgegeben, allerdings mit diversen Auflagen und Einschränkungen. Kurz darauf ermöglichte jedoch ein zweiter Urteilsspruch derselben Kammer der Lordrichter Pinochet der Auslieferung auf Grund seines prekären Gesundheitszustandes zu entgehen (er war zum Zeitpunkt seiner Festnahme zweiundsechzig Jahre alt), und zwar aus “humanitären” Gründen. Nach einigen medizinischen Untersuchungen gewährte der damalige britische Außenminister Jack Straw Pinochet nach beinahe zwei Jahren Hausarrest oder Klinikaufenthalt im März 2000 die Rückkehr in sein Land.

Auf dem Höhepunkt dieses verwickelten internationalen juristischen Tauziehens reiste ich Ende März 1999 nach Santiago de Chile, um für die Tageszeitung Il Tempo über die aktuelle Ent-wicklung zu berichten und um die älteste Tochter des Senador vitalicio , Lucia zu treffen. Der High Court in London hatte Pinochet soeben die Immunität verweigert und das Flugzeug, dass – getragen von der Hoffnung der Familie und den Anhängern des Generals – geschickt wurde, um ihn nach Chile zurückzubringen, kam ohne ihn zurück.
Die Reaktion auf den Straßen von Santiago ließ nicht lange auf sich warten. In der chilenischen Hauptstadt war am vierundzwanzigsten März das Urteil mit angehaltenem Atem erwartet, worden, auch wenn man keine Panzersperren aufgebaut hatte. Während eine diskrete Präsenz von “Carabineros” die neuralgischen Punkte der chilenischen Hauptstadt kontrollierte – den Präsidentenpalast der Moneda, die Botschaften von Großbritannien und von Spanien und die Amtssitze der Organisationen pro und contra des Senador vitalicio – verfolgten die Chilenen die Ereignisse im Minutentakt dank der ausführlichen Medienberichterstattung durch die nationalen Netzwerke. Die Aufmerksamkeit galt einem historischen Ereignis, per Satellit direkt mit London, Madrid und diversen Standorten in Santiago verbunden, das gegen sieben Uhr morgens begonnen hatte und den ganzen Tag über andauerte. Weniger als eine Stunde nach Entscheidung des Lordgerichts, gegen zwölf Uhr Ortszeit brachten zwei Nachmittagszeitungen bereits eine Sonderausgabe. Ein Blatt betitelte die Reportage auf der Titelseite mit folgender Schlagzeile: «Pinochet hat verloren und gewonnen».
In den entscheidenden Momenten jenes Vormittags versammelten sich viele Bürger von Santiago um die öffentlichen
Fernseher, die man überall in den Lokalen installiert hatte, in allen Filialen von McDonald's bis zu den kleinen Gasthäusern. In einem großen Warenhaus des Zentrums war es beinahe zu einer Revolte von erbosten Kunden gekommen, die den Direktor verbal attackierten und forderten, den Fernsehsender auf die Direktleitung nach London einzustellen.
Am Nachmittag kam es zu ersten Spannungen, nachdem zuvor alles ruhig geblieben war. Um sechzehn Uhr Ortszeit Santiago kam es im Zentrum der Hauptstadt, an der Kreuzung zwischen 'Alameda
und calle Miraflores zu ersten Zusammenstößen zwischen Studenten und der Polizei. Die Bilanz: etwa zehn Verletzte und an die fünfzig festgenommene Studenten.
Es gab viele Appelle und überall wurde zur Ruhe aufgerufen, insbesondere von Seiten der Regierungsvertreter. Es gab auch Drohreden, wie die von General Fernando Rojas Vender, (der Pilot der den Präsidentenpalast der Moneda bombardierte), Kommandant der chilenischen Luftwaffe, der fahnentreuen FACH, die am Dienstag zuvor noch öffentlich behauptet hatte, dass sich im Land ein Klima bilde, «ähnlich wie beim Staatsstreich von '73»; sie waren von der Regierung massiv kritisiert und zensiert worden und man hatte Rojas sogar zu einem öffentlichen Dementi gezwungen.
Dann richtete sich alle Aufmerksamkeit auf die Erklärung des britischen Justizministers Straw. Um seine Figur herum hatte sich bereits ein Propagandaapparat, bestehend aus Pinochet-Anhängern gebildet, die darauf setzten, dass «Straw dasselbe Ende wie Lord Hofmann beschieden sei» [Anm.d.Red.: man hatte Hoffmann, der einer der 5 Richter war, die über die Immunität Pinochets urteilen sollten vorgeworfen, als “Anwalt in eigener Sache“ agiert zu haben, da er seine enge Beziehung zu Amnesty International nicht öffentlich gemacht hatte] oder die versuchten, den britischen Minister durch den Vorwurf zu diskreditieren, er habe in jungen Jahren, als er als Dreißigjähriger Chile bereist hatte, starke und öffentliche Sympathien für die chilenische Linke gezeigt. Es gab sogar Stimmen, die behaupteten, Beweise für ein freundschaftliches Treffen zwischen dem jungen Straw und dem damaligen Präsidenten Allende vorlegen zu können, wobei es um eine Einladung zum Tee ging.
Kurzum, zu behandelnde Themen gab es vermutlich viele, dachte ich, während ich mich zu Fuß auf den Weg zum Haus von Lucia Pinochet machte.

*****
Inés Lucia Pinochet Hiriart ist die älteste Tochter. Eine schöne Frau, der man ihr Alter nicht ansieht, ganz zu schweigen von ihrem Familiennamen. Ein banaler Gipsverband war der Grund dafür gewesen, weshalb sie ihren Vater nicht zusammen mit ihren Brüdern nach London begleiten konnte. So musste sie unverhofft in Santiago zurückbleiben und ihr fiel die Aufgabe zu, den Senador zu vertreten und vor allem in diesem nicht ganz einfachen Moment zu verteidigen.
In ihrem schönen Haus in einem der höher gelegenen Viertel der Stadt, wo durch die offenen Fenster die Stimmen der Demonstranten dringen, die Slogans für ihren Vaters skandieren, findet das Gespräch mit ihr in Begleitung ihrer drei Söhne, Hernan, Francisco und Rodrigo statt. Wir reden fast eine Stunde über die “brisanten” Themen, die die Geschicke ihres Vaters und unausweichlich auch die Zukunft von ganz Chile betreffen.

Wie denken Sie über die “humanitäre” Entscheidung zugunsten Ihres Vaters?
Es wäre mir lieber gewesen, wenn man meinem Vater die uneingeschränkte Immunität gewährt hätte, die ihm als ehemaliger Staatschef eines souveränen Staates zusteht. Aus einem Strafverfahren ist eine politische Diskussion über angebliche Fälle von Folter, diverse Verbrechen und Völkermord geworden. Man hat dem Druck der Sozialisten nachgegeben und Personen geglaubt, die vorgeben, die Menschenrechte verteidigen zu wollen.

Haben Sie mit Ihrem Vater gesprochen? Wie hat er reagiert?
Mein Vater ist über diese Lösung nicht glücklich. Man hatte ihm die Möglichkeit einer „humanitären“ Entscheidung in Aussicht gestellt. Und er ist mit Sicherheit nicht glücklich darüber, dass alles in den Händen von Minister Jack Straw liegt...

Derselbe, der Chile 1966 besucht hatte und von dem man hier munkelt, er sei bei Salvador Allende zum Tee gewesen?
Genau der und das war uns lange vorher bekannt. Es sollte reichen, sich vor Augen zu halten, dass Straw nach der Verhaftung meines Vaters in London erklärte, für ihn sei ein Lebenstraum in Erfüllung gegangen.

Man hat sich also jetzt von der juristischen Ebene auf die Humanitäre begeben...
Es war immer schon ein Politikum! Es wäre Augenwischerei gewesen, von einem Gerichtsverfahren zu sprechen, denn London ist nicht der Ort, um über Folter zu diskutieren, sondern allenfalls über die Immunität eines Präsidenten und über territoriale Souveränität.

Viele Kommentatoren haben sich dahingehend geäußert, dass es sich um ein historisches Urteil handelt, das einen juristischen Präzedenzfall von bedeutender Tragweite bildet. Sehen Sie das auch so?
Sicher, es ist ja schließlich das erste Mal, dass eine solche Situ-ation zur Debatte steht. Sie dürfen nicht vergessen, dass es bereits seit Jahren Internationale Abkommen gibt, aber es gab nie weder ein gerichtliches Verfahren noch einen eigenständigen Gerichtshof, um über Menschenrechtsverstöße zu richten und diese gegebenenfalls zu bestrafen. Daher muss mein Vater für dieses Experiment den Kopf hinhalten!

Wie steht es um den Gesundheitszustand des Generals?
Man darf nicht vergessen, dass er dreiundachtzig ist und sich soeben einer schwierigen Operation unterzogen hat. Er erholt sich langsam aber der Diabetes lässt ihn nicht zur Ruhe kommen und er muss täglich Behandlungen und ärztliche Kontrollen über sich ergehen lassen.

Fürchten Sie im Fall einer Auslieferung um seine Gesundheit?
Ja, denn das könnte seinen Zustand gravierend verschlechtern. Ich sorge mich vor allem um die Gesundheit meiner Mutter. Sie war nicht in der Lage, die dramatischen Phasen dieser Geschichte mitzuverfolgen. Als sie den Spruch der Lordrichter im Fernsehen. verfolgte, erlitt sie einen Schwächeanfall und die Ärzte mussten Sie mit verschiedenen Injektionen behandeln, um die Blutdruckschwankungen in den Griff zu bekommen...

Hat die britische Justiz Sie enttäuscht?
Nein, denn ich glaube, dass es sich hier nicht um eine Affäre handelt, die per se mit den Engländern in Verbindung steht. Verantwortlich sind vielmehr die aktuellen Machthaber in Großbritannien und die sind, wie man ja weiß, linksgerichtet...

Glauben Sie, dass es auch in England Menschen gibt, die für Ihre Sache eintreten?
Viele Engländer sind auf unserer Seite. Das wurde mir bewusst, als ich kürzlich dort war. Viele Menschen sind mit Solidaritätsbekundungen auf mich zugekommen. Und ihr Widerstand in dieser Angelegenheit, mal abgesehen von der Sache, die meinen Vater betrifft, kostet auch den englischen Staatsbürger sehr viel Geld aus der Staatskasse.

Hat Ihrer Ansicht nach der ehemalige Präsident Frei energisch genug reagiert?
Ich hätte mir ein energischeres Vorgehen gewünscht. Er hat jedenfalls einiges getan, das muss ich anerkennen und das schätze ich an ihm. Natürlich hätte ich mir einen Vorstoß seinerseits gewünscht, um die Internationale Gemeinschaft dazu zu bringen, unserem Land den Respekt entgegenzubringen, den es verdient. Es ist nicht hinnehmbar, dass man einen Ex Staatschef, einen Senator der Republik und einen Ex Befehlshaber des Heeres im Ausland festhält.

Wie werden Sie das Ereignis feiern, falls Ihr Vater nach Chile zurückkehrt?
Im Kreise der Familie. Das größere Fest wird seiner Rückkehr in die Heimat vorbehalten sein.

Wird er nach seiner Rückkehr sofort in den Senat zurückkehren oder, wie manch einer jetzt schon behauptet, sich für einige Zeit in eine seiner Residenzen nach Bucalemu, El Melocoton oder nach Iquique zurückziehen, bis sich die Gemüter beruhigt haben?
Ich verstehe ehrlich gesagt überhaupt nicht, weshalb sein Fall die Gemüter hier in Chile so sehr in Aufruhr versetzt. Mein Vater möchte alles andere sein als der Grund für irgendwelche Probleme. Was er am wenigsten möchte, sind Spaltungen und Risse in der chilenischen Gesellschaft. Das einzige, was ihm am Herzen liegt, ist, dass Chile endlich zu einem wirklichen Friedensprozess findet und zu einer nationalen Aussöhnung, um so den schwierigen Weg zur wirtschaftlichen Entwicklung fortsetzen zu können. Daher könnte ich mir vorstellen, dass er sich, wenn er es zu diesem Zweck für richtig hält, auch entscheiden könnte, nicht direkt in den Senat zurückzukehren.

Hat er darüber mit Ihnen gesprochen?
Nein, es ist meine Sicht der Dinge. Was er mir gegenüber stets wiederholt hat ist sein großer Wunsch, zurückzukehren, ohne Probleme zu verursachen. Mein Vater möchte einen Koeffizienten für Einigung verkörpern, nicht für Spaltung.

Glauben Sie, dass Ihr Vater bereit wäre, sich der chilenischen Justiz zu stellen?
Ich bin absolut davon überzeugt, dass mein Vater bereit ist, jede Frage zu beantworten, die die chilenische Justiz ihm zu stellen gedenkt. Das bedeutet nicht, dass er sich einer Schuld bewusst ist. Er fühlt sich nicht schuldig und er weiß, dass er nicht schuldig ist. Aber, ich wiederhole, er respektiert die chilenische Justiz und hat sie immer respektiert.



Stimmen Sie denn Aussagen ihres Bruders Marco Antonio zu, dass es während der Regierungszeit Ihres Vaters Missbrauch gab?
Mein Bruder und ich sprechen nicht immer dieselbe Sprache, aber ich habe stets die Meinung vertreten, dass es Anlässe gab, bei denen es zu Machtmissbrauch kam. Man darf allerdings nicht vergessen, dass in diesen schwierigen Zeiten der bewegten Geschichte Chiles ein regelrechter Krieg herrschte, ein Untergrundkampf zwischen zwei politischen Lagern. Deshalb kam es zu Exzessen auf beiden Seiten.

Glauben Sie, Ihr Vater hätte Grund, um Verzeihung zu bitten?
Mein Vater ist sich keiner Schuld bewusst. Er fühlt sich unschuldig, wofür sollte er demnach um Verzeihung bitten?

Teilen Sie die jüngsten Behauptungen von General Fernando Rojas Vender denen zufolge in Chile eine Atmosphäre herrscht, die derjenigen zu Zeiten der Volksfrontregierung [A.d.Ü.: auch Regierung der „Volkseinheit“ genannt] ähnelt?
General Rojas hat lediglich die Wahrheit gesagt. Es stimmt, dass das Land in sich zerrissen ist und die Möglichkeit besteht, dass es – mit Riesenschritten – auf eine ziemlich unsichere und dramatische Zukunft zusteuert.

Was halten Sie von der Haltung der Streitkräfte in Bezug auf die Inhaftierung Ihres Vaters. Man spricht von einer zunehmenden Nervosität...
Wenn ich mir vorstelle, ich wäre ein Teil der Streitkräfte und man würde einen ehemaligen Oberkommandierenden der Armee meines Landes im Ausland verhaften, ich wäre zutiefst empört. Ich denke, ich würde das Geschehen als einen Anschlag auf die Souveränität meines Landes deuten und auf den Mangel an Respekt gegenüber der Armee. Und ich denke auch, dass das Militär bis-lang sehr viel Geduld bewiesen hat. Wäre ich eine von ihnen gewesen, ich weiß nicht, ob ich das von mir hätte behaupten können.

Was erwarten Sie von der Armee?
Ich erwarte nichts weiter, als dass sie nach ihrem Gewissen handelt.

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Mireya Garcia



Ich kann nicht vergeben










Während im Präsidentenpalast la Moneda noch der von Präsident Frey eilig einberufene Nationale Sicherheitsrat tagte, wurde Chile, das noch unter dem Eindruck des widersprüchlichen Urteils der Londoner Richter in Sachen Pinochet stand, von einer neuen Schreckensmeldung erschüttert, die die allgemeine Anspannung noch erhöhte: die Meldung von der Entdeckung eines neuen illegalen Inhaftierungszentrums aus der Zeit der Militärdiktatur, wo man nach den Enthüllungen des Bischofs von Punta Arenas, Monsignore Gonzales die Überreste von hunderten verschwundener Personen gefunden hatte.
Das Gefangenenlager befand sich im äußersten Norden von Chile, einhundertzehn Kilometer von der Hauptstadt der gleichnamigen Region Arica entfernt, in einer verlassenen Gegend und bereits seit geraumer Zeit hatte man dessen Existenz dort vermutet. Jetzt erfuhr man, dass die örtlichen Justizbehörden seit einigen Wochen in streng geheimer Mission in diesem Zentrum ermittelten. Trotz einer vom zuständigen Richter der dritten Strafkammer von Arica, Juan Cristobal Mera in diesem Fall verhängten Nachrichtensperre sickerte durch, dass die Massengräber mit den menschlichen Überresten sich im Küstenbereich der Gemeinde Camarones befanden, in unmittelbarer Nähe des alten Friedhofs der Kleinstadt, und das die Gegend von den Behörden “als leicht zugänglich” beschrieben wurde.
«Es gilt klarzustellen», wie der Gouverneur Nuñez Journalisten gegenüber eilig betonte, «dass die geografischen Koordinaten nicht sehr genau sind, aber wir wissen, dass der Richter bereits die Existenz von mindestens zwei Massengräbern überprüft hat. Sollte es zu einer eventuellen Exhumierung der Überreste der desaparecidos kommen, werden wir selbstverständlich dafür sorgen, dass diese in Gegenwart von Minister Juan Guzan Tapia erfolgt».
Die Hinweise, die zur Entdeckung dieses Gefangenenlagers geführt hatten waren Enthüllungen des Bischofs Gonzalez zu verdanken, der wiederum die Informationen zu diesem Fall nach eigenen Angaben «unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses» erhalten haben will. Unklar war noch, auf wie viele Lager sich diese Informationen bezogen.
Ich beschloss daher, der Sache nachzugehen und wollte mehr über die schreckliche Realität der chilenischen desaparecidos erfahren, indem ich ein Treffen mit der Leiterin des Familienverbands Verschwundener arrangierte.

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Gefangen genommen, gefoltert, in die Verbannung geschickt: Mireya Garcia hat während des Staatsstreichs von Pinochet mehr als nur ihre Jugend eingebüßt. Auch ihr Bruder ist verschwunden – inzwischen seit über einem viertel Jahrhundert. Heute ist Mireya Vizepräsidentin des Familienverbandes inhaftierter “desaparecidos” und für sie hat der Kampf auf der Suche nach der Wahrheit nie geendet.
Der Ort, an dem sie sich treffen – Tag für Tag schon seit Jahren – die Mütter und Großmütter, die alle ihren eigenen Schmerz im Herzen tragen, jede von ihnen mit dem Bild ihres verschwundenen Sohnes, Bruders, Ehemanns oder Enkels ist ein blaues Wohnhaus in der Nähe des Stadtzentrums von Santiago. Im Hof sind die Wände voll mit Fotos der desaparecidos. Für jeden von ihnen existiert ein vergilbtes Foto, zusammen mit stets demselben Satz, derselben Frage: “ Donde estan? “ «Wo sind sie?». Ab und zu wird diese Bilderwand, diese Serie von Fotos und derselben immer wiederkehrenden Frage, auf die es keine Antwort gibt, von einer Rose oder einer Blume unterbrochen.

Welche Erinnerungen haben Sie an jene Jahre des Putsches?
Eine sehr vage Erinnerung. Ich war zu Hause und erinnere mich noch, dass das Radio Militärmusik brachte. Dann waren da viele Männer in Uniformen auf der Straße. Es war mir damals nicht bewusst, dass an jenem Tag die Geschichte meines Landes, die Geschichte Chiles einen schweren Schlag erlitten hat ...

Wie alt waren Sie damals?
Ich gehörte zur sozialistischen Jugend von Concepcion, einer Stadt einige hundert km südlich von Santiago. Ich hätte gerne studiert, geheiratet, eine Familie gegründet, Kinder gehabt … Stattdessen stürzte alles auf mich ein, schnell, viel zu schnell. Heute kann ich über das Geschehene relativ ruhig reden, aber viele Jahre war ich nicht in der Lage, mir diese Tage ins Gedächtnis zu rufen. Nicht einmal gemeinsam mit meiner Familie...
Sie kamen eines Abends und holten uns. Ich war mit meinem Bruder allein zu Hause ...Ich wurde festgenommen (wenn man das so sagen kann) und anschließend gefoltert. Ehrlich gesagt kann ich bis heute nicht über diese Demütigungen sprechen...
Meinen Bruder habe ich nie wieder gesehen. Später, als mir zusammen mit meiner Familie die Flucht ins Ausland gelang, erfuhr ich in Mexiko vom endgültigen Verschwinden von Vicente. Ich erinnere mich an das Gefühl der schrecklichen Angst, daran, dass er vielleicht noch am Leben war, irgendwo, und ich war hier, tausende von Kilometern entfernt, ohne die Möglichkeit, nach Chile zurückzukehren, ohne dass ich ihn suchen, ihm helfen konnte.

Kam Ihnen damals die Idee, diesen Verein zu gründen?
Ja. In Mexiko waren wir viele, im Exil, alle hatten wir Verwandte, die man während der Diktatur von Pinochet verschwinden ließ. Wir gingen auf die Straße. Eine sehr unbedeutende Waffe im Kampf gegen eine so grausame Diktatur, aber so wurden die Menschen wenigstens auf uns aufmerksam und wurden informiert.

Wann gelang es Ihnen, nach Chile zurückzukehren?
Es dauerte fünfzehn Jahre. Ich fühle mich heute noch als Exilantin. Eine Fremde im eigenen Land.

Was konnten Sie über das Schicksal Ihres Bruders in Erfahrung bringen?
Sehr wenig. Nur, dass er in ein geheimes Gefangenenlager und Folterzentrum namens Cuartel Borgoño deportiert wurde, das heute nicht mehr existiert. Sie haben alles zerstört und mit Bulldozern plattgewalzt, um alle Spuren und Beweise zu vernichten.

Glauben Sie, dass Pinochet alleine für all das verantwortlich ist?
Nein. Und das ist die unglaubliche Seite von Chile. In den Archiven der Gerichte gibt es anhängige Strafverfahren gegen mehr als dreißig Personen, im Rang eines Generals, oder Oberst, Politiker und einfache “Handlanger” des Todes, denen man Folter, Mord und Gewalttaten jeglicher Art vorwirft. Es gehört zu der absurden Seiten meines Landes, dass jeder weiß, dass Minimum dreitausend Menschen spurlos verschwunden sind, während lediglich das Versschwinden von elf davon gerichtlich festgestellt wurde. Es ist so, als würde das ganze Land Bescheid wissen und einfach wegschauen...

Jemand hat einmal gesagt, dass die Justiz kein Universalkonzept ist, sondern vom jeweiligen historischen Augenblick abhängig ist, von den Umständen, die in einem Land herrschen…schließen Sie sich dieser Meinung an?
Nein, ich glaube, dass Begriffe wie Würde und Respekt vor der Justiz universelle Konzepte sind. Warum sollte man sonst feierliche Menschenrechtskonventionen oder Anti-Folter-Verordnungen unterzeichnen?

Wie haben Sie die Geschehnisse in Verbindung mit der Festnahme Pinochets erlebt?
Als ein ständiges Auf und Ab zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen. Die Ereignisse von London haben deutlich gemacht, dass Chile immer noch ein zutiefst gespaltenes Land ist. Ein Land, in dem das Militär noch immer große Macht hat und ent-
scheidet, wenn es um das politische und institutionelle Gleich-gewicht geht. Ein anderes Detail hat mich beinahe verblüfft. Pinochet hat es in all den Jahren verstanden, sich seine eigene Straffreiheit mit fast manischer Akribie zu sichern. Er hat sogar eine Verfassungsänderung durchgesetzt, damit ihn niemand belangen kann. Ich bin ganz sicher, wenn man ihm nicht im Aus-land den Prozess macht, hier in Chile wird er nie vor Gericht gestellt werden. In Chile, niemals.

Was bedeutet für Sie das Wort Vergebung?
Ich denke, es ist etwas absolut Persönliches, etwas, das für jedes Individuum etwas anderes bedeutet. Ich kann den Henkern meines Bruders nicht vergeben. Man könnte meinen, ich sei
rachsüchtig. Aber das stimmt nicht. Ich will keine Vergeltung.
Ich will einzig und allein die Wahrheit wissen.



9

Kenzaburo Oe
Literaturnobelpreis 1994


Der stille Schrei








Im Frühjahr 2001 hielt ich mich wegen einer Reihe von langer Hand geplanter Reportagen in Japan auf. In einem kleinen Dorf im äußersten Norden, dick vermummt, inmitten von Schneemassen sah ich dem maroden Autobus nach, der mich in dieses eisig kalte Fleckchen Erde auf dem japanischen Eiland gebracht hatte und der nun rasch davon fuhr und nichts als eine Fontäne von Schneematsch zurückließ. Mir fielen die berühmten Worte von Bruce Chatwin ein: What Am I Doing Here?/Was tue ich hier?
Wie schon Tiziano Terzani schrieb «Man mag es kaum glauben, aber die Japaner sind davon überzeugt, dass sie auf ihrer Insel alles haben». Ich sollte mich persönlich davon überzeugen können, als ich wenig später im Distrikt Aomori auf einen höflichen Knoblauchbauern traf, den alle für einen direkten Nachkommen von Jesus Christus hielten … den aus Nippon!
.

Einige Zeit zuvor wurde mir das Privileg zuteil, einen der größten noch lebenden zeitgenössischen Literaten Japans, den Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe interviewen zu dürfen.
Der Autor von “Gli anni della nostalgia” [A.d.Ü.: vermutlich Romantrilogie mit dem deutschen Titel „Grüner Baum in Flammen], und von “der stille Schrei”, erklärte mir, warum seiner Meinung nach das Problem der Japaner seiner Epoche in der vergeblichen Suche nach der “Rettung der menschlichen Seele” liegt.

*****
Nach seinem Literaturdebüt im Alter von zweiundzwanzig Jahren verging kein Monat, in dem Kenzaburo Oe, heute sechsundsechzigjährig, nicht an einem Roman arbeitete. Er wurde 1935 in einem kleinen Ort auf der Insel Shikoku im Südwesten Japans geboren, studierte Romanistik und machte an der Universität Tokyo seinen Abschluss in französischer Literatur. In seinen Werken hat er mit viel Mut Themen behandelt wie den Wahnsinn, die Grausamkeiten von Menschen an Menschen, die Angst vor einer unsichtbaren Realität. Sein Stil war immer direkt, klar, penetrierend. Indem er geschickt mit Formen und Ausdrucksformen jonglierte und sich einer enormen stilistischen Bandbreite bediente, die vom Grotesken bis zur Fabel und zum kompromisslosesten Realismus reichte, gelang es dem Autor des stillen Schreis

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Interviews Aus Dem Kurzen Jahrhundert Marco Lupis
Interviews Aus Dem Kurzen Jahrhundert

Marco Lupis

Тип: электронная книга

Жанр: Зарубежная образовательная литература

Язык: на немецком языке

Издательство: TEKTIME S.R.L.S. UNIPERSONALE

Дата публикации: 16.04.2024

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О книге: Interviews Aus Dem Kurzen Jahrhundert, электронная книга автора Marco Lupis на немецком языке, в жанре зарубежная образовательная литература

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