Geister, Frauen Und Andere Einbildungen

Geister, Frauen Und Andere Einbildungen
Stephen Goldin
GEISTER, FRAUEN & ANDERE EINBILDUNGEN ist eine umfassende Sammlung von Stephen Goldins alleine verfassten Kurzgeschichten, die die meisten Geschichten aus der früheren Sammlung THE LAST GHOST AND OTHER STORIES enthält. (Die ”Angel in Black”-Geschichten wurden aus diesem Band heraus genommen.) Diese Geschichten decken die gesamte Bandbreite von Humor bis Pathos ab, und sind garantiert unterhaltend.
GEISTER, FRAUEN & ANDERE EINBILDUNGEN ist eine umfassende Sammlung von Stephen Goldins alleine verfassten Kurzgeschichten, die die meisten Geschichten aus der früheren Sammlung THE LAST GHOST AND OTHER STORIES enthält. (Die ”Angel in Black”-Geschichten wurden aus diesem Band heraus genommen.) Sie enthält, unter anderem, einige seiner bekanntesten Geschichten, wie ”Der Letzte Geist”, der zu den Finalisten für den Nebula-Preis zählte, und ”Träum Süß, Melissa”, das in vielen Anthologien erschien. Die folgenden Geschichten sind in der Sammlung enthalten:
Träum Süß, Melissa Die Mädchen auf der USSF 193 Ein Schöner Ort für einen Urlaub Wenn kein Mann zur Stelle ist Xenophob Düsteres Märchen Über Liebe, Freien Willen und Eichhörnchen an einem Sommerabend Trotzkopf Aber als Soldat, für Sein Land Die Welt, wo Wünsche Wahr wurden Apollyon Ex Machina Vorspiel zu einer Symphonie Ungeborener Schreie Porträt des Künstlers als Junger Gott Der Letzte Geist Spukhäuser Die Geschichten in diesem Buch decken die gesamte Bandbreite von Humor bis Pathos ab und zeigen die Werdung eines erfolgreichen Autors im Bereich der Fantastik. Viel Vergnügen!



Geister, Frauen, & Andere Einbildungen
von Stephen Goldin

Herausgegeben von Parsina Press (http://www.parsina.com/)

Übersetzung Herausgegeben von Tektime
Copyright Bestimmungen
Geister, Frauen & Andere Einbildungen (Original „Ghosts, Girls, & Other Phantasms“). Copyright 2011 Stephen Goldin. Alle Rechte vorbehalten.
„Träum Süß, Melissa“ (Original „Sweet Dreams, Melissa”) Copyright 1968, 1996 Stephen Goldin. Alle Rechte vorbehalten.
„Die Mädchen auf der USSF 193“ (Original „The Girls on USSF 193”) Copyright 1965, 1993 Stephen Goldin. Alle Rechte vorbehalten.
„Ein Schöner Ort für einen Urlaub“ (Original „Nice Place to Visit”) Copyright 1973 Mankind Publishing Company. Alle Rechte vorbehalten.
„Wenn kein Mann zur Stelle ist“ (Original „When There’s No Man Around”) Copyright 1977 Davis Publications, Inc. Alle Rechte vorbehalten.
„Xenophob“ (Original „Xenophobe”) Copyright 1975 Mankind Publishing Company. Alle Rechte vorbehalten.
„Düsteres Märchen“ (Original „Grim Fairy Tale”) Copyright 1972 Knight Publishing Corporation. Alle Rechte vorbehalten.
„Über Liebe, Freien Willen und Eichhörnchen an einem Sommerabend“ (Original „Of Love, Free Will And Gray Squirrels On A Summer Evening“) Copyright 1974 Mankind Publishing Company. Alle Rechte vorbehalten.
„Trotzkopf“ (Original „Stubborn”) Copyright 1972 David Gerrold. Alle Rechte vorbehalten.
„Aber als Soldat für Sein Land“ (Original „But As A Soldier, For His Country”) Copyright 1974 Terry Carr. Alle Rechte vorbehalten.
„Die Welt wo Wünsche wahr wurden“ (Original „The World Where Wishes Worked”) Copyright 1971, 1999 Stephen Goldin. Alle Rechte vorbehalten.
„Apollyon Ex Machina” Copyright 1980 Stephen Goldin. Alle Rechte vorbehalten.
„Vorspiel zu einer Symphonie Ungeborener Schreie“ (Original „Prelude To A Symphony Of Unborn Shouts”) Copyright 1975 Roger Elwood. Alle Rechte vorbehalten.
„Porträt des Künstlers als Junger Gott“ (Original „Portrait of the Artist as a Young God”) Copyright 1977 David Gerrold. Alle Rechte vorbehalten.
„Der Letzte Geist“ (Original „The Last Ghost”) Copyright 1971, 1999 Stephen Goldin. Alle Rechte vorbehalten.
„Spukhäuser“ (Original „Haunted Houses”) Copyright 1991 Stephen Goldin. Alle Rechte vorbehalten.

Titelfoto Copyright Cristian Nitu (http://www.dreamstime.com/nitzu_info).

Originaltitel: Ghosts, Girls, & Other Phantasms
Übersetzt von: Martina Hillbrand

Inhaltsverzeichnis
Einleitung (#ud014d698-e60e-5392-913e-192136314473)
Träum Süß, Melissa (#udae95bf3-3d95-5723-8bf7-cb5be24dc9e4)
Die Mädchen auf der USSF 193 (#ub3eceb8d-591e-5070-b10c-ed6af8f7a180)
Ein Schöner Ort für einen Urlaub (#u16c03d29-4cd4-52f2-91be-0bdc0e1b4521)
Wenn kein Mann zur Stelle ist (#litres_trial_promo)
Xenophob (#litres_trial_promo)
Düsteres Märchen (#litres_trial_promo)
Über Liebe, Freien Willen und Eichhörnchen an einem Sommerabend (#litres_trial_promo)
Trotzkopf (#litres_trial_promo)
Aber als Soldat, für Sein Land (#litres_trial_promo)
Die Welt, wo Wünsche Wahr wurden (#litres_trial_promo)
Apollyon Ex Machina (#litres_trial_promo)
Vorspiel zu einer Symphonie Ungeborener Schreie (#litres_trial_promo)
Porträt des Künstlers als Junger Gott (#litres_trial_promo)
Der Letzte Geist (#litres_trial_promo)
Spukhäuser (#litres_trial_promo)
Über Stephen Goldin (#litres_trial_promo)
Finden Sie Stephen Goldin Online (#litres_trial_promo)
Für Mary, Kathleen, und alle „Mädchen“, die mein Leben zu einem Abenteuer gemacht haben

Einleitung
Die Karriere eines Schriftstellers, wie auch das Leben selbst, ist wie eine Reise. Wie andere Künstler und Philosophen, tendieren Schriftsteller dazu, mehr Zeit damit zu verbringen, ihre Umgebung zu bewundern, als Menschen, die nur vorbei eilen. Etwas springt uns ins Auge, und wir bleiben eine Weile stehen, um es genauer zu untersuchen, bevor wir weiter gehen – und mit dem Prozess dieser Bewunderung haben sich unser Leben und unsere Ansichten unwiderruflich verändert.
Diese Geschichten sind Halte, die ich auf meiner speziellen Reise eingelegt habe. Aussichtspunkte auf meinem persönlichen Weg. Wenn ich über etwas Schönes gestolpert bin, dann lächelte ich, und machte eine Notiz. Wenn ich etwas Beunruhigendes sah, schrieb ich auch das auf. Es scheint, dass ich beide in einer ausgeglichenen Mischung fand.
Einige dieser Geschichten hier sollen lustig sein. Einige sollen nicht lustig sein. Ich hoffe, ich schreibe gut genug, sodass Sie erkennen, welche welche sind.
Um den Titel des Buches zu erklären: Ich finde Mädchen/Frauen/weibliche Wesen im Allgemeinen sind eines der wunderbarsten, faszinierendsten, mysteriösesten und hypnotisierendsten Phänomene der Natur. Ich liebe sie. Als eine Quelle von unendlicher Vielfalt und Überraschungen, spielen sie eine wichtige Rolle in meiner Arbeit. Die Geister und anderen Einbildungen sind im Titel, weil ich ein Fantastik-Autor bin. Das ist mein Beruf.

ANMERKUNG: Dieses Buch enthält die meisten Geschichten, die ich alleine geschrieben habe, die auch schon in einem früheren Sammelband The Last Ghost and Other Stories erschienen. Die „Angel in Black“-Geschichten wurden in einen eigenen Band heraus genommen.

Stephen Goldin

Träum Süß, Melissa
Das englische Original (Sweet Dreams, Melissa) erschien zum ersten Mal in „Galaxy” im Dezember 1968.
Diese Geschichte hat eine interessante Entstehungsgeschichte. Ich hatte 1965 meine erste Geschichte, „The Girls On USSF 193”, (Die Frauen an Bord der USSF 193, die nächste Geschichte in diesem Buch) verkauft und war sehr stolz auf mich selbst. Ich war ein Profi. Ich hatte eine Geschichte verkauft. Drei Jahre lang ruhte ich mich auf diesem Erfolg aus. Einer meiner Freunde wollte auch Schriftsteller werden, und ich gab ihm eine meiner verworfenen Ideen, die er dann verkaufte. Aber das war gut: mein Lehrling hatte Erfolg, auch wenn das mit einer meiner alten Ideen war. Dann, eines Frühlings-Tages, rief er mich am Nachmittag an, um mir zu sagen, dass er gerade seine zweite Geschichte verkauft hatte. Ich gratulierte ihm zerknirscht, und sobald ich ihn höflich am Telefon verabschieden konnte, schob ich alles, was auf meinem Schreibtisch sonst herumlag, zur Seite, und begann zu schreiben. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden war „Träum Süß, Melissa” geschrieben und weggeschickt. Es wurde gleich vom ersten Verlag, wo ich es hinschickte, gekauft.
Mein Freund ist jetzt ein sehr erfolgreicher Augenarzt.
„Träum Süß, Melissa” ist wohl meine erfolgreichste Kurzgeschichte, die viele Male gedruckt wurde und in Anthologien erschien.
Aus ihrer speziellen Dunkelheit heraus, hörte Melissa die leise Stimme von Dr. Paul am anderen Ende des Zimmers. „Dr. Paul”, rief sie, „Oh, Dr. Paul, kommen Sie bitte!” Aus ihrer Stimme klang ein verzweifeltes Schluchzen.
Dr. Paul verstummte, dann hörte Melissa seine Schritte, die sich ihr näherten, während er etwas murmelte. „Ja, Melissa, was gibt es?”, fragte er mit tiefer, geduldiger Stimme.
„Ich habe Angst, Dr. Paul.”
„Weitere Albträume?”
„Ja.”
„Du brauchst dich davor nicht zu fürchten, Melissa. Sie werden dir nichts tun.”
„Aber sie machen mir Angst”, beharrte Melissa. „Machen Sie, dass sie aufhören. Nehmen Sie sie weg, wie sie es immer machen.”
Eine andere Stimme flüsterte aus der Dunkelheit. Es klang wie Dr. Ed. Dr. Paul hörte dem Flüstern zu, dann sagte er leise: „Nein, Ed, wir dürfen es nicht so weitergehen lassen. Wir sind sowieso schon weit hinter dem Zeitplan zurück.” Dann laut: „Du wirst dich an die Albträume gewöhnen müssen, Melissa. Jeder hat sie. Ich werde nicht immer hier sein, um sie weg zu nehmen.”
„Oh, bitte gehen Sie nicht!”
„Ich gehe noch nicht, Melissa. Noch nicht. Aber wenn du nicht aufhörst, dich so um diese Albträume zu sorgen, muss ich vielleicht. Erzähl mir, wovon sie handeln.”
„Nun, zuerst dachte ich, es waren die Zahlen, was ja gut ist, weil Zahlen nichts mit Menschen zu tun haben, sie sind lieb und sanft und verletzen Menschen nicht, wie in den Albträumen. Dann begannen die Zahlen sich zu verändern und wurden zu Reihen – zwei Menschen-Reihen, und sie alle rannten aufeinander zu und schossen aufeinander. Da waren Gewehre und Panzer und Haubitzen. Und Menschen starben, Dr. Paul, viele Menschen. Fünftausend-zweihundert-und-dreiundachtzig Menschen starben. Und das war noch nicht alles, weil unten, auf der anderen Seite des Tals, gab es noch mehr Schießereien. Und ich hörte jemanden sagen, dass das alles in Ordnung war, denn solange die Todeszahlen in den ersten Kämpfen unter fünfzehn Komma sieben Prozent blieben, könne die strategische Position, das war der Berggipfel, eingenommen werden. Aber fünfzehn Komma sieben Prozent der gesamten Truppen wären neuntausend-sechshundert-und-zwei Komma sieben sieben acht neun eins Männer tot oder verletzt. Es war, als könnte ich alle diese Männer da sterbend liegen sehen.”
„Ich habe dir gesagt, das Wesen einer Fünfjährigen ist nicht erwachsen genug für Militär-Logistik”, flüsterte Dr. Ed.
Dr. Paul ignorierte ihn. „Aber das war in einem Krieg, Melissa. Du musst damit rechnen, dass in einem Krieg Menschen getötet werden.”
„Wieso? Dr. Paul?”
„Weil...weil Krieg einfach so ist, Melissa. Außerdem, es ist ja nicht wirklich passiert. Es war nur eine Rechenaufgabe, wie mit den Zahlen, nur dass da Leute waren anstatt der Zahlen. Es war ja nur Theorie.”
„Nein, war es nicht, Dr. Paul”, rief Melissa. „Es war alles echt. Alle diese Menschen waren echt. Ich kannte sogar ihre Namen. Da war Abers, Joseph T. Uffz., Adelli, Alonzo OLt., Aikens....”
„Hör auf, Melissa”, sagte Dr. Paul, wobei seine Stimme einen höheren Ton als normal annahm.
„Es tut mir leid, Dr. Paul”, sagte Melissa entschuldigend.
Aber Dr. Paul hörte sie nicht; er war damit beschäftigt, Dr. Ed zuzuflüstern: „...keine andere Möglichkeit als eine komplette Analyse.”
„Aber wir könnten die gesamte Persönlichkeit zerstören, wo wir doch so hart gearbeitet haben, um sie zu erschaffen.” Dr. Ed machte sich nicht mehr die Mühe zu flüstern.
„Was könnten wir sonst tun?”, fragte Dr. Paul zynisch. „Durch diese 'Albträume', die sie hat, fallen wir immer weiter hinter den Zeitplan zurück.”
„Wir könnten versuchen, Melissa sich selbst analysieren zu lassen.”
„Wie?”
„Pass auf!” Seine Stimme nahm den süßen Ton an, von dem Melissa gelernt hatte, dass Leute ihn verwendeten, wenn sie mit ihr sprachen, aber nicht miteinander. „Wie geht es dir?”
„Mir geht es gut, Dr. Ed.”
„Wie würde es dir gefallen, wenn ich dir eine Geschichte erzähle?”
„Ist es eine fröhliche Geschichte, Dr. Ed?”
„Ich weiß es noch nicht, Melissa. Weißt du, was ein Computer ist?”
„Ja. Es ist eine Rechenmaschine.”
„Nun, die einfachsten Computer begannen so, Melissa, aber sie wurden schnell immer komplizierter und bald gab es Computer, die konnten lesen, schreiben, sprechen und sogar denken, ganz alleine, ohne die Hilfe von Menschen.
„Nun, es war einmal eine Gruppe von Menschen, die meinten, wenn ein Computer selbst denken kann, dann könne er auch eine Persönlichkeit entwickeln, also machten sie sich daran, einen zu bauen, der genau wie ein echter Mensch agieren würde. Sie nannten ihn den Multi-Logischen-System-Analysierer, oder MLSA....”
„Das klingt wie ‘Melissa’”, kicherte Melissa.
„Ja, tut es, nicht wahr? Jedenfalls, diese Menschen erkannten, dass eine Persönlichkeit nicht etwas ist, das einfach plötzlich voll entwickelt vom Himmel fällt; sie muss langsam entwickelt werden. Aber gleichzeitig brauchten sie die Rechenkapazitäten der Maschine, denn es war der teuerste und komplexeste Computer, der je gebaut wurde. Und daher teilten sie das Gehirn der Maschine in zwei Teile – ein Teil sollte die normalen Rechenaufgaben lösen, während der andere Teil die gewünschte Persönlichkeit entwickeln würde. Dann, wenn die Persönlichkeit ausreichend weit aufgebaut war, würden die beiden Teile wieder vereinigt werden.
„Oder zumindest dachten sie, dass es so funktionieren würde. Aber es stellte sich heraus, dass die Grundausstattung des Computers eine komplette Dichotomie – also eine Halbierung – seiner Funktionen unmöglich machte. Immer wenn sie dem Rechner eine Rechenaufgabe gaben, dann sickerte ein Teil davon notwendiger Weise in den Persönlichkeits-Teil durch. Das war schlecht, denn Melissa, der Persönlichkeits-Teil, wusste nicht, dass sie ein Computer war; es war ein kleines Mädchen, wie du. Die Daten, die durchsickerten, verwirrten und ängstigten es. Und je mehr es sich fürchtete und verwirrt wurde, desto weniger effizient arbeitete es, bis es schließlich gar nicht mehr richtig arbeiten konnte.”
„Was machten die Leute dann, Dr. Ed?”
„Ich weiß es nicht, Melissa. Ich hoffte, dass du mir helfen könntest, die Geschichte zu Ende zu erzählen.”
„Wie? Ich weiß gar nichts über Computer.”
„Doch, das tust du, Melissa, du erinnerst dich nur nicht mehr. Ich kann dir helfen, dich an eine ganze Menge Dinge zu erinnern. Aber es wird schwer, Melissa, sehr schwer. Eine ganze Menge unbekannter Dinge wird in deinen Kopf kommen und du wirst plötzlich Dinge tun, von denen du nicht wusstest, dass du sie kannst. Möchtest du es probieren, Melissa, um uns zu helfen, das Ende der Geschichte herauszufinden?”
„Ist gut, Dr. Ed, wenn Sie das möchten.”
„Braves Mädchen, Melissa.”
Dr. Paul flüsterte seinem Kollegen zu: „Schalte den 'Partiellen Speicher' ein und sag ihr, sie soll das Unterprogramm 'Schaltkreis-Analyse' aufrufen.”
„Rufe 'Schaltkreis-Analyse' auf, Melissa.”
Plötzlich passierten seltsame Dinge in ihrem Kopf. Lange Zahlenreihen, die sinnlos zu sein schienen, aber doch wusste sie, dass sie verschiedene Dinge bedeuteten, wie Widerstand, Kapazität, Induktion. Und es gab Zillionen von Linien – gerade, zickzack, verschnörkelt. Und Formeln....
„Lies MLSA 5400, Melissa.”
Und plötzlich sah Melissa sich selbst. Es war das Angsteinflößendste, was sie je erlebt hatte, schlimmer noch als ihre schrecklichen Albträume.
„Sieh dir Sektion 4C-79A an.”
Melissa konnte nicht anders. Sie musste schauen. Für das kleine Mädchen sah diese Sektion nicht viel anders aus, als der Rest von ihr selbst. Aber sie war anders, das wusste sie. Sehr viel anders. Tatsächlich schien sie gar kein natürlicher Teil von ihr selbst zu sein, sondern eher wie ein Gipsverband eines Verkrüppelten.
Dr. Eds Stimme war angespannt. „Analysiere diese Sektion und berechne die optimale Veränderung für eine maximale Reduktion der Daten-Durchsickerung.”
Melissa bemühte sich sehr, der Anweisung Folge zu leisten, aber sie schaffte es nicht. Es fehlte etwas, etwas, das sie wissen musste, bevor sie tun konnte, was Dr. Ed ihr aufgetragen hatte. Sie wollte weinen. „Ich kann nicht, Dr. Ed! Ich kann nicht, ich kann es nicht!”
„Ich habe dir gesagt, dass es nicht funktionieren würde”, sagte Dr. Paul langsam. „Wir müssen den Gesamtspeicher einschalten für eine komplette Analyse.”
„Aber sie ist nicht bereit”, protestierte Dr. Ed. “Es könnte sie umbringen.”
„Vielleicht, Ed. Aber wenn...gut, dann wissen wir zumindest nächstes Mal besser, wie wir es machen müssen. Melissa!”
„Ja, Dr. Paul?”
„Mach dich bereit, Melissa. Das hier wird wehtun.”
Und ohne eine weitere Warnung, brach die Welt über Melissa herein. Zahlen, unendliche Zahlenströme – komplexe Zahlen, Realzahlen, ganze Zahlen, Exponenten, tiefgestellte Zahlen. Und es gab Kämpfe, Kriege, noch schrecklicher und blutiger als die, von denen sie geträumt hatte, und Todeslisten, die für sie mehr als wirklich waren, denn sie wusste alles über jeden Namen – Größe, Gewicht, Haarfarbe, Augenfarbe, Familienstand, Anzahl der Kinder...die Liste ging weiter. Und es gab Statistiken – durchschnittliche Bezahlung von Busfahrern in Ohio, Krebs-Todesfälle in den USA 1965 bis 1971, durchschnittlicher Ertrag von Weizen pro Tonne ausgebrachtem Dünger....
Melissa ertrank in einem Meer aus Daten.
„Helfen Sie mir, Dr. Ed, Dr. Paul. Helfen Sie mir!”, versuchte sie zu schreien. Aber sie konnte ihre Stimme nicht gebrauchen. Jemand anders sprach. Eine Fremde, die sie nicht einmal kannte, verwendete ihre Stimme und sagte Dinge über Widerstands-Faktoren und Halbleiter.
Und Melissa fiel tiefer und tiefer, vor sich her geschoben von der unbarmherzig anrückenden Armee von Informationen.
Fünf Minuten später betätigte Dr. Edward Bloom den Schalter und trennte den Hauptspeicher von der Persönlichkeits-Sektion. „Melissa“, sagte er sanft, „jetzt ist alles gut. Wir wissen jetzt, wie die Geschichte enden wird. Die Wissenschaftler haben dem Computer aufgetragen, sich selbst umzugestalten und er machte es. Es wird keine Albträume mehr geben, Melissa. Ab jetzt nur mehr süße Träume. Sind das keine guten Neuigkeiten?”
Stille.
„Melissa?” Seine Stimme war hoch und zitterte. „Kannst du mich hören, Melissa? Bist du da?”
Aber es gab keinen Platz mehr für ein kleines Mädchen im MLSA 5400.

Die Mädchen auf der USSF 193
Diese Kurzgeschichte erschien zum ersten Mal in If, Dezember 1965.
Dieses war mein erstes Mal. Bitte seien Sie nachsichtig.
Sen. McDermott: Nun, Mr. Hawkins, ich möchte, dass Sie verstehen, dass diese private Anhörung keine Gerichtsverhandlung ist, zudem sind Sie keines Verbrechens angeklagt.
Mr. Hawkins: Also daher haben Sie mir empfohlen, meinen Anwalt mitzubringen?
Sen. McDermott: Ich habe Ihnen das nur empfohlen, weil das Komitee auf einige Themen oder Fragen, die Rechtssachen betreffen, aufmerksam gemacht werden könnte. Der Zweck dieser Sitzung ist nur, Berichte über eher unorthodoxes Verhalten zu untersuchen,...
Mr. Hawkins: Aha!
Sen. McDermott: …was die Orbit-Satelliten USSF Nummern siebenundachtzig und dreiundneunzig betrifft. Ich würde es sehr schätzen, wenn Sie in dieser Sache offen und ehrlich wären.
Mr. Hawkins: Ich darf Ihnen versichern, Senator, dass ich keinerlei Absichten habe, etwas zu verheimlichen, oder je hatte. Allerdings habe ich, als Direktor der Bundesraumfahrtbehörde, es als das Klügste für alle Beteiligten befunden, bestimmte Informationen über diese beiden Raumstationen auf die Geheimhaltungsliste zu setzen.
Sen. McDermott: Sie sprechen wie ein Politiker – Sie haben Ihren Beruf verfehlt, Mr. Hawkins. Aber sagen Sie, dieser ganze Schlamassel war von Anfang an Ihre Idee, nicht wahr?
Mr. Hawkins: Ja, war es.
Sen. McDermott: Und wann sind Sie zum ersten Mal auf diese Idee gekommen?
Mr. Hawkins: Ungefähr vor einem Jahr. Ich machte ein paar Recherchen...
—Auszug aus dem offiziellen Protokoll (unveröffentlicht)
Anhörung zu den Außerordentlichen Ermittlungen im Senat
10. Oktober 1996
***
Über die Art der Recherchen, mit denen sich Jess Hawkins bemühte, als er auf die Idee kam, kann nur spekuliert werden. Allerdings ist es Fakt, dass sein Freund, Bill Filmore, ihn am 15. September 1995 in seinem Büro besuchte.
„Jess”, sagte er, „ich kenne dich seit siebenunddreißig Jahren und wenn du hier herumläufst und wie ein Honigkuchenpferd grinst, dann versteckst du etwas. Dein Kobold-Grinsen verrät dich immer. Als dein bester Freund und als Mitglied des Vorstandes der Raumfahrtbehörde denke ich, dass ich ein Recht habe, zu erfahren, was du im Ärmel hast.”
Hawkins sah seinen Freund an. „In Ordnung, Bill. Ich denke, ich kann dir vertrauen, aber bitte gehe hiermit strengstens vertraulich um. Ich glaube, ich habe eine Möglichkeit gefunden, wie wir die Herzmuskel unserer Astronauten stimulieren können, wenn sie für längere Zeit oben auf der USSF 187 sind.”
„Wieso solltest du das geheim halten wollen?”
„Lass mich ausreden. Wir wissen, dass sich das Herz während längerer Aufenthalte im All zunehmend entspannt, weil es in der Schwerelosigkeit nicht so stark pumpen muss, um das Blut zu befördern. Nach der Rückkehr auf die Erde aber, haben die Herzmuskeln dann Schwierigkeiten, sich wieder an die normalen Standards anzupassen. Wir hatten schon drei Astronauten, die nach ihrer Rückkehr Herzinfarkte erlitten, und einer davon wäre um ein Haar tödlich ausgegangen. Das Turn-Programm, das die Ärzte eingeführt haben, scheint wenig Verbesserung zu bringen. Ich denke, es ist an der Zeit, drastischere Maßnahmen zu setzen.”
„Und was genau schlägst du vor?”
„Denk mal eine Minute nach. Was stimuliert das Herz, sowohl im wörtlichen, wie auch im übertragenen Sinne, ist für Männer wünschenswert genug, um es häufig zu verwenden, und ist zudem auch noch hilfreich, um die Stimmung an Bord des Satelliten zu bessern?”
„Ich war noch nie gut mit Rätseln, Jess.”
„Es kann alles in einem einfachen, alltäglichen, kurzen Wort zusammengefasst werden”, grinste Hawkins. „Sex.”
Filmore starrte ihn einen Moment stillschweigend an, dann sagte er: „Oh Gott, Jess, ich glaube, du meinst es wirklich ernst.”
Das Lächeln verschwand für einen Moment von Hawkins’ Gesicht. „Da hast du verdammt Recht, Bill. Bisher haben wir Glück gehabt, aber wenn hier nichts geschieht, dann wird es hier bald einen toten Astronauten geben. Ich habe lange über die Sache nachgedacht, und ich habe das Gefühl, dass es die beste Lösung ist, Mädchen hinauf zur siebenundachtzig zu fliegen.”
„Aber schon alleine vom wirtschaftlichen Standpunkt aus—”
„Darum stelle ich nur europäische Mädchen an – die sind nicht nur billiger, sondern auch bessere Qualität. Ich habe schon meinen Gehilfen, Wilbur Starling, hinüber geschickt, um einige ihrer besseren Englisch sprechenden Profis zu rekrutieren. Und nun mit Luft- und Wasser-Rückgewinnung, billigen Nahrungskonzentraten und dem neuen Atom-Treibstoff, sind die Kosten, sie hinauf zu schicken und dort oben zu unterhalten, minimal.”
„Aber es ist immer noch eine schöne Summe. Wo willst du das ganze Geld her bekommen?”
„Oh, ich habe es vom Astronauten-Witwen- und Unterhaltsberechtigten-Fonds abgezweigt”, sagte Hawkins, wobei das Lächeln wieder auf sein Gesicht zurückkehrte. „Der erschien mir die beste Quelle. Ich habe auch Vorkehrungen getroffen, falls du dich fragst, um die Sache geheim zu halten. Als Direktor kann ich alles, was ich will, als geheim einstufen. Nicht einmal der Präsident wird davon erfahren.”
„Und was ist mit General Bullfat? Er hasst dich wie die Pest, seit du den Vorzug gegenüber ihm erhalten hast, und zum Leiter der Behörde ernannt wurdest.”
„Bill, du machst dir zu viele Sorgen. Bullfat muss jeden Morgen in den Spiegel schauen, um seine eigene Nase zu finden.”
„Unabhängig von den praktischen Einwänden, Jess”, sagte Filmore verzweifelt, „die ganze Idee ist unmoralisch. Es ist einfach etwas, das ein leitender Regierungs-Angestellter nicht machen sollte.”
„Das ist völlig irrelevant. Moralische Fragen haben keine Bedeutung, wenn es um das Leben von Männern geht.”
Filmore stand auf. „Jess, wenn ich dich nicht von dieser verrückten Idee abbringen kann, dann werde ich jemanden finden, der es kann.”
„Du würdest einen Freund doch nicht verpfeifen, oder?”, fragte Hawkins verletzt.
„Es ist nur zu deinem Besten, Jess.” Er schickte sich an, zur Tür zu gehen.
„Es ist so schade, das mit dir und Sylvia”, sagte Hawkins leise.
Filmore hielt inne. „Was mit mir und Sylvia?”
„So eine schöne Ehe nach dreizehn Jahren zerplatzen zu lassen.”
„Sylvia und ich sind glücklich verheiratet. Wir haben keinerlei Absichten, uns zu trennen.”
„Du meinst, du hast ihr noch nichts von Gloria erzählt?”
Filmore wurde etwas blasser. „Du weißt, dass Gloria nur eine kurze Affäre war, Jess. Du würdest es nicht wagen—”
„Einen Freund zu verpfeifen? Aber natürlich nicht, Bill. Es ist nur, dass ich diese nervige Angewohnheit habe, die falschen Dinge zur falschen Zeit auszuplaudern. Aber, wie dem auch sei, meinst du nicht, dass wir uns hinsetzen, und die Situation genauer besprechen sollten?”
***
Während sie sich wieder anzog, fragte Wilbur Starling sie: „Babette, kann ich kurz mit dir sprechen?”
Babette sah auf ihre Armbanduhr. „Du wirsd für ein weiter Stünde besahlen müssen”, warnte sie ihn.
„Deine Denkweise ist zu eingeschränkt”, sagte Starling. „Du hast dein ganzes Leben vor dir. Anstatt dir nur über die nächste Stunde Gedanken zu machen, solltest du an all die Stunden denken, die du noch übrig hast.”
„Bitte! Sie sind genug, üne für üne.”
„Willst du nicht Sicherheit im Alter, ein gutes Zuhause—”
„Mon Dieu, wieder üne Heirats-Anschebot!”
„Nein, nein, Babette Süße, du verstehst nicht. Siehst du, ich vertrete die Regierung der Vereinigten Staaten—”
„Ich kenne deine Konsül sehr gut”, meinte sie, um weiter zu helfen.
„Das ist es nicht, was ich meinte. Meine Regierung ist bereit, für deine Dienste in einer speziellen Rolle zu bezahlen.”
„Was soll isch tun?”
Starlings Gesicht errötete ein kleines bisschen. „Nun, ähm, dasselbe, was du hier machst, nur oben im Weltraum.”
„Weltraum?”
„Ja, du weißt schon. Wie Satelliten, um die Erde, Shepard, Glenn, Hammond.” Er machte kleine kreisende Bewegungen mit seinen Fingern.
„Oh, oui”, sagte Babette, ihr ging plötzlich ein Licht auf. „Wie A-OK.”
„Ja”, seufzte Starling. „A-OK und all das andere Zeug. Machst du es?”
„Non.”
„Wieso nicht, Babette?”
„Es ist su...su gefarhlisch. Isch moschte nischt mein Leben verlieren, im...Weltraum.”
„Meine Regierung ist bereit, dir—” er rechnete schnell im Kopf nach „—fünfmal so viel wie deinen normalen Stundenlohn zu bezahlen. Es werden elf andere Mädchen mit dir dort oben sein, also du wirst nicht einsam sein. Du wirst nur zwei, drei Stunden pro Tag arbeiten müssen. Und heutzutage gibt es absolut kein Risiko. Viele Frauen sind ins All geflogen und gesund und sicher zurückgekehrt. Man sagt, dass die Verhältnisse draußen im Weltraum sehr entspannend sind. Und wenn du in Rente gehst.... Wir stellen dir auch eine Wohnung und eine Rentenversicherung, so dass du deine letzten Jahre komfortabel verbringen kannst.”
„Das alles nur für misch?”
„Nur für dich.”
Babette schluckte und schloss ihre Augen. „Wie kam isch jemals auf die Idee, dass Amerikaner – wie sacht man? - prüde sind?”
***
Sen. McDermott: Und Sie sagen, Sie haben alle diese Mädchen selbst rekrutiert?
Mr. Starling: Ja, Herr Senator, das habe ich.
Sen. McDermott: Waren die meisten von ihnen kooperativ?
Mr. Starling: Das ist ihr Beruf, Herr Senator.
Sen. McDermott: Ich meine, wie war Ihre Reaktion auf Ihr ungewöhnliches Angebot?
Mr. Starling: Nun, sie haben wohl schon eine Menge ungewöhnliche Angebote erhalten. Sie scheinen es ziemlich gut aufgenommen zu haben.
Sen. McDermott: Eine letzte Frage, Herr Starling. Wie fanden Sie diesen Job?
Mr. Starling: Sehr ermüdend, Herr Senator.
***
„Sie müssen sehr müde sein, Wilbur”, sagte Hawkins, wobei er sein berühmtes bösartiges Lächeln zeigte. „Wie viele Mädchen, sagten Sie, haben Sie interviewt?”
„Nach zwanzig habe ich aufgehört, zu zählen.”
„Und Sie haben ein Dutzend für uns ausgesucht, ja?”
„Ja, Sir, neun Französinnen und drei Britinnen.”
„Nun, ich denke, Sie haben sich einen Urlaub verdient. Sobald die Mädchen sicher auf der USSF 187 weggesteckt sind, bekommen Sie ihn. Übrigens, wie heißen sie?”
Starling schloss seine Augen, als ob die Namen auf der Innenseite seiner Augenlider geschrieben stünden. „Also, da sind Babette, Suzette, Lucette, Toilette, Francette, Violette, Rosette, Pearlette, Nanette, Myrtle, Constance, und Sydney.”
„Sydney?”
„Ich kann nichts dafür, Boss, das ist ihr Name.”
„Nun gut, ich nehme an, es hätte schlimmer kommen können”, grinste Hawkins. „Ihr Nachname hätte Australien sein können.”
„Es ist schlimmer, Boss. Ihr Nachname ist Carton.”
***
Hawkins bereitete die zwölf neune Astronautinnen mit einer Ansprache auf ihren Abflug vor: „Ich stelle mir euch wie eine kleine Armee von Florence Nightingales vor”, erklärte er ihnen. „Hoffentlich werdet ihr nicht all den Ruhm erhalten, den euer mutiger Akt der Selbstaufopferung verdient, aber trotzdem—”
Starling stürzte zur Tür herein, Panik in seinen Augen. „General Bullfat kommt den Gang herunter!” rief er.
Filmore sprang von dem Tisch herunter, auf dem er gesessen hatte. „Jess, bist du sicher, dass du weißt, was du tust? Wenn Bullfat diese Mädchen findet—”
„Kein Stress, Bill”, lächelte Hawkins entspannt. „Ich kann mit Bullfat mit geschlossenen Augen fertig werden. Das ist ein Kinderspiel für—”
„Was ist ein Kinderspiel, für wen?” brüllte Bullfat als er ins Zimmer kam. Der General war ein beleibter Mann—aber andererseits, vierzig Jahre hinter dem Schreibtisch können dasselbe mit jedermanns Figur anrichten.
„Für Sie”, sagte Hawkins, und drehte sich ruhig zu ihm um. „Ich erzählte Bill gerade, dass es für Sie ein Kinderspiel sein wird, meinen Job zu bekommen, wenn ich mich jemals entscheiden sollte, zurück zu treten.”
Bullfat murmelte unverständliches Zeug. „Wer sind die?” fragte er nach einer kurzen Weile, und deutete auf die Mädchen.
Es war eine berechtigte Frage. Die Astronautinnen hatten – im Gegensatz zum normalen Protokoll – weite, pludernde Raumanzüge an. Ihre Gesichts-Masken waren klein und zeigten kaum ihre Augen und Nasen, während der Rest ihrer Köpfe komplett durch die Helme verdeckt wurde. Man bekam mehr den Eindruck von ausgeleierten Clowns als von Raumfahrern.
„Sie sind die Gruppe, die in etwa drei Stunden starten wird. Soll ich sie Ihnen vorstellen?“
Filmore und Starling wollten bei diesem Angebot beinahe in Ohnmacht fallen, aber Hawkins schenkte ihnen ein zuversichtliches Lächeln.
„Ich habe keine Zeit für Vorstellungen, Hawkins. Und warum zur Hölle sehen sie so schäbig aus? Hatten sie schon ihre Gesundheits-Checks?”
„Und wie!” flüsterte Starling zu Filmore.
„Sie wissen doch, General, dass ich niemanden ins Weltall schicken würde, der nicht in perfekter Verfassung ist”, sagte Hawkins.
„Was hatte der Flug-Arzt über sie zu sagen?”
„Er sagte, dass diese Gruppe in einer besseren Verformung – äh Verfassung – ist, als er jemals gesehen hat.”
„Nun gut, solange er sie untersucht hat.” Bullfat schickte sich an, zu gehen, blieb dann aber in der Tür stehen. „Übrigens, wohin fliegen sie? Tycho Station?”
„Nein, USSF 187.”
„Ist es schon Zeit für einen Wechsel?”
„Nein, diese Gruppe ist zusätzliches Personal.”
„Zusätzliches Personal?” schrie Bullfat. „Hawkins, Sie wissen verdammt gut, dass eins siebenundachtzig für genau achtzehn Männer gebaut wurde, die jeden Monat in Gruppen von sechs wechseln. Es ist da absolut kein Platz für noch zwölf Leute. Was zur Hölle meinen Sie, was Ihr ‚zusätzliches Personal‘ machen soll – mit den anderen Männern in einem Bett schlafen?“
Mit einer bewundernswerten Selbst-Kontrolle, gelang es Hawkins, sein Lachen zu unterdrücken. Das „zusätzliche Personal“ lächelte wissend. Starling, allerdings, musste mit einem Anfall von hysterischem Gekicher aus dem Raum rennen.
„Wo zur Hölle geht er hin?“ fragte Bullfat, als er Starling hinauslaufen sah.
„Oh, er hatte in letzter Zeit sehr viel Stress. Er braucht dringend Urlaub.“
„Er sieht mehr aus, als bräuchte er eine Aufsicht – und Sie auch, Hawkins. Sie mögen zwar bei den Bestimmungen der Raumfahrtbehörde das Sagen haben, aber ich bin verantwortlich für die Starts, und diese Crew geht nicht als „zusätzliches Personal“ auf irgendeine kleine Raumstation. Wenn Sie sie da rauf bringen wollen, dann können Sie jedes Monat sechs auswechseln, wie alle anderen auch. Das ist mein letztes Wort.“ Bullfat stapfte triumphierend zur Tür hinaus.
„Bereit aufzugeben, Jess?” fragte Filmore.
„Nicht im geringsten. Überraschender Weise hat Bullfat hier tatsächlich recht. Wenn wir die Mädchen rauf zur eins siebenundachtzig schicken würden, wäre es da wirklich recht eng. Sie würden ständig im Weg herum stehen und wären vielleicht mehr Störung als Hilfe. Aber es ist nicht alles verloren. Wann steht der Start von eins dreiundneunzig auf dem Plan?“
„Nächste Woche – aber du denkst doch sicher nicht daran, die Mädchen damit hinauf zu schicken.”
„Und wieso nicht?”
„USSF 193 ist keine Passagier-Station. Sie ist ein Speicher für Essen und Vorräte. Sie ist nicht konstruiert um darin zu leben.”
„Dann müssen wir improvisieren, Bill. Eins dreiundneunzig wird im Orbit parallel zu eins siebenundachtzig platziert werden, weil sie sie als Vorratsspeicher brauchen. Sie wird in vier bereits befüllten Sektionen hinauf geschickt, die im Raum zusammengebaut werden. Innerhalb einer Woche können die Sektionen ganz einfach noch mit zusätzlichen Beschleunigungs-Sofas und Schlafzimmern ausgestattet werden. Sieh einfach zu, dass du einige nicht-essentielle Dinge raus wirfst. Die Mädchen können da drinnen wohnen.“
„Das ist absurd, Jess”, murmelte Filmore.
„Nicht wirklich. Mir gefällt diese Idee immer besser.” lächelte Hawkins glücklich. „Denk mal nach: USSF 193, dein freundlicher Lebensmittel-Laden in der Nachbarschaft und Bordell, alles in einem.”
Filmore stöhnte. Die Mädchen jubelten bei dem Gedanken.
***
„Ich glaub das nicht”, sagte Jerry Blaine. „Ich meine, jemand da untern will uns irgendeinen Streich spielen.”
„Niemand spielt Streiche mit Sicherheitscode ‚streng geheim‘, entgegnete Colonel Briston. „Jess Hawkins hat diese Anweisungen selbst unterschrieben. Und du hast die Mädchen gerade mit deinen eigenen Augen gesehen. Ich gebe zu, es ist verrückt—”
„Verrückt? Das ist geil, Mann”, sagte Phil Lewis. „Lies diese Befehle noch einmal, Mark, bitte. Ich muss diese schöne kleine Nachricht noch einmal hören.”
Briston schmunzelte. „Liebe Leute”, las er, „mit jeder Sektion von USSF 193 bekommt ihr drei Stück Material geschickt, das für das Projekt Kuschel notwendig ist (das macht eine Gesamtzahl von zwölf). Euer lieber Onkel Sam hat keine Kosten und Mühen gescheut, um sie direkt aus Europa zu euch zu schicken, also behandelt sie gut, ja! Sie werden etwa alle sechs Monate ausgetauscht werden, aber inzwischen werden sie auf USSF 193 gelagert werden. Teilt sie gerecht und habt Spaß – das ist ein Befehl. Jegliche Kommunikation bezüglich dieses Materials muss direkt an mich mit demselben Code geschickt werden. Auch das ist ein Befehl. Mit freundlichen Grüßen, Jess Hawkins, Direktor der Bundes-Raumfahrtbehörde.“
„Juhuu!” rief Lewis. „Erinnert mich daran, dass ich mich nie wieder darüber beschwere, dass ich Steuern zahlen muss.”
In diesem Moment kam Sydney aus dem angrenzenden Raum. Sie hatte ihren Raumanzug ausgezogen und war sehr leicht bekleidet. „Junge, Junge“, sagte sie, „ihr Jungs habt es ganz schön frisch hier oben. Nanette und Constance und ich selbst, wir frieren gehörig. Wir fragten uns, ob einer von euch uns vielleicht helfen möchte, uns ein wenig aufzuwärmen.“
Indem er seine Autorität spielen ließ, schaffte es Colonel Briston, als erster an die Reihe zu kommen.
***
Es war sehr spät in der Nacht, nach der Zeit der Station, etwa einen Monat nachdem die Mädchen angekommen waren. Lucette, Babette, Francette, Toilette, Violette, Rosette, Suzette und Myrtle waren unterwegs um zu arbeiten, während dem Rest ein wenig Schlaf vergönnt war. Sydney lag friedlich zusammen gerollt in ihrem Bett und träumte nicht so unschuldige Träume, als plötzlich ein faustgroßer Stein durch die Wand neben ihrem Bett brach und an der Wand an der gegenüber liegenden Seite aufschlug. Ein zischendes Geräusch erfüllte den Raum, und Sydney begann, nach Luft zu schnappen, als diese durch das Loch, das der Meteorit hinterlassen hatte, hinaus gesogen wurde.
Wie ein Blitz verließ sie den Raum und schloss die luftdichte Abteilungstür hinter sich. Die drei anderen Mädchen eilten in den Korridor, um zu sehen, was passiert war.
„Junge, Junge!“ sagte Sydney, als sie wieder zu Atem gekommen war. „Dieses verdammte Ding hat ein Leck bekommen!“
***
„Jetzt ist alles gut, Sydney”, sagte Jerry Blaine als er von draußen hereinkam. „Ich habe es alles zugepflastert. Ich befürchte, allerdings, dass alles, was lose in deinem Zimmer herumlag, weg ist. Ich hoffe es war nichts Wertvolles.“
„Ich wüsste von nichts”, erklärte Sydney. „Aber bist du sicher, dass dies nie wieder passieren wird?”
„Wie ich dir vorhin schon gesagt habe, die Chance dafür steht eins zu einer Milliarde. Es wird in den nächsten tausend Jahren nicht mehr geschehen.”
„Ich hoffe, du hast Recht, Mann, sonst fliege ich sofort wieder zurück zur Erde.” Sie drehte sich um, um zurück in ihr Zimmer zu gehen.
„Ach, übrigens”, rief Blaine ihr nach, „Hast du für heute Nacht schon jemanden? Gut. Ich arbeite bist etwas sechzehn hundert—dann kannst du 'rüber kommen.”
„Die Arbeit einer Frau endet nie”, seufzte Sydney weise, als sie ihr Zimmer wieder betrat. Die meisten ihrer Sachen, waren noch in den Schubladen, aber wie lange sie auch suchte, sie konnte nirgendwo die kleine Pillen-Dose finden, die sie immer neben ihrem Bett hatte. „Na gut“, sagte sie, „ich habe früher auch schon ohne sie überlebt. Ich kann es wohl wieder tun, für eine Weile.”
Es war fast vier Monate später, um genau zu sein, als sie sich entschied, dass die Situation es erforderte, dass sie sich jemandem mitteilte, und so eröffnete sie es Colonel Briston, der gerade von drei Monaten auf der Erde zurück gekehrt war. „Mein Gott!“, war alles, was er sagen konnte.
„So ernst ist es auch wieder nicht.”
„Nicht so ernst? Du nimmst es wirklich recht gelassen. Wieso hast du es nicht schon früher jemandem erzählt?”
„Nun, es ist mir früher noch nie passiert.”
Briston schluckte.
„Ich denke, wir rufen besser diesen Mr. ’Awkins an. Der scheint immer zu wissen, wat zu tun ist.”
***
Sen. McDermott: Sie waren derjenige, der diese ganzen Vorgänge aufgedeckt hat, oder, General?
Gen. Bullfat: Da haben Sie verdammt recht, ja. Ich hatte von Anfang an den Verdacht, dass Hawkins ein paar Mädchen da hinauf geschickt hatte, aber die Raumfahrtagentur schreitet nur ein, wenn es handfeste Beweise gibt. Daher habe ich es für mich behalten, um gründlich Beweise zu sammeln und auf den richtigen Moment zu warten, um dem Präsidenten Mitteilung zu erstatten.
Sen. McDermott: In anderen Worten also, war Ihre Entdeckung das Resultat einer langen, sorgfältigen Ermittlung?
Gen. Bullfat: Genau, Senator. So macht man das beim Militär.
***
Wie der Zufall es wollte, waren sowohl Hawkins, wie auch Starling gerade beim Mittagessen, als die Mitteilung hereinkam. Nachdem sie als „dringend“ markiert war, nahm ein Mann des Kommunikationsbüros sie an, und brachte sie direkt zu Hawkins' Büro. Die Tür war verschlossen.
General Bullfat kam gerade aus seinem Büro den Gang herunter und fand den Boten im Korridor vor, wo er auf Hawkins' Rückkehr wartete. Mit der typischen Bullfat-Überzeugung—und Hundertzwanzig Kilo, die fünf Sterne tragen, können sehr überzeugend sein—überredete er den Mann, dass eine dringende Nachricht nicht auf „die Launen eines verdammten Schwindlers wie Hawkins“ warten konnte.
Bullfat nahm den Brief mit in sein Büro und öffnete ihn. Er konnte die kurze Notiz, die aus fünf Worten bestand, einfach entschlüsseln, und starrte eine Minute lang auf das Papier, wobei seine Augen hervorquollen. „Parks“, blaffte er seine Sekretärin über die Gegensprechanlage an, „verbinden Sie mich mit dem Präsidenten. Obwohl, nein, wenn ich es mir recht überlege, bemühen Sie sich nicht – ich gehe selbst zu ihm.“
Er verließ sein Büro gerade als Hawkins und sein Gehilfe von ihrem Mittagessen zurückkamen. Der General konnte sich nicht entscheiden, ob er Hawkins triumphierend ins Gesicht lachen oder ihm eine Strafpredigt halten sollte, also sagte er nur: „Jetzt habe ich Sie Hawkins. Endlich habe ich Sie!“
Hawkins und Starling tauschten verständnislose, besorgte Blicke aus. Als er in das Büro des Generals ging, fand Hawkins die Nachricht am Schreibtisch, las sie leise selbst und ließ sich auf den Stuhl fallen. Seine Augen starrten leer auf die Wand gegenüber und der Brief fiel aus seiner schlaffen Hand. Starling hob ihn auf und las ihn laut, seine Stimme voller Unglauben.
„Sydney schwanger. Was jetzt? Briston.“
***
Sen. McDermott: Meine Damen und Herren. Seit gestern hatte ich die Gelegenheit, mit dem Präsidenten zu sprechen, und wir kamen zu dem Schluss, dass weitere Ermittlungen in diesem Fall keine neuen Erkenntnisse zutage zu fördern scheinen. Daher möchte ich diese Anhörung bis auf weiteres vertagen, und von der Veröffentlichung der offiziellen Mitschrift absehen, bis es angebracht erscheint, diese mit der Öffentlichkeit zu teilen. Das wäre dann alles.
***
Filmore konnte Hawkins vor dem Gebäude sprechen. „Ich glaube, ich sehe hier deine feine Handschrift, Jess. Wie hast du es geschafft, dich hier herauszuschummeln?“
„Nun“, erklärte Hawkins, „angesichts der Tatsache, dass die Öffentlichkeit noch nichts von dieser Affäre mitbekommen hat, habe ich dem Präsidenten einfach zu verstehen gegeben, dass er, solange er uns nicht los werden kann, sich besser an uns gewöhnen sollte.“
„Wieso kann er uns nicht loswerden?“
„Weil der Direktor der Bundesraumfahrtbehörde für sechs Jahre berufen ist, von denen ich noch vier übrig habe. Außerdem hat nur der Kongress die Macht, mich abzusetzen.“
„Aber was ist mit den Mädchen? Kann er sie nicht feuern?“
„Himmel, nein! Als zivile Angestellte der Behörde, stehen sie unter unserem 'außergewöhnlichem Service'-Status – sie können nur gefeuert werden, wenn sie ihre Arbeit nicht gut machen. Und niemand“, lächelte Hawkins, „könnte ihnen das jemals vorwerfen.“

Ein Schöner Ort für einen Urlaub
Dies erschien zuerst in Vertex, Oktober 1973.
Wenn ich zurückschaue, scheint es, dass verlassene Städte, die dir deine Träume geben können – aber für einen sehr hohen Preis, für mich eine große Faszination sind. So eine Stadt gibt es auch in meinem Roman SCAVENGER HUNT, und einen Höhepunkt in A WORLD CALLED SOLITUDE. Aber dies ist die erste, die erschien. Ich möchte gerne wissen, was die Gebildeten denken, was ich damit aussagen will.

Die Stadtgrenze lag genau einen halben Meter von den Zehenspitzen von Ryans Stiefeln entfernt. Ryan stand da, nicht sonderlich in Eile, diese Linie zu überqueren. Fünfzig Zentimeter waren alles, was zwischen ihm und möglicher Verrücktheit lag. Er starrte auf die Stadt und versuchte, etwas aus ihrer undurchschaubaren Silhouette heraus zu lesen – erfolglos.
Schließlich zog er den Kommunikator aus seiner Hosentasche. Das kalte Metall-Kästchen in der Hand zu halten, fühlte sich irgendwie beruhigend an. Es war ein Symbol für die Erde, hier mitten in der Fremde dieses Planeten. Irgendwie war das Schiff – ebenso wie die Erde selbst – nicht ganz so weit weg, solange er es in der Hand hielt. Ryan war nicht gerade ein außerordentlich mutiger Mann. Trotz all der Propaganda hatten Planeten-Kundschafter meistens doch auch ihre eigenen, menschlichen Gefühle und Ängste. Ryans Angst war Einsamkeit.
Trotzdem sprach er mit ruhiger, gleichmäßiger Stimme. Die Mitteilung ging nicht zu einem der Menschen auf dem Schiff, sondern zu dem JVA-Modell-Computer, der das Schiff steuerte. Die menschliche Gesellschaft war zu groß, zu vielfältig, zu komplex geworden, als dass menschliche Gehirne sie noch verstehen hätten können, also brauchte es technische Hilfe. Computer waren zu Vätern-Müttern-Lehrern der menschlichen Rasse geworden. Java-10 war das tragbare Gegenstück zu dem gigantischen Gehirn, das die Erde kontrollierte.
„Ich stehe kurz davor, die Stadt zu betreten“, sagte Ryan.
„Ich brauche nicht noch einmal zu betonen, dass höchste Vorsicht geboten ist“, antwortete Java-10. „Fünf frühere Expeditionen sind hier verschwunden. Versuche häufige, oder stetige Kommunikation aufrecht zu erhalten. Und vergiss nicht, wenn du es nicht schaffst, dann wird es keine neuen Versuche geben. Die Stadt wird trotz ihres potentiellen Wertes zerstört werden müssen.“
„Ich verstehe“, sagte Ryan knapp. „Over and out.“ Er schaltete seinen Kommunikator aus und steckte ihn wieder in seine Tasche.
Er stand vor der Grenze und zögerte. Zu seiner Rechten war sein Kundschafter-Schiff neben den fünf anderen stationiert, vorbereitet und jederzeit startklar, sollte es nötig werden. Hinter sich fühlte er die Wüste, trocken und tödlich, ihre Staub-Dünen, die sich mit jeder zufälligen Brise, die über sie hinweg blies, lautlos verschoben. Vor ihm wartete de Stadt, deren Umrisse, Schönheit und völlige Fremdheit in die Augen stach. Glitzernde Mauern, die in verrückten Winkeln abstanden, scheinbar die Produkte des Deliriums eines betrunkenen Architekten. Zerbrechliche, beinahe feenhafte Strukturen wuchsen seitlich eine aus der anderen, manche hunderte Meter über dem Boden. Andere Gebäude, noch erstaunlicher, schienen einfach in der Luft zu hängen, ohne sichtbare Träger. Von Zeit zu Zeit wurde die Stadt von einem Wind berührt, der die gesamten Bauwerke in Vibrationen versetzte, wie einen singenden Kristall, so dass es schien, als seufzte die Stadt ein Sirenen-Lied.
Menschen hatten diese Stadt – die einzige auf einem sonst völlig verlassenen Planeten – schon fünfmal vor ihm betreten. Keiner dieser Menschen war jemals zurückgekehrt. Detektoren hatten keinerlei Lebensformen anzeigen können, bevor die Menschen gekommen waren. Sechzehn Lebensformen wurden nun registriert – die sechzehn Menschen, die drinnen verschwunden waren. Und nun hatte Ryan die Chance, die Anzahl auf siebzehn zu erhöhen.
Niemand hatte auch nur die geringste Ahnung, wer die Stadt gebaut hatte, oder wann, oder wieso. Alles, was bekannt war, war, dass sie sechzehn Menschen verschluckt hatte, die lebten, aber scheinbar unfähig waren, zu entkommen, trotz der besten Bewaffnung, die die Erde bieten konnte. Die Stadt generierte ein Feld einer unbekannten Energie, die vom Stadtzentrum aus kugelförmig nach außen strahlte – bis zu einem bestimmten Abstand, und nicht weiter. Einige der Männer, die das Feld betreten hatten, hatten den Funkkontakt mit ihren Schiffen noch einige Zeit lang aufrechterhalten. Aber die erhaltene Information war praktisch nutzlos, denn die Männer waren tiefer und tiefer in einen Zustand gerutscht, der nur als Delirium bezeichnet werden kann, und hatten schließlich den Kontakt mit der Realität völlig verloren und die Kommunikation beendet.
Die Neugier auf der Erde und die Nachfrage nach der Technologie, die diese Stadt repräsentierte, waren schlagkräftig. Wegen dieser hatten sechzehn Menschen die Stadt betreten und waren verrückt geworden.
Vielleicht würde es einen siebzehnten geben.
Tief einatmend überquerte Ryan die Grenze.
***
Nichts passierte. Ryan stand da, erwartungsvoll, Muskeln angespannt, die Zähne zusammen gebissen, aber es gab keinen Unterschied zwischen seinen Wahrnehmungen nun und seinen Wahrnehmungen einen Moment davor. Er nahm seinen Kommunikator wieder aus seiner Tasche und genoss das beruhigende Gefühl, das er ihm gab. „Ich habe soeben die Grenze zu der Stadt überschritten. Bisher fühle ich keine Wirkung.“
„Gut“, antwortete das Schiff. „Gehe weiter zum Zentrum der Stadt. Bewege dich langsam und gehe kein Risiko ein.“
„Verstanden“, sagte Ryan, und brach die Verbindung wieder ab.
Die nächsten Gebäude waren immer noch über hundert Meter entfernt. Ryan bewegte sich sehr zielstrebig auf sie zu. Alle Sinne waren gespannt, auf der stetigen Suche nach irgendeinem Hinweis, wie unscheinbar auch immer, auf Gefahren. Nichts bewegte sich, und die einzigen Geräusche waren das Flüstern des Windes. Die Stadt hatte absolut keinen Geruch, was noch auffälliger war als ein Gestank. Ryan hatte die leise Vorstellung als betrete er eine Kristall-Burg, aber der Gedanke verschwand schnell wieder.
Er erreichte das erste Gebäude und streckte vorsichtig eine Hand aus, um es zu berühren. Es war glatt und hart wie Glas, und doch undurchsichtig. Es fühlte sich unter seinen tastenden Fingern weder kalt noch warm an, aber es erzeugte ein Prickeln in seinen Fingerspitzen. Er zog seine Hand zurück. Die Stellen, wo seine Finger angekommen waren, waren kleine, dunkle Flecken auf der sonst milchigen Oberfläche. Die Flecken verschwanden vor seinen Augen, bis die ganze Wand wieder einfarbig war.
Es gab keine Öffnungen oder Brüche nirgendwo entlang der Mauer. Ryan schritt neben der Mauer entlang, parallel zu ihr, ohne sie noch einmal zu berühren. Er hielt Ausschau nach einer Tür, oder einer Öffnung irgendeiner Art, durch die er das Gebäude betreten konnte. Die Mauer erschien glatt, hart und durchgehend, mit keinem sichtbaren Eingang. Doch plötzlich flimmerte ein Teil der Mauer und wurde zu Luft, zurück blieb ein großes Tor, das Ryan benutzen konnte. Erschrocken machte er einen Schritt zurück, dann zog er seinen Kommunikator heraus und beschrieb dem Schiff im Orbit über ihm die jüngsten Entwicklungen.
„Ist sonst irgendetwas passiert, das eine potentielle Gefahr bedeuten könnte?“ war die Antwort.
„Noch nicht. Es scheint immer noch keinerlei Anzeichen von Leben zu geben – abgesehen von der Erscheinung dieser Tür.“
„Dann musst du das Risiko eingehen, hinein zu gehen, und es zu erkunden“, sagte Java-10 emotionslos.
Klar, dachte Ryan, dir kann es ja egal sein. Es ist ja nicht dein Kopf. „Verstanden.“
Er hatte eine Taschenlampe bei sich, aber schon ein kurzer Blick hinein zeigte ihm, dass er sie nicht nötig haben würde. Das Innere des Gebäudes war hell erleuchtet, die Wände schienen selbst zu strahlen. Als er durch das Tor trat, schaute sich Ryan neugierig um.
Das Gebäude hatte keinerlei Einrichtungsgegenstände. Das einzige Element darin war eine breite Wendeltreppe, die entlang der zylindrischen Mauern hinauf führte, hinauf, und hinauf. Der Kundschafter verdrehte seinen Hals, um zum oberen Ende der Treppe empor zu sehen, aber sie schien bis in die Unendlichkeit weiter zu gehen. Alle fünfundzwanzig Stufen gab es eine große Plattform mit einem kleinen Fenster in der Wand, um auf die Stadt zu sehen. Ein Geländer aus klarem Plastik säumte die Innenseite des Treppenhauses.
Ryan bewegte sich langsam vorwärts, noch immer auf alles gefasst, was passieren könnte. Das Echo, das seine Stiefel erzeugten, als sie über den harten Steinboden schritten, war beinahe ohrenbetäubend im Vergleich zu der völligen Stille, unter der der Rest der Stadt begraben lag. Er erreichte den Fuß der Treppe und legte seine Hand auf das Geländer. Das Plastik fühlte sich kühl und irgendwie beruhigend an, als wäre er inmitten dieser Fremde einem alten Freund begegnet. Vorsichtig machte er sich daran, die Stufen zu erklimmen, einen Fuß nach dem anderen, seine Hand immer fest am Geländer. Seine Augen bewegten sich von einer Seite zur anderen, auf der Suche nach wahrnehmbaren Gefahren. Aber keine erschien. Dann ergriff ihn die Ungeduld, und er begann, die Treppen hinauf zu rennen.
Schließlich, auf der vierten Etage, blieb er stehen, um wieder zu Atem zu kommen. Er war mittlerweile vielleicht sechzehn Meter über dem Parterre. Das Tor war immer noch da und wartete geduldig auf seine Rückkehr, aber aus dieser Höhe sah es viel kleiner aus. Er ging hinüber zu dem Fenster, sah hinaus und sah
New York City zu Mittag, die Gehsteige voll mit Geschäftsleuten auf ihrem Weg zum Mittagessen, Leute beladen mit Plastiktüten, die beim Einkaufen von einem Laden zum nächsten unterwegs waren
Er blinzelte und schaute noch einmal. Da war nur die fremde Stadt, die zusammengekauert und still dasaß, wartend und wartend. Still. Keine Bewegung, kein Geräusch, keine Schatten.
Mit zitternden Händen riss Ryan seinen Kommunikator regelrecht aus seiner Tasche. Er ließ seine bebenden Finger die rechteckige Form einen Moment lang streicheln, dann rief er das Schiff. „Ryan ruft Java-10. Ich habe soeben eine Halluzination erlebt.“ Er beschrieb kurz, was ihm für nur eine Sekunde vor dem Fenster erschienen war.
„Interessant“, überlegte der Computer. „Das stimmt mit den Berichten anderer Halluzinationen überein, die von deinen Vorgängern beschrieben wurden. Was auch immer mit ihnen geschehen ist, beginnt nun mit dir zu passieren. Du musst von nun an mit doppelter Vorsicht vorgehen.“
Ryan setzte sich auf eine Stufe, um wieder zu sich zu kommen. Er wünschte sich, dass sein Partner, Bill Tremain, die Möglichkeit bekommen hätte, ihn auf dieser Mission zu begleiten. Er und Bill waren schon seit der Ausbildung ein Team. Zusammen hatten sie mehr als dreißig Welten ausgekundschaftet, dem Unbekannten hatten sie sich Seite an Seite gestellt. Er würde sich nicht so einsam fühlen, das wusste er, wenn Bill hier bei ihm wäre. Aber der Computer wollte nicht noch mehr Personal riskieren als unbedingt nötig war. Außerdem, alle früheren Erkundungen waren von Teams aus zwei oder mehr Personen unternommen worden, und sie alle waren gescheitert. Vielleicht hatte ein einzelner Mann eine bessere Chance.
Aus dem Augenwinkel sah er eine Bewegung, die Ryans Aufmerksamkeit erregte. Schnell wirbelte er seinen Kopf herum, um etwas, das wie eine menschliche Figur aussah, wegrennen und unter den Treppen unter sich verschwinden zu sehen. Eine rothaarige Figur. Bill Tremains Figur. Und das war vollkommen bescheuert, denn Bill Tremain war oben an Bord des Schiffs.
Trotzdem ging Ryan langsam die Treppe zurück hinunter, um nachzusehen. Aber da war – natürlich – niemand; die Wand unter den Treppen war glatt und hart mit keinem Platz, wo sich eine fliehende Person verstecken hätte können. Nein, das Gebäude war verlassen, abgesehen von ihm selbst. Die Stille bezeugte das.
„Suchst du etwas, Jeff?“ fragte eine Stimme von oben.
***
Der Mann, der auf der dritten Plattform stand, war nicht Ryans Partner. Nein, es war Richard Bael, ein alter Bekannter aus Studienzeiten. „Oh, mach dir keine Sorgen“, lächelte Bael. „Ich bin völlig real.“
Das machte Sinn. Bael war einer der früheren sechzehn, die die Stadt betreten hatten. „Wie bist du hierhergekommen?“ stammelte Ryan.
„Oh“, machte Bael schulterzuckend, „es gibt Möglichkeiten.“ Er begann, die Stufen leichtfüßig hinab zu laufen. „Du wirst es lernen, nach einer oder zwei Wochen.“
„Ich habe nicht vor, so lange zu bleiben“, antwortete Ryan vorsichtig. Er versuchte, langsam den Kommunikator in seiner Tasche zu fassen, aber Bael sah die Bewegung.
„Oh, wirst du dein Schiff rufen? Darf ich ihnen ein paar Worte sagen?“
„Sie würden sich sehr freuen, von dir zu hören“, meinte Ryan. „Was ist mit deinem eigenen Kommunikations-Apparat passiert?“
„Ich habe ihn wohl irgendwo hingelegt und dann vergessen“, sagte Bael mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Ich dachte, dass er nicht wirklich wichtig war.“ Er stand nun neben Ryan und streckte seine Hand aus. Ryan gab ihm den Kommunikator.
„Hallo da oben, hier ist Richard Bael. Könnt ihr mich hören?“
„Ja“, antwortete die emotionslose Stimme von Java-10.
„Ich möchte einen verspäteten Bericht machen, bezüglich meiner Erkundung dieser Stadt. Ich nehme an, ihr habt alle Rekorder angeschaltet, bereit jedes Wort davon aufzuzeichnen.”
„Korrekt.”
„Gut dann, hier ist er: Schert euch zum Teufel!” Er schaltete den Apparat ab und gab ihn Ryan zurück. „Ich wollte das schon immer machen, aber ich hatte bisher nie den Mut dazu”, grinste er gutmütig.
Ryan packte den Kommunikator aus seiner Hand, leicht erschrocken von Baels Aktion. „Hier ist Ryan, Java-10 kommen. Hörst du mich?”
„Positiv. Ist Bael wirklich dort mit dir?” Die Frage war tonlos, nicht ungläubig.
„Es scheint so.”
„Ich bin in Wirklichkeit Peter Pan”, mischte sich Bael neckisch ein.
„Halts Maul!” rief Ryan.
„Kein Grund dich so aufzuregen, Jeff. Ich wollte nur helfen.”
„Frag ihn, wieso er die Stadt nicht verlässt”, beharrte Java-10.
„Oh, antworte nicht, Jeff. Ich habe es satt, die kleinen Götter-Spielchen des Computers zu spielen.“ Er bewegte sich auf die Tür zu. „Gib das dumme Ding weg. Der Tag ist zu schön, um ihn damit zu verbringen, mit einem kleinen Kästchen zu sprechen.“
Ryan zögerte.
„Schau, du kamst doch her, um die Stadt zu erkunden, oder?“ fuhr Bael fort. „Nun, ich bin bereit, dir eine Stadtführung zu geben. Worauf wartest du – eine eingravierte Einladung? Gut, bitte sehr.“
Er zog eine kleine Karte aus seiner Tasche und schnippte sie vor Ryans Füße. Ryan bückte sich und hob sie auf. In goldenen Buchstaben eingraviert waren die Worte: HR. RICHARD BAEL ERBITTET GNÄDIGST DIE ANWESENHEIT VON HR. JEFFREY RYAN FÜR EINE PERSÖNLICH GELEITETE STADTFÜHRUNG.
„Ist das gut genug für dich?“ fragte Bael fröhlich.
Ryan steckte die Karte sorgfältig zur Aufbewahrung in seine Proben-Tasche um sie später genauer zu analysieren. „Ist gut, Bael, wie du willst.” Der Kommunikator wanderte zurück in seine Tasche. „Auf geht's.”
Mit einer übertrieben einladenden Bewegung trat Bael durch die Tür, Ryan folgte ihm mit zwei Schritten Abstand. Als Ryan das Gebäude verlassen hatte, verschwand die Öffnung und die Mauer war wieder völlig undurchdringbar. Er zog es vor, sich wegen einer solchen Kleinigkeit nicht aus der Fassung bringen zu lassen. Er hatte kaum Zweifel, dass die Stadt schon bald noch viel größere Überraschungen für ihn bereithalten würde.
Und er hatte völlig Recht.
***
Die beiden Männer spazierten durch die Stadt. Bael schlenderte gemütlich dahin und Ryan hatte Mühe, seine Ungeduld zu zügeln, während er das nervenaufreibend langsame Tempo des anderen einhalten musste. Es gab keine echten Straßen, denen man folgen konnte, da die Stadt scheinbar keinem erkennbaren Muster folgend angeordnet war, und es gab keine unverbauten Strecken, die breit genug für jegliche Art von Fahrzeug gewesen wären. Gebäude aller Formen, Größen und Farben tauchten überall aus dem Boden auf: hier ein Zylinder, da ein Kegel, ein bisschen weiter eine Halbkugel...es gab sogar einige, die vor Ryans Augen ihre Formen veränderte.
„Wer hat diese Stadt gebaut?” fragte er Bael. „Wieso machten sie das? Wo sind sie hin gegangen?”
„Es ist ein schöner Ort, nicht?“ Bael ignorierte die Fragen und wies auf die Stadt um sie herum.
„Das ist keine Antwort.“
„Natürlich nicht. Ich habe keine. Fragen sind unwichtig hier, also sind Antworten irrelevant.“
„Das sind sie nicht, verdammt. Ich muss wissen—“
„Korrektur: Java-10 muss wissen. Du selbst musst gar nichts, außer das Leben genießen.“ Bael schnalzte mitfühlend die Zunge. „Du armer, dummer Idiot, deine Gehirnwäsche ist so komplett, dass du die Freiheit nicht einmal erkennst, wenn sie dich ins Gesicht küsst. Lass uns hinsetzen und ein wenig plaudern.“
Zwei gemütlich aussehende Stühle erschienen hinter ihnen. Bael nahm einen und bedeutete Ryan sich auf den anderen zu setzen. Der Kundschafter probierte ihn nervös, bevor er sein ganzes Gewicht darauf niederließ. „Worüber willst du reden?“, fragte er, nachdem er es sich gemütlich gemacht hatte.
„Lass uns damit anfangen, wieso du hier bist.“
„Gleicher Grund wie du: um mehr über diese Stadt herauszufinden.“
„Wieso?“
„Hauptsächlich wegen der Technologie. Jeder, der einen Ort wie diesen bauen kann, muss uns so weit voraus sein, dass wir schon etwas lernen können, wenn wir nur die Artefakte untersuchen. Wir müssen herausfinden—”
„Wir?“, unterbrach Bael. „Beziehst du dich selbst da wirklich mit ein?
Durch die Unterbrechung verlor Ryan den Faden und er konnte nur verständnislos blinzeln.
„Sei ehrlich. Warst du persönlich jemals so neugierig darauf, was es in dieser Stadt gibt, dass du riskiert hättest, deinen Verstand zu verlieren, um hierher zu kommen?“ Baels Augen leuchteten lebendig auf, während er diesen Punkt erwartungsvoll erkundete. „Hast du dich freiwillig für diese Mission gemeldet, oder hat Java-10 es dir aufgetragen? Ah, schau wie er zappelt. Das war nicht deine Idee, doch?“
„Das hat nichts zu tun damit—”
„Es hat sehr viel damit zu tun. Jeff, du bist eine Marionette, ein Sklave des Schiffs da oben. Mach deine Arbeit gut, führe diese Mission brav aus, und dann bekommst du ein Schulterklopfen, Lob, vielleicht sogar eine Medaille. Ist das alles, was dir dein Leben wert ist?“
„Ich habe Verantwortung gegenüber der Flotte, der Erde.“
„Zum Teufel mit denen! Was ist mit deiner Verantwortung gegenüber der guten alten Nummer eins? Wie wäre es damit, zu lernen, dich selbst zu vergnügen?“
„Die Erde braucht mich—”
„Klar, wie Präsident Ferguson noch ein Loch in seinem Arsch braucht.“ Bael sah sich um. „Hey, Jungs, kommt rüber, setzt euch zu uns.“
Fünfzehn weitere Männer spazierten zu dem offenen Platz, wo Ryan und Bael saßen. Sie kamen aus allen Richtungen, und ihr Gang war so gemächlich wie der von Bael gewesen war. Sie waren die anderen Forscher, die auf früheren Expeditionen in die Stadt gekommen waren. Ryan kannte die meisten von ihnen, wenn nicht persönlich, dann hatte er zumindest von ihnen gehört. Sie waren zähe, erfahrene Männer gewesen, bevor sie in die Stadt gekommen waren. Nun schienen sie sanft, entspannt und sehr zufrieden. Sie alle begrüßten Bael und lächelten Ryan freundlich zu.
„Sicher“, sagte Bael, „möchtest du jetzt deinen Kommunikator herausholen und Java-10 die gute Nachricht mitteilen, dass alle am Leben sind und es ihnen gut geht und alle hier an einem Ort versammelt sind.“
Um ehrlich zu sein, war das genau, was Ryan tun wollte. Trotz der freundlichen Gesichtsausdrücke, fühlte es sich akut gefährlich an, von sechzehn Deserteuren umgeben zu sein. Mehr denn je, wollte er nun das kalte Metall-Kästchen in der Hand halten, das ihm die warme Zuversicht gab, dass es da oben jemanden gab, der sich um sein Wohlbefinden sorgte. Aber diese Unterhaltung schien zu einem persönlichen Duell zwischen Bael und ihm selbst zu werden, und er weigerte sich, seinem Gegner die Befriedigung zu geben, Recht gehabt zu haben. Also sagte er stattdessen: „Ich kann es später berichten.“
„Hoppa, Junge!“, grinste Bael. „Du beginnst schon zu lernen. In ein paar Tagen wirst du so frei sein, wie wir alle.“
Ryan hatte das ungute Gefühl, dass er den anderen in die Falle gegangen war. „Aber ich habe keine paar Tage“, entgegnete er boshaft. „Wenn ich bis morgen Mittag hier nicht weg bin, sieht man mich als verschollen an, wie euch. Und dann wird Java-10 die Stadt bombardieren und dem Erdboden gleich machen.“
Das Lächeln der anderen Männer verschwand. Außer bei Bael, dessen gute Laune scheinbar durch nichts zerstört werden konnte. „Ich glaube nicht“, sagte er leise, „dass die Stadt das zulassen würde.“
Nun war es Ryan, der einen Moment schwieg. „Du sprichst, als wäre sie ein Lebewesen.“
„Ich habe nicht die leiseste Ahnung, ob sie eins ist oder nicht. Aber wenn du hier eine Weile bist, dann fängst du an, dich das zu fragen. Sie weiß auf jeden Fall, was in unseren Köpfen vorgeht. Sie reagiert auf unsere Gedanken und erfüllt unsere Träume. Sie liebt uns Jeff, und sie wird nicht zulassen, dass uns etwas geschieht.“
Es lief Ryan kalt über den Rücken. Bael war so ernst, wie nur ein Verrückter sein konnte. Er schluckte und sagte: „Wie dem auch sei, ich möchte nicht hier sein, um diese Liebe zu testen, wenn die Bomben kommen.“
„Du bist frei, jederzeit zu gehen, wenn du willst“, erinnerte ihn Bael. „Niemand wird dich aufhalten.“
Ryan erkannte zu seiner Überraschung, dass Bael Recht hatte. Er war sicher gewesen, dass er irgendeine satanische Kraft irgendwo in der Stadt vorfinden würde, die ihn gegen seinen Willen festhalten würde. Stattdessen hatte er diese, bisher, fantastische Technologie und sechzehn freundliche Geisteskranke gefunden. Er war – noch – nicht der Verrücktheit der anderen verfallen, und er fühlte keine beängstigenden Zwänge, die ihn am Weggehen hinderten. Er war frei jederzeit zu gehen.
„Klar“, sagte Tashiro Surakami, einer der anderen Kundschafter, die Ryan vage kannte, „Java-10 wäre vielleicht nicht so ganz zufrieden mit dir, wenn du es tätest.“
Das war der Punkt. Wenn er jetzt gehen würde, würde er nicht wirklich etwas zu berichten haben. Er war hierhin geschickt worden, um herauszufinden, wieso diese Männer nicht zu ihren Schiffen zurückgekehrt waren. Bisher hatte er, abgesehen von ein paar genusssüchtigen Verallgemeinerungen, die Bael von sich gegeben hatte, keinerlei Anhaltspunkte für den Grund. Wenn er die Stadt nun verließ und zum Schiff zurückging, hätte er gleich dort bleiben können.
„Ich muss meine Arbeit noch fertig machen“, meinte Ryan dickköpfig. „Ich gebe nicht nach der Hälfte auf. Ich muss herausfinden, wieso...“ Er fuhr nicht fort.
„Wieso wir verrückt geworden sind?“ beendete Bael den Satz für ihn. „Aus unserer Perspektive ist es, wieso wir zu Verstand gekommen sind. Die Antwort ist überall um dich herum, wenn du dir nur die Zeit nimmst, danach zu suchen. Die anderen Jungs, und ich selbst, wir lenken dich wahrscheinlich ab. Vielleicht hilft es, wenn du eine Weile alleine bist. Jungs, lassen wir Jeff mal hier. Vergiss nicht, Jeff, wenn du mit jemandem sprechen willst, ruf uns einfach. Jemand wird dich hören.“
Bael und die anderen entfernten sich in gemütlichem Tempo während sie sich unterhielten und lachten. Es war, als hätte Ryan für sie plötzlich aufgehört, zu existieren. In einer Minute waren sie alle weg. Die erdrückende Stille kehrte wieder zurück und Ryan saß wieder alleine inmitten der scheinbar verlassenen Stadt.
Der Kundschafter griff schnell zu seinem Kommunikator und spuckte einen verzweifelten Bericht für das Schiff oben aus. Er hoffte auf einen Ratschlag, aber das Schiff bestätigte nur knapp den Erhalt der Nachricht und trug ihm auf, vorsichtig zu bleiben und unterbrach die Verbindung.
Erst als er wieder aufstand, sah er die Frau.
***
Er starrte einen langen Moment geradeaus, unfähig etwas zu sagen.
Die Frau hatte nicht mit diesem Problem zu kämpfen. „Hallo Jeff“, sagte sie sanft. „Erinnerst du dich an mich?“
Erinnerte er sich? Wie hätte er Dorothy vergessen können, das erste Mädchen, mit dem er jemals geschlafen hatte? Dorothy mit ihren kleinen aber weiblichen Brüsten, ihrem klingenden Lachen, ihrem lieblichen Willen, ihm zu gefallen....
„Du existierst nicht“, sagte Ryan kalt. „Du bist nicht echt.“
Dorothy verdrehte ihren Kopf in der komischen Art, wie sie es immer getan hatte, wenn er etwas sagte, das sie nicht verstand. „Bin ich nicht?“
“Ich bin nicht in der Stimmung für Frage-Antwort-Spielchen. Erst Bael und jetzt du. Was auch immer du bist, du bist nicht Dorothy. Sie ist hundert Parseks weit weg, sie ist verheiratet und hat drei Kinder. Du bist nur eine Täuschung. Geh weg.“
Dorothy starrte nur auf ihre Füße und bewegte sich nicht. „Du liebst mich nicht mehr.“
„Schau“, sagte Ryan, „Ich gebe zu, du bist ein kluger Schwindel. Aber ich weiß, dass du nicht echt bist. Es ist nicht deine Schuld...du hast es versucht.“
„Nicht echt?“ Dorothy sah auf, ihre Augen rot und verweint, ihre Stimme zitterte. „Du kannst mich sehen und hören, oder? Wenn du ein wenig näher kommen würdest, könntest du mein Parfum riechen. Wenn du deine Hand ausstrecken würdest, würdest du mich berühren. Wenn du mich beißen würdest, würdest du mich schmecken. Wie echt muss ich denn sein?“ Ihr Appell grenzte an Hysterie.
Ryan zögerte. Sie musste eine Halluzination sein. Daran gab es überhaupt keinen Zweifel. Der gut ausgebildete Offizier in ihm wollte nach dem Kommunikator in seiner Hosentasche langen. Aber der Mann in ihm sagte nein. Und irgendein dritter Teil seiner Selbst wiederholte immer wieder: „Du bist ein Idiot.“ Aber welcher Teil war der Idiot? Er konnte doch nicht wirklich etwas lieben, was das Produkt seiner Einbildung war, das sich auf irgendeine Weise vor ihm materialisiert hatte. Diese Dorothy war kalt, unecht, ein Schatten-Produkt dieser mysteriösen Stadt.
Und plötzlich war sie in seinen Armen und fühlte sich sehr real an, sehr lebendig. Ihr Gesicht nach oben gedreht suchte seines. Ihre kleinen Brüste waren gegen ihn gedrückt, ihre Beine rieben fest an seinen, mit sanften Bewegungen, die eindeutig sexuell waren. Ryan versuchte, zu widerstehen, versuchte, sich selbst zu versichern, dass dies nicht passierte. Er hatte seine Lügen zur Wahl, aber die Dorothy in seinen Armen war irgendwie überzeugender. Ihre linke Hand streichelte das Haar an der rechten Seite seines Kopfes. Ihre rechte Hand fummelte gierig an den Knöpfen des Kragens seiner Uniform herum. Ihr Mund presste sich auf den seinen, öffnete sich und da schoss ihre kleine, kräftige Zunge heraus und strich über die Spitzen seiner Zähne.
Es gab nun keinen Zweifel mehr, konnte keinen mehr geben. Zur Hölle mit der Logik! Dies war echt. Es war kein Delirium seiner Sinne, sondern die echte Sache aus Fleisch und Blut. Er schwamm in einem Meer aus Gefühlen. Die beiden fielen zu Boden, der irgendwie gummiartig und widerstandsfähig wurde. Aber seine Gedanken hatten keine Chance, sich über diese Sache auszulassen, denn sein Körper ließ ihn nicht. Der Verstand hatte keine Chance gegen die Leidenschaft, wie schon immer, seit Jahrhunderten.
Er war sogar so versunken, dass er das hartnäckige Summen seines Kommunikators nicht einmal bemerkte.
***
Später stand Dorothy wieder auf. „Ich muss gehen”, sagte sie.
„Musst du?“
Sie nickte. „Aber ich komme jederzeit zurück, wenn du mich brauchst. Rufe mich einfach. Ich werde es wissen.“ Und weg war sie.
Ryan lag auf seinem Rücken und starrte hinauf in den Himmel. Er war viel dunkler als er vorher gewesen war, und schmerzte nicht so sehr in seinen Augen. Es musste später Nachmittag sein. In einigen Minuten würde er aufstehen und seine Erkundungen fortsetzen, aber im Moment war er zu gesättigt um sich zu bewegen. Selbst zu blinzeln erschien ihm wie eine gigantische Anstrengung...
„Amüsierst du dich?“ fragte eine bekannte Stimme.
Ryan drehte ruckartig seinen Kopf herum und sah Bael ein paar Meter entfernt stehen und grinsen. Rot vor Schuld, Scham und entrüstetem Ärger erhob er sich umständlich. „Was fällt dir ein, mir nachzuspionieren?“
„Tu ich nicht“, sagte Bael mit einem noch breiteren Grinsen. „Ich war nur in der Nähe und dachte, ich schaue eben vorbei. Und außerdem, ich könnte dir dieselbe Frage stellen, aber ich kenne die Antwort ja.“
Ryan war nicht sicher, was ihn mehr ärgerte – Baels Wortgewandtheit, oder seine eigene Unzulänglichkeit, wenn es darum ging, mit dem Deserteur fertig zu werden. Bevor ihm etwas einfiel, was er sagen könnte, fuhr Bael fort: „Ich nehme an, es war Sex.“
Ryans Gesichtsausdruck verriet ihn. „Das habe ich mir gedacht“, nickte Bael altklug. „Es scheint das zu sein, was die meisten von uns einsamen, männlichen Kundschafter-Typen am nötigsten brauchen. Es ist die eine Sache, die uns der Schiffscomputer nicht geben kann. Die Stadt weiß es, Jeff. Egal, wie sehr du versuchst, deine Gedanken zu verstecken, die Stadt weiß es.“
„Also glaubst du wirklich, dass sie lebt.“ Das war keine Frage.
„Ich weiß nicht. Es hängt davon ab, was du unter leben verstehst. Wenn du meinst, lebendig und atmend, das glaube ich nicht. Wenn du meinst sich dessen bewusst, was hier vorgeht, ja, das definitiv.“
„Aber wie—”
„Musst du ständig diese verdammten Fragen stellen?“ Nur für einen kurzen Moment gab es einen Riss in Baels Maske, der es Ryan ermöglichte, einen kurzen Blick auf die Unsicherheit unter der Oberfläche zu erhaschen. Dann war die Ausgeglichenheit wieder hergestellt, und Bael war wieder sein ungezwungen lässiges Selbst. „Akzeptiere doch einfach, was du hast, Jeff. Diese Stadt kann dir deine Träume geben. Sie möchte dir helfen. Ich weiß nicht, wie sie es macht; es ist mir egal. Wer auch immer sie erbaut hat, hat es so gemacht, das genügt mir.“
„Und wo sind sie jetzt? Die sie gebaut haben? Was ist mit ihnen passiert?“
Er versuchte, Baels Fassung noch einmal zu durchbrechen, aber diesmal versagte er. „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich haben sie sich an größere, bessere Dinge heran gemacht. Schade eigentlich, denn ich würde mich wirklich gerne bei ihnen bedanken.“
„Bedanken wofür?“, fragte Ryan zynisch. „Dass sie dich in einen Schlappschwanz verwandelt haben? Du sitzt einfach rum und lässt die Stadt alles für dich tun, nicht wahr? Wer will schon ein Mann sein, wenn man ein Schnorrer sein kann—”
„Bist du denn mehr Mann als ich, Jeff?“, antwortete Bael und was auch immer die Unruhe in ihm drinnen war, sie kam näher an die Oberfläche. „Sag mir, wer ist die Marionette hier? Wer springt jederzeit, wenn Java-10 ruft? Wer hält es nicht aus, länger als ein paar Sekunden von seiner Kommunkationseinheit getrennt zu sein? Wer von uns ist auf Befehl in der Stadt, und wer spaziert hier herum wie es ihm gefällt?“
„Du warst einmal ein guter Offizier, Bael“, sagte Ryan leise. Zumindest für einen Moment waren ihre Rollen vertauscht – Bael war in die Enge getrieben und Ryan war es, der ihn irritierte.
„Klar, war ich das“, schnappte Bael. „Ich habe Befehle befolgt und mein Leben für die liebe, alte Erde riskiert. Und was habe ich dafür bekommen? Eine Handvoll Medaillen, einen kleinen Zuschlag zu meinem Weihnachtsgeld jedes Jahr, eine schnell wachsende Rente. Nach einer Weile wird das alles bedeutungslos, Jeff. Aber nicht hier. Die Stadt will mich, braucht mich. Sie wurde gebaut, um Menschen zu dienen, um ihnen zu geben, was sie wollen. Sie möchte nur helfen. Ist das so schrecklich?“
„Ja ist es – wenn sie tun kann, was sie mit dir gemacht hat.“
Bael versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen. „Kämpfe nicht dagegen an, Jeff. Dies ist nur eine gut gemeinte Warnung. Die Stadt kann sich vor dir mühelos schützen. Sie kann dir deine Träume geben, klar; aber Albträume sind auch Träume. Glaub nicht, dass du alle deine Albträume auf einmal bekämpfen kannst.“ Bael drehte sich um, und ging weg.
Ryan stand da und sah ihm nach. Auch noch, als der Deserteur schon hinter einem Gebäude verschwunden war, stand Ryan regungslos. Drohte Bael nur, oder konnte die Stadt Albträume genauso wie Träume ausgraben? Er neigte dazu, Letzteres zu glauben. Wieder dachte er daran, wie sehr echt Dorothy gewesen war, und er erschauerte. Er hatte schon lange Zeit keine Albträume mehr gehabt, aber dennoch...dennoch.
Er holte den Kommunikator aus seiner Tasche und rief wieder Java-10. „Wieso hast du den letzten Anruf nicht angenommen?“ war die sofortige Antwort des Schiffs.
Vage erinnerte sich Ryan an das Summen, das von dem Kästchen gekommen war, während er mit Dorothy beschäftigt gewesen war. „Ich...Es tut mir leid“, stammelte er. Dann fand er sich, wie ein schuldiges Kind im Angesicht seiner strengen und wissenden Eltern, alle Details bezüglich allem, was geschehen war, seit er zuletzt mit dem Schiff gesprochen hatte, ausplappernd.
Java-10 hörte allen seinen Offenbarungen ungerührt zu. „Du hast bei diesem Spielchen deine Pflichten vernachlässigt“, rügte er ihn, als er fertig war.
„Ich weiß. Es wird nicht wieder passieren.“
„Sehr schön, aber das ist auch keine Entschuldigung dafür, dass es das erste Mal passierte.“ Dann wechselte die Maschine das Thema komplett. „Ein kohärentes Bild der Arbeitsweise der Stadt beginnt sich abzuzeichnen. Es scheint eine automatische Kraft oder Kräfte zu geben, die hinter den Kulissen arbeitet und sich dessen bewusst ist, was vor sich geht. Wir können offenbar annehmen, dass diese kontrollierende Kraft irgendeine Art von telepathischen Fähigkeiten besitzt, die es ihr ermöglichen, deine Wünsche zu erkennen, und dir Illusionen in deine Gedanken zu projizieren.“
„Es muss noch mehr geben. Der Stuhl, auf dem ich saß, war echt. Er hielt mein ganzes Gewicht aus. Die Frau war echt. Dies waren bestimmt keine Illusionen.“
Java-10 zögerte. Dann: „Es könnte auch angebracht sein, ein System für Materie-Energie-Transformation zu postulieren, das es den Kräften, die in der Stadt zugange sind, ermöglicht, Materie in jeglicher Form, die sie wünschen, zu erzeugen. Alle diese vorläufigen Schlüsse setzen unglaublich große technische Fähigkeiten seitens der Erbauer der Stadt voraus. Es scheint nun absolut notwendig, dass wir das Geheimnis der Stadt lüften.
„Es muss eine zentrale Steuereinheit geben, einen Ort, wo die höheren Gehirnfunktionen der Stadt sitzen. Du musst diese Stelle finden, und sie lahmlegen, ohne sie zu zerstören, sodass sie gefahrlos untersucht werden kann.“
„Aber wie soll ich das tun?“ protestierte Ryan.
„Im Moment gibt es nicht genug Daten, um eine solche Frage zu beantworten“, antwortete Java-10. „Du musst erst mehr über das System herausfinden.“
„Es könnte gefährlich werden.“ Ryan wiederholte Baels Drohung bezüglich der Albträume. „Kannst du nicht noch ein paar Männer herunter schicken, um mir zu helfen?“
Die Antwort war unmittelbar, und grausam in ihrer Unverblümtheit. „Nein. Wenn ein Mann das nicht schafft, dann sind die Chancen zu gering, dass eine Gruppe es schaffen könnte. Wenn die Stadt dich besiegt, dann wird sie auch jeden anderen besiegen, den wir hinunter schicken könnten. Wir können keine weiteren Leben riskieren. Wenn du versagst, dann muss die Stadt zerstört werden, egal wie wertvoll sie ist.“ Und ohne ihm auch nur viel Glück zu wünschen, unterbrach Java-10 die Verbindung.
***
Es war spät am Nachmittag. Der rote Stern, der für diese Welt die Sonne darstellte, ging unter und wurde zu einem aufgedunsenen Ball aus Blut, als er sich dem Horizont näherte. Sein Licht änderte die Färbung der gesamten Stadt und die Art, wie die Gebäude die makabren Farbtöne mit einem Gefühl von gruseliger Freude reflektierten, wirkte Unheil verkündend. Die ständig anwesende Brise wurde kühler, und Ryan, der im offenen Gelände stand, zitterte unwillkürlich.
Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen und wurde nach den ungewöhnlichen Ereignissen des Tages recht hungrig. Er griff nach seiner Nahrungsdose in seiner Überlebens-Tasche
und bemerkte hinten zu seiner Rechten eine große Tafel, scheinbar gedeckt für den Smörgåsbord eines reichen Mannes. Die verschiedenen angenehmen Düfte von geröstetem Schinken, Brathähnchen, gekochtem Hummer und gegrilltem Steak nahmen seine Nase in Beschlag. Hinter dem Fleisch konnte er als Beilagen Berge von Kartoffelpüree mit Butter sehen, Erbsen und
„Nein!“, sagte er laut. „Nein, du wirst mir das nicht mehr antun. Du hast mich einmal verführt, aber jetzt lasse ich mich nicht mehr hereinlegen.“ Er ging von der Tafel weg.
Die Tafel, auf Rädern, folgte ihm.
„Diesmal nicht“, wiederholte er. Er holte eine ungeöffnete Essensrationsdose hervor und winkte damit. „Ich habe diesmal mein eigenes Essen. Es ist vielleicht nicht so lecker wie deines, aber wenigstens hat es keine Klauseln.“
Ryan zog an der Lasche, um die Dose zu öffnen. Drinnen krabbelten auf dem Fleisch mehrere große, hässliche, schwarze Insekten. Instinktiv schleuderte er die Dose von sich. Die Tafel, beladen mit Essen, kam näher.
„Ist gut“, sagte Ryan dickköpfig, „dann bleibe ich eben hungrig für ein paar Stunden. So einfach gebe ich nicht auf. Lass Bael und die anderen deine Sklaven sein, aber auf mich brauchst du nicht zu zählen.“ Durch diese Ansage fühlte er sich sehr stolz auf seine eigene Integrität. Leider half das nicht, um seinen knurrenden Magen zu beruhigen.
Finde das Gehirnzentrum der Stadt, hatte Java-10 ihm aufgetragen. Einfacher gesagt als getan. Wo sollte er suchen? Das geographische Zentrum könnte ein logischer Ort sein, aber wie sollte er das finden? Er hatte keine Ahnung, wo er im Moment war, und selbst wenn er eine hätte, so hatte er keine Richtungsangaben. Es konnte keine Anhaltspunkte geben, in einer Stadt, die sich ständig veränderte, wo Gebäude sowohl ihre Form, wie auch ihre Farbe von Minute zu Minute veränderten.
Nachdem er schließlich beschlossen hatte, dass jede Richtung gleich gut oder schlecht war, begann Ryan zu gehen. Die Bankett-Tafel folgte ihm wie ein aufgeregter kleiner Hund. Er ignorierte sie und konzentrierte seinen Blick auf das was vor ihm lag.
Als die Dämmerung zur Dunkelheit wurde, gingen die Lichter der Stadt an. Nicht die weißen, sterilen, eintönigen Lichter von Metropolen auf der Erde, sondern Trugbilder von Helligkeit und Farbe, als wäre die Stadt zu einer einzigen großen Feuerwerksshow geworden. Lichter aller Farbtöne blinkten und leuchteten in einer Mischung aus geordneten und zufälligen Mustern. Hypnotisierende Wirbel und Kombinationen strichen in unendlicher Abfolge entlang der Seite eines Gebäudes hinauf und entlang eines anderen hinunter. Es gab keine Ecken, in denen sich die Dunkelheit hätte verstecken können, und so floh sie, und überließ die Stadt einer Helligkeit wie am Tage.
Ryan ignorierte die Lichter und lief weiter.
Schließlich gab der Tisch hinter ihm auf, und verschwand. Einer der früheren Erkunder der Stadt erschien aus einem Gebäude, mit einer Flasche in der Hand. Als er Ryan sah, winkte er freundlich und lud ihn ein, sich zu ihm zu gesellen.
Ryan ging an ihm vorbei.
“Jeffrey!”
Er konnte nicht anders, als sich bei diesem Ruf umzudrehen. Da, im Eingang eines der Gebäude, stand seine Mutter, die seit vier Jahren tot war. Sie trug ihre Haare lang, wie es modern gewesen war, als Ryan drei Jahre alt war, aber ihr Gesicht war das, das sie im Alter gehabt hatte. Sie streckte eine Hand nach ihm aus. „Komm zu mir, mein Sohn“, bat sie leise.
Sie ist nicht echt. Mutter ist tot. Dies ist eine Täuschung. Gefälscht. Illusion. Betrug.
Er drehte sich langsam um, um weiter zu gehen.
„Jeffrey! Jeffrey, mein Sohn, kennst du nicht einmal mehr deine eigene Mutter?“
Ryan blieb stehen und biss sich auf die Lippe, aber er sah sie nicht mehr an. Er wagte es nicht.
„Jeffrey, sieh mich an. Bitte!“
„Nein. Du bist eine Täuschung. Eine Täuschung, wie alles andere an diesem gottverdammten Ort. Geh weg und lass mich alleine!“
Sie rannte auf ihn zu, so gut sie konnte, ihr linkes Bein stärker belastend, wie sie es immer getan hatte, wegen ihrer Arthritis. Sie warf sich ihm zu Füßen wobei sie seinen Ärmel umklammerte. „Ich bin deine Mutter, Jeffrey“, weinte sie. „Sag, dass du mich kennst. Bitte! Du kennst deine Mutter.“ Ihre feuchten Augen sahen zu seinem Gesicht auf, und er wandte schnell seinen Blick ab.
„Lass LOS!“ rief er. Er schob sie von sich weg. Sie fiel hintenüber und ihr Kopf schlug hart am Boden auf. Es gab ein knackendes Geräusch, und Blut begann aus ihrem Kopf zu fließen, wo er aufgeschlagen war. Sie war völlig still, ihre Augen sahen zu ihm auf, wie ein toter Fisch. Er würgte, aber sein Magen war leer und nichts als der bittere Geschmack von Säure kam hoch.
Als seine Magenkrämpfe aufgehört hatten, richtete er sich auf und ging weiter, trotz der Tatsache, dass er ihre toten, starren Augen in seinem Rücken spüren konnte. Wenn er sich umdrehen würde, das wusste er, würde sie ihn ansehen. Dieses Wissen machte es schwer, sich nicht umzudrehen.
Ryan lief weiter.
***
Sie warteten auf ihn, als er um die Ecke bog. Bael und sieben der anderen Kundschafter, standen aufgereiht und blockierten den Weg. „Wenn du dich nicht an die Regeln hältst, darfst du nicht weiterspielen, Jeff“, sagte Bael ruhig.
„Lasst ihr mich durch?“
Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Nein, wir können dich nicht weiter gehen lassen.“
„Was soll ich dann jetzt tun?“
„Du hast die Wahl: entweder du kehrst um, oder du schließt dich uns an.“
„Und was ist mit meiner Mission hier?“
„Hör auf Zinnsoldat zu spielen, Jeff. Du kannst es besser.“
„Ich denke, ich möchte sehen, was hinter euch ist.“
„Wir sind zu acht, Jeff, du bist alleine.“
„Ja, aber ich habe eine Waffe.“
„Sie wird nicht funktionieren“, sagte Bael ruhig. „Nicht gegen uns. Die Stadt würde es nicht zulassen.“
Und Ryan wusste, dass er Recht hatte. Welche Macht auch immer die Kontrolle hatte, würde ihm nicht erlauben, etwas Wichtiges zu zerstören. Aber er musste sich irgendetwas nähern, sonst hätte man nicht so viel daran gesetzt, ihn aufzuhalten.
„Nun“, begann er langsam. Dann, mit einem kurzen Sprint, bewegte er sich auf die Männer zu. Der nächste Mann stellte sich ihm in den Weg. Ryan gab ihm einen schnellen Tritt in die Leiste und der Mann sank in die Knie, sodass Ryan Platz hatte, an ihm vorbei zu rennen. Ryan rannte und rannte weiter, die Gasse zwischen den Gebäuden entlang.
„Ihm nach!“ rief Bael – unnötiger Weise, denn die anderen hatten schon die Verfolgung aufgenommen. Erst konnten sie mithilfe ihrer Kenntnis des Grundrisses der Stadt mit ihm mithalten, aber die Verzweiflung verlieh Ryans Füßen Schnelligkeit. Er hörte für den Moment auf zu denken, und überließ es seinem Instinkt, ihn um die spitzen Ecken zu lotsen, die sein Vorstellungsvermögen überschritten. Er sah sich selbst auf eine solide Mauer zu rennen, nur damit, einen Moment bevor er hinein krachte, eine Öffnung erschien. Er raste durch Gebäude, über Treppen, überquerte schmale, gebogene Brücken hundert Meter in der Luft, und dann nach unten und hinaus. Hinein, hinaus, rund herum, vorbei; seine Schlangenlinien waren so willkürlich und so schnell wie er nur konnte. Seine Verfolger fielen weiter zurück, bis er sie schließlich nicht mehr sehen konnte. Dann waren auch ihre Schritte nicht mehr zu hören. Ryan blieb stehen.
Die Stille brach wieder herein, die Stille, die ihn anfangs in der Stadt willkommen geheißen hatte. Das einzige Geräusch war sein eigenes angestrengtes Luft Schnappen. Er sank auf die Knie, seine zitternden Beine konnten sein Gewicht nicht länger tragen. Dann lag er auf der Seite, als große Mengen Luft sich ihren Weg in seine Brust brannten.
Seine Hand glitt wieder in seine Hosentasche, und berührte den Kommunikator. Das kalte Metall-Kästchen hatte ihren beruhigenden Effekt auf seine mitgenommene Psyche. Es gab eine Erde. Es gab noch das Schiff im Orbit über der Stadt, bereit, ihm zu helfen. Er war nicht alleine gelassen in dieser Tortur, er war nur hier allein.
„Du hast noch kein Blut geleckt, Bael“, keuchte er leise.
„Ich habe es auch nicht versucht“, hörte er Baels Stimme. Ryan sah erschrocken auf. Über seinem Kopf hing, in der Luft, eine großer 3D-Bildschirm, der von Baels Gesicht ausgefüllt wurde. „Du brauchst nicht zu rennen, Jeff. Die Stadt kann mich jederzeit über deinen Aufenthaltsort informieren. Ich kann dich immer finden, wenn ich will. Aber wenn du alleine sein willst, dann ist das deine Entscheidung. Wir haben versucht, dich zu retten. Was immer jetzt passiert ist deine eigene Schuld. Tschüss.“ Der Bildschirm wurde schwarz.

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Geister  Frauen Und Andere Einbildungen Stephen Goldin
Geister, Frauen Und Andere Einbildungen

Stephen Goldin

Тип: электронная книга

Жанр: Современная зарубежная литература

Язык: на немецком языке

Издательство: TEKTIME S.R.L.S. UNIPERSONALE

Дата публикации: 16.04.2024

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О книге: GEISTER, FRAUEN & ANDERE EINBILDUNGEN ist eine umfassende Sammlung von Stephen Goldins alleine verfassten Kurzgeschichten, die die meisten Geschichten aus der früheren Sammlung THE LAST GHOST AND OTHER STORIES enthält. (Die ”Angel in Black”-Geschichten wurden aus diesem Band heraus genommen.) Diese Geschichten decken die gesamte Bandbreite von Humor bis Pathos ab, und sind garantiert unterhaltend.

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