Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке

Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке
Густав Майринк
Чтение в оригинале (Каро)Klassische Literatur (Каро)
Густав Майринк (1868–1932) – австрийский писатель-экспрессионист. Работал в жанре «черного романтизма», продолжая традиции таких писателей, как Эдгар По, Шарль Бодлер, Оскар Уайльд. Действие романа «Вальпургиева ночь» (1917) разворачивается в Чехии. Прага становится местом столкновений немецких бюрократов, находящихся в осаде в старинном замке над рекой Влтава, и чешских революционеров, занявших город внизу. История, миф и политическая реальность переплетаются в эпизоде, когда восставшие штурмуют замок, чтобы короновать бедного скрипача, «Императора мира». В предлагаемой вниманию читателей книге приводится неадаптированный текст романа на языке оригинала с комментариями и словарем.

Густав Майринк
Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке

Gustav Meyrink
Walpurgisnacht
© Антология, 2005
© КАРО, 2005

Der Schauspieler Zrcadlo
Ein Hund schlug an.
Einmal. Ein zweites Mal.
Dann lautlose Stille, als ob das Tier in die Nacht hineinhorche, was geschehen werde.
„Mir scheint, der Brock hat gebellt“, sagte der alte Baron Konstantin Elsenwanger, „wahrscheinlich kommt der Herr Hofrat.“
„Das ist doch, meiner Seel’, kein Grund nicht zum Bellen“, warf die Gräfin Zahradka, eine Greisin mit schneeweißen Ringellocken, scharfer Adlernase und buschigen Brauen über den großen, schwarzen, irrblickenden Augen, streng hin, als ärgere sie sich über eine solche Ungebührlichkeit, und mischte einen Stoß Whistkarten noch schneller, als sie es ohnehin bereits eine halbe Stunde hindurch getan hatte.
„Was macht er eigentlich so den ganzen lieben Tag lang?“ fragte der kaiserliche Leibarzt Thaddäus Flugbeil, der mit seinem klugen, glattrasierten, faltigen Gesicht über dem altmodischen Spitzenjabot wie ein schemengleicher Ahnherr der Gräfin gegenüber in einem Ohrenstuhl kauerte, die unendlich langen, dürren Beine affenhaft fast bis zum Kinn emporgezogen.
Den „Pinguin“ nannten ihn die Studenten auf dem Hradschin[1 - der Hradschin – Градчаны, исторический центр Праги] und lachten immer hinter ihm drein, wenn er Schlag 12 Uhr mittags vor dem Schlosshof in eine geschlossene Droschke stieg, deren Dach erst umständlich auf- und wieder zugeklappt werden musste, bevor seine fast zwei Meter hohe Gestalt darin Platz gefunden hatte. – Genauso kompliziert war der Vorgang des Aussteigens, wenn der Wagen sodann einige hundert Schritte weiter vor dem Gasthaus „Zum Schnell“ haltmachte, wo der Herr kaiserliche Leibarzt mit ruckweisen, vogelhaften Bewegungen ein Gabelfrühstück aufzupicken pflegte. —
„Wen meinst du“, fragte der Baron Elsenwanger zurück, „den Brock oder den Herrn Hofrat?“
„Den Herrn Hofrat natürlich. Was macht er so den ganzen Tag?“
„No. Er spielt sich halt mit den Kindern in den Choteks- Anlagen.“
„Mit ‘die’ Kinder“, verbesserte der Pinguin.
„Er – spielt – sich – mit – denen – Kindern“, fiel die Gräfin verweisend ein und betonte jedes Wort mit Nachdruck. Die beiden alten Herren schwiegen beschämt.
Wieder schlug der Hund im Park an. Diesmal dumpf, fast heulend.
Gleich darauf öffnete sich die geschweifte, dunkle, mit einer Schäferszene bemalte Mahagonitür, und der Herr Hofrat Kaspar Edler von Schirnding trat ein – wie gewöhnlich, wenn er zur Whistpartie ins Palais Elsenwanger kam, mit engen schwarzen Hosen angetan und den ein wenig rundlichen Leib in einen Biedermeiergehrock von hellem Braun aus wunderbar weichem Tuch gehüllt. Hastig wie ein Wiesel und ohne ein Wort zu verlieren, lief er auf einen Sessel zu, stellte seinen gradkrempigen Zylinderhut darunter auf den Teppich und küsste sodann der Gräfin zeremoniell die Hand zur Begrüßung.
„Warum er jetzt noch immer bellt?“ brummte der Pinguin nachdenklich.
„Diesmal meint er den Brock“, erläuterte die Gräfin Zahradka mit einem zerstreuten Blick auf Baron Elsenwanger.
„Herr Hofrat sehen so schweißbedeckt aus. Dass Sie sich nur nicht verkühlen!“ rief dieser besorgt, machte eine Pause und krähte dann plötzlich in arienhaften Schwingungen in das finstere Nebenzimmer, das sich daraufhin wie durch Zauberschlag erhellte:
„Bosena, Bosena, Bo-schenaah, bitt’ Sie, bring Sie, prosim, das Supperläh[2 - das Supperläh (искаж. англ.) – ужин]!“
Die Gesellschaft begab sich in den Speisesaal und nahm um den großen Esstisch herum Platz.
Nur der Pinguin stolzierte steif an den Wänden entlang, betrachtete bewundernd, als sähe er sie heute zum ersten Mal, die Kampfszenen zwischen David und Goliath auf den Gobelins und betastete die prachtvollen, geschweiften Maria-Theresia-Möbel mit Kennerhänden.
„Ich war unten! In der Welt!“ platzte der Hofrat von Schirnding heraus und betupfte seine Stirn mit einem riesigen, rot-gelb-gefleckten Taschentuch. „Und bei der Gelegenheit hab’ ich mir die Haare schneiden lassen.“ – er fuhr sich mit dem Finger hinter den Kragen, als jucke ihn der Hals.
Derartige auf einen angeblich nur schwer zu bändigenden Haarwuchs abzielende Bemerkungen pflegte er jedes Vierteljahr zu machen, in dem Wahn, man wisse nicht, dass er Perücken trage – einmal langlockige, dann wieder kurzgeschorene – , und immer bekam er auch in solchen Fällen staunenerfülltes Gemurmel zu hören. Aber diesmal blieb es aus: Die Herrschaften waren zu verblüfft, als sie vernahmen, wo er gewesen sei.
„Was? Unten? In der Welt? In Prag? Sie?“ Der kaiserliche Leibarzt Flugbeil war erstaunt herumgefahren. „Sie?“
Den beiden anderen blieb der Mund offen. „In der Welt! Unten! In Prag!“
„Da – da haben Sie ja ieber die Brücke missen!“ brachte die Gräfin endlich stockend heraus. „Was denn, wenn sie eingestirzt wäre?!“
„Eingestirzt!! No servus!“ krächzte Baron Elsenwanger und wurde blass. „Unberufen“ – er ging zittrig zur Ofennische, vor der noch aus der Winterszeit her ein Scheit Holz lag, nahm es, spuckte dreimal darauf und warf es in den kalten Kamin – „Unberufen.“
Bosena, das Dienstmädchen, in zerlumpten Kittel, ein Kopftuch um und barfuß, wie es in altmodischen Prager Patrizierhäusern üblich ist, brachte eine prunkvolle Schüssel aus schwerem getriebenem Silber herein.
„Aha! Wurstsuppe!“ brummte die Gräfin und ließ befriedigt ihre Lorgnette fallen. – Sie hatte die Finger des Mädchens, die in viel zu weiten, weißen Glacéhandschuhen staken und in die Brühe hineinhingen, für Würste gehalten. —
„Ich bin mit – der Elektrischen gefahren“, stieß der Herr Hofrat gepresst hervor, immer noch voll Aufregung des überstandenen Abenteuers eingedenk.
Die anderen wechselten einen Blick: Sie fingen an, seine Worte zu bezweifeln. Nur der Leibarzt zeigte ein steinernes Gesicht.
„Ich war vor dreißig Jahren das letzte Mal unten – in Prag!“ stöhnte der Baron Elsenwanger und band sich kopfschüttelnd die Serviette um; die beiden Zipfel standen hinter seinen Ohren hervor und verliehen ihm das Aussehen eines furchtsamen, großen, weißen Hasen. „Damals, als mein Bruder selig in der Teinkirche beigesetzt wurde.“
„Ich war ieberhaupt mein Lebtag noch nicht in Prag“, erklärte Gräfin Zahradka schaudernd. „Das könnt mich so haben! – Wo sie meine Vorfahren auf dem Altstädter Ring hingerichtet haben!“
„Nun, das war damals im Dreißigjährigen Krieg, Gnädigste“, suchte sie der Pinguin zu beruhigen. „Das ist schon lange her.“
„Ach was – ich denk’ es noch wie heite. Ieberhaupt die verfluchten Preißen!“ – Die Gräfin starrte geistesabwesend in ihren Suppenteller, befremdet, dass keine Würste darin waren; dann funkelte sie durch ihre Lorgnette über den Tisch, ob die Herren sie ihr vielleicht weggeschnappt hätten.
Einen Augenblick lang versank sie in tiefes Nachdenken und murmelte vor sich hin: „Blut, Blut. Wie das herausspritzt, wenn man einem Menschen den Kopf abhaut. – Dass Sie sich nicht gefirchtet haben, Herr Hofrat?! Was, wenn Sie unten in Prag den Preißen in die Hände gefallen wären?“ fuhr sie laut, zu dem Edlen von Schirnding gewendet, fort.
„Den Preißen? – Wir gehen doch jetzt Hand in Hand mit den Preißen!“
„So? Ist der Krieg also endlich aus! No ja, der Windischgrätz, der hat’s ihnen halt wieder amal gegeben.“
„Nein, Gnädigste, wir sind mit die Preißen“ – meldete sich der Pinguin – „will sagen: mit ‘denen’ Preißen – schon seit drei Jahren gegen die Russen verbündet und – “ („Ver- bin-dät!“-bekräftigte der Baron Elsenwanger. -) „– und kämpfen Schulter an Schulter mit ihnen. – Er ist – “ Er brach höflich ab, als er das ironische, ungläubige Lächeln der Gräfin bemerkte.
Das Gespräch stockte, und man hörte eine halbe Stunde lang nur noch das Klappern der Messer und Gabeln oder das leise klatschende Geräusch, wenn Bosena mit ihren nackten Füßen um den Tisch herumging und neue Speisen auftrug. —
Baron Elsenwanger wischte sich den Mund: „Herrschaften! Wollen wir jetzt zum Whist – ?“
Ein dumpfes, langgezogenes Geheul klang durch die Sommernacht aus dem Garten herauf und schnitt ihm die Rede ab – :
„Jesus, Maria – ein Vorzeichen! Der Tod ist im Haus!“ – „Brock! Mistvieh, verfluchtes. Kusch dich!“ hörte man die halblaute Stimme eines Dieners unten im Park schimpfen, als der Pinguin die schweren Atlasvorhänge beiseite geschoben und die Glastür dahinter, die auf die Veranda führte, geöffnet hatte. —
Eine Flut von Mondlicht ergoss sich in das Zimmer, und kühler Luftzug voll Akazienduft machte die Kerzenflammen in den gläsernen Kronleuchtern flackern und schwelen.
Auf dem kaum handbreiten Sims der hohen Parkmauer, hinter der ein Dunstmeer aus dem tief unten jenseits der Moldau schlummernden Prag rötlichen Dunst empor zu den Sternen hauchte, schritt langsam und aufrecht ein Mann, die Hände tastend vorgestreckt wie ein Blinder – bald gespenstisch halb verdeckt durch die silhouettenhafte Schlagschatten der Baumäste, dass es schien, als sei er aus glitzerndem Mondlicht geronnen, dann wieder grell beschienen, wie frei schwebend über dem Dunkel.
Der kaiserliche Leibarzt Flugbeil traute seinen Augen nicht: Eine Sekunde lang glaubte er, er träume, dann brachte ihn das plötzliche, wütende Aufbellen des Hundes zur Besinnung – er hörte einen gellenden Schrei, sah die Gestalt auf dem Sims schwanken und, wie von einem lautlosen Windstoß weggeweht, verschwinden.
Das Prasseln und Brechen von Zweigen und Gebüsch verriet ihm, dass der Mann in den Garten gefallen war. —
„Mörder, Einbrecher! – Man muss die Wache holen!“ zeterte der Edle von Schirnding, der auf den Schrei hin mit der Gräfin aufgesprungen und zur Tür geeilt war.
Konstantin Elsenwanger hatte sich wimmernd auf die Knie geworfen, das Gesicht in den Sitzpolstern seines Lehnstuhls vergraben, und betete, in den gefalteten Händen noch ein gebratenes Hühnerbein, das Vaterunser.
Auf die schrillen Befehle des kaiserlichen Leibarztes, der wie ein riesiger nächtlicher Vogel mit federlosen Flügelstümpfen von der Verandabrüstung hinab in die Finsternis gestikulierte, kam die Dienerschaft aus dem Portierhäuschen in den Park gelaufen und durchsuchte mit Windlichtern, wild durcheinanderrufend, die dunklen Bosketts. Der Hund schien den Eindringling gestellt zu haben, denn er bellte laut und anhaltend in regelmäßigen Intervallen.
„No alsdann, was ist denn, habts den preißischen Kosaken endlich?“ zürnte die Gräfin, die von Anfang an nicht die Spur von Aufregung oder Angst gezeigt hatte, durch ein offenes Fenster hinunter.
„Heilige Muttergottes, er hat den Hals gebrochen!“ hörte man das Dienstmädchen Bosena jammernd aufkreischen; dann trugen die Leute den leblosen Körper eines Menschen von dem Fuß der Mauer her in den Lichtschein, den das helle Zimmer hinaus auf den Rasenplatz warf.
„Bringt ihn herauf! Rasch! Bevor er verblutet“, befahl die Gräfin kalt und ruhig, ohne auf das Gewinsel des Hausherrn zu achten, der entsetzt dagegen protestierte und verlangte, man solle den Toten über die Mauern den Abhang hinunterwerfen – ehe er wieder lebendig werden könne.
„Bringt ihn wenigstens hier hinein ins Bilderzimmer“, flehte Elsenwanger, drängte die Greisin und den Pinguin, der einen der brennenden Armleuchter ergriffen hatte, in den Ahnensaal und verschloss die Tür hinter ihnen.

Außer ein paar geschnitzten Stühlen mit hohen vergoldeten Lehnen und einem Tisch standen keinerlei Möbel in dem langgezogenen, gangartigen Raum – der dumpfe morsche Geruch und die Staubschicht auf dem Steinboden verrieten, dass er nie gelüftet wurde und seit langem nicht mehr betreten worden war.
Die lebensgroßen Gemälde darin waren ohne Rahmen in die Täfelungen der Wände eingelassen: Porträts von Männern in Lederkollern, Pergamentrollen gebieterisch in den Händen haltend – Frauen dazwischen mit Stuartkragen und Puffen an den Ärmeln – ein Ritter in weißem Mantel mit Malteserkreuz, eine aschblonde junge Dame im Reifrock, Schönheistpflästerchen auf Wange und Kinn, ein grausames, wollüstig-süßes Lächeln in den verderbten Zügen, mit wundervollen Händen, schmaler, gerader Nase, feingeschnittenen Nüstern und feinen, hochgeschwungenen Brauen über den grünlichblauen Augen – eine Nonne im Habit der Barnabiterinnen – ein Page – ein Kardinal mit asketischen, mageren Fingern, bleigrauen Lidern und versunkenem, farblosem Blick. So standen sie in ihren Nischen, dass es aussah, als kämen sie aus dunklen Gängen herbei ins Zimmer, aufgeweckt nach jahrhundertelangem Schlaf infolge des flackernden Glanzes der Kerzen und der Unruhe im Haus. – Bald schienen sie sich heimlich verbeugen zu wollen voll Vorsicht, dass nicht ein Rascheln der Kleider sie verrate – schienen die Lippen zu bewegen und lautlos wieder zu schließen, mit den Fingern zu zucken oder die Mienen hochzuziehen, um sofort in Starrheit zu versinken, als hielten sie den Atem an und ließen ihr Herz stillstehen, wenn der Blick der beiden Lebenden sie flüchtig streifte.
„Sie werden ihn nicht retten können, Flugbeil“, sagte die Gräfin und sah wartend unverwandt zur Tür. „Es ist wie damals. Wissen Sie! Er hat den Dolch im Herzen stecken. – Sie werden wieder sagen: Hier ist leider jede menschliche Kunst am Ende.“
Der kaiserliche Leibarzt verstand im ersten Moment nicht, was sie meinte. Dann begriff er mit einemmal. – Er kannte das an ihr. Sie verwechselte die Vergangenheit mit der Gegenwart – pflegte dergleichen zuweilen zu tun.
Dasselbe Erinnerungsbild, das ihr Gedächtnis verwirrte, wurde plötzlich auch in ihm lebendig: Vor vielen, vielen Jahren hatte man in ihrem Schloss auf dem Hradschin ihren Sohn erstochen ins Zimmer hineingetragen. Und vorher ein Schrei im Garten, das Bellen eines Hundes – alles genau wie heute. Wie jetzt hier im Raum waren auch damals Ahnenbilder an den Wänden gehangen und war ein silberner Armleuchter auf dem Tisch gestanden. – Einen flüchtigen Augenblick lang war der Leibarzt so verwirrt, dass er nicht mehr wusste, wo er war. Die Erinnerung hielt ihn so gefangen, dass es ihm gar nicht wie Wirklichkeit vorkam, als man den Verunglückten zur Tür hereinbrachte und vorsichtig niederlegte. Er suchte unwillkürlich nach Worten des Trostes für die Gräfin wie einst, bis ihm mit einem Schlag klar bewusst wurde, dass es doch nicht ihr Sohn war, der hier lag, und dass statt ihrer jugendlichen Erscheinung von damals eine Greisin mit weißen Ringellocken am Tisch stand. —
Eine Erkenntnis, schneller als ein Gedanke und schneller, als dass er sie richtig hätte erfassen können, durchzuckte ihn und ließ das dumpfe, rasch verdämmernde Gefühl in ihm zurück, dass die „Zeit“ nichts als eine diabolische Komödie sei, die ein allmächtiger unsichtbarer Feind dem menschlichen Gehirn vorgaukelt.
Nur die einzige Furcht blieb ihm als Ernte: dass er blitzartig mit dem inneren Empfinden einen Moment lang begriffen hatte – was er früher niemals richtig zu verstehen fähig gewesen war – , nämlich die seltsamen befremdlichen Seelenzustände der Gräfin, die bisweilen sogar historische Ereignisse aus der Zeit ihrer Ahnen als gegenwärtig empfand und mit ihrem Alltagsleben unentwirrbar zu verknüpfen pflegte.
Er empfand es wie einen unwiderstehlichen Zwang, dass er sagen musste: Wasser bringen! Verbandsseug! – dass er sich wieder, wie damals, herabbeugte und nach den Aderlassschnepper in seiner Brusttasche griff, den er aus alter, längst überflüssig gewordener Gewohnheit immer bei sich trug.
Erst als der Atemhauch aus dem Munde des Ohnmächtigen seine prüfenden Finger traf und sein Blick zufällig auf die nackten, weißen Schenkel Bosenas fiel, die mit der den böhmischen Bauernmädchen eigentümlichen, schamfreien Ungeniertheit sich mit emporgerutschtem Rock niedergekauert hatte, um besser sehen zu können – kam er wieder völlig ins Gleichgewicht: Das Bild der Vergangenheit löste sich angesichts der fast schreckhaften Gegensätze zwischen blühendem jungem Leben, der Totenstarre des Bewusstlosen, den schemenhaften Gestalten der Ahnengemälde und den greisenhaft gefurchten Zügen der Gräfin wie ein verdunstender Schleier von der Gegenwart.
Der Kammerdiener stellte den Leuchter mit den brennenden Kerzen auf den Boden, und ihr Schein erhellte das eigentümlich charakteristische Gesicht des Verunglückten, der – die Lippen unter dem Einfluss der Ohnmacht aschfarben und widernatürlich abstechend von den grellrot geschminkten Wangen – eher der wächsernen Figur einer Schaubude als einem Menschen glich.
„Heiliger Wenzel, es ist der Zrcadlo!“ rief das Dienstmädchen und zog – wie unter der Empfindung, als habe das Pagenporträt in der Wandnische infolge des Lichtflackerns plötzlich ein begehrliches Auge auf sie geworfen – züchtig ihren Rock über die Knie.
„Wer ist s?“ fragte die Gräfin erstaunt.
„Der Zrcadlo – der „Spiegel’“, erklärte der Kammerdiener, den Namen Zrcadlo aus dem Tschechischen ins Deutsche übersetzend, „mir nennt ihn so hier heroben auf dem Hradschin, aber mir weiß nicht, ob er wirklich so heißt. – Er ise sich Aftermieter bei der – “ er stockte verlegen, „bei der – no, halt bei der ‘böhmischen Liesel’.“
„Bei wem?“
Das Dienstmädchen kicherte in den vorgehaltenen Arm, und auch das übrige Gesinde verbiss mühsam das Lachen. Die Gräfin stampfte mit dem Fuße auf:
„Bei wem, will ich wissen!“
„Die „böhmische Liesel“ war in früheren Jahren eine berühmte – Hetäre“, nahm der Leibarzt das Wort und richtete sich an dem Verunglückten auf, der bereits die ersten Lebenszeichen von sich gab und mit den Zähnen knirschte. „Ich wusste gar nicht, dass sie noch lebt und sich auf dem Hradschin herumtreibt; sie muss ja uralt sein. Sie wohnt wohl – “ – „in der Totengasse, da, wo die schlechten Madeln alle beisamm’ sind“, bekräftigte Bosena eifrig.
„So geh sie das Frauenzimmer holen!“ befahl die Gräfin. Dienstbeflissen eilte das Mädchen hinaus.

Inzwischen hatte sich der Mann aus seiner Betäubung erholt, starrte eine Weile in die Kerzenflammen und stand dann langsam auf, ohne die geringste Notiz von seiner Umgebung zu nehmen.
„Glaubt ihr, dass er hat einbrechen wollen?“ fragte die Gräfin halblaut das Gesinde.
Der Kammerdiener schüttelte den Kopf und tupfte sich vielsagend auf die Stirn, um anzudeuten, dass er ihn für wahnsinnig halte.
„Meines Erachtens handelt es sich um einen Fall von Schlafwandeln“, erklärte der Pinguin. „Solche Kranke pflegen bei Vollmond von einem unerklärlichen Wandertrieb befallen zu werden, in dem sie dann, ohne sich dessen bewusst zu sein, allerhand seltsame Handlungen begehen, Bäume, Häuser und Mauern erklettern und oft auf den schmalsten Stegen und in schwindelnder Höhe, zum Beispiel auf Dachrinnen, mit einer Sicherheit einherschreiten, die ihnen bestimmt mangeln würde, wenn sie wach wären. – Holla, Sie, Pane Zrcadlo“, wandte er sich an den Patienten, „glauben Sie, sind Sie jetzt so weit bei sich, dass Sie nach Hause gehen können?“
Der Mondsüchtige gab keine Antwort; trotzdem schien er die Frage gehört, wenn auch nicht verstanden zu haben, denn er drehte langsam den Kopf nach dem kaiserlichen Leibarzt und blickte ihm mit leeren, unbeweglichen Augen ins Gesicht.
Der Pinguin fuhr unwillkürlich zurück, strich sich ein paarmal nachdenklich über die Stirn, als stöberte er in seinen Erinnerungen, und murmelte: „Zrcadlo? Nein. Der Name ist mir fremd. – Aber ich kenne diesen Menschen doch! – Wo hab’ ich ihn nur gesehen?!“
Der Eindringling war hochgewachsen, hager und dunkelhäutig; langes, trockenes, graues Haar hing ihm wirr um den Schädel. Das schmale, bartlose Gesicht mit der scharfgeschnittenen Hakennase, der fliehenden Stirn, den eingesunkenen Schläfen und dem verkniffenen Lippen, dazu die Schminke auf den Wangen und der schwarze, abgetragene Samtmantel – alles das wirkte durch die Schroffheit des Widerspiels, als habe ein wüster Traum und nicht das Leben selbst diese Gestalt in den Raum gestellt.
„Er sieht aus wie ein Pharao der alten Ägypter, der die Verkleidung eines Komödianten gewählt hat, um zu verbergen, dass seine Mumie unter der Maske steckt“, schoss dem kaiserlichen Leibarzt ein krauser Gedanke durch den Kopf. „Unbegreiflich, dass ich mich nicht entsinnen kann, wo ich diesen doch so auffallenden Zügen begegnet bin?“
„Der Kerl ist tot“, brummte die Gräfin, halb für sich, halb zu dem Pinguin gewendet, und studierte furchtlos und ungeniert, als handle es sich um die Betrachtung einer Statue, in unmittelbarster Nähe durch ihre Lorgnette das Antlitz des aufrecht vor ihr stehenden Mannes – „solche verschrumpelte Augäpfel kann nur eine Leiche haben. – Mir scheint, er kann sie ieberhaupt nicht bewegen, Flugbeil! – So fircht Er sich doch nicht, Konstantin, wie ein altes Weib!“ rief sie laut zur Speisezimmertür, in deren langsam sich öffnender Spalte die bleichen, erschreckten Gesichter des Hofrats Schirnding und des Barons Elsenwanger aufgetaucht waren, „kommen Sie doch beide herein, Sie sehen ja: Er beißt nicht.“
Der Name Konstantin wirkte wie eine seelische Erschütterung auf den Fremden. Er zitterte einen Augenblick heftig von Kopf bis Fuß, und der Ausdruck seiner Züge wechselte blitzartig gleich dem eines Menschen, der, in unglaublicher Weise Herr seiner Gesichtsmuskeln, vor einem Spiegel Fratzen schneidet. – Als seien die Nasen-, Backen- und Kinnknochen unter der Haut plötzlich weich und biegsam geworden, verwandelte sich sein Mienenspiel aus der soeben hochmütig dreinblickenden starren Maske eines ägyptischen Königs, eine ganze Reihe sonderbarer Phasen durchlaufend, nach und nach in eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem Familientypus der Elsenwanger.
Kaum eine Minute später hatte eine gewisse bleibende Physiognomie sein bisheriges Aussehen derart verdrängt und sich in seinen Zügen festgesetzt, dass die Anwesenden zu ihrem größten Staunen momentelang glaubten, einen völlig anderen vor sich zu haben.
Den Kopf auf die Brust gesenkt und die eine Wange wie von einer Zahngeschwulst zum linken Auge, das darunter klein und stechend erschien, emporgezogen, trippelte er eine Weile mit krummen Knien, die Unterlippe vorstreckend, unschlüssig auf dem Tisch herum, tastete dann an seinem Körper nach Taschen und wühlte scheinbar darin.
Endlich erblickte er den Baron Elsenwanger, der sich, sprachlos vor Entsetzen, an den Arm seines Freundes Schirnding geklammert hielt, nickte ihm zu und meckerte: „Konstantindl, gut, dass du kommst, den ganzen Abend hab’ ich dich schon gesucht.“
„Jezis, Maria und Josef“, heulte der Baron und floh zur Tür, „der Tod ist im Haus. Hilfe, Hilfe, da ist ja mein seliger Bruder Bogumil!“
Auch der Edle von Schirnding, der Leibarzt und die Gräfin, die alle drei den verstorbenen Baron Bogumil Elsenwanger bei dessen Lebzeiten gekannt hatten, waren bei dem Ton der Stimme des Schlafwandlers zusammengezuckt, so überaus ähnlich klang sie der des Verblichenen.
Ohne sich im geringsten um sie zu kümmern, eilte Zrcadlo jetzt geschäftig im Zimmer hin und her und rückte an eingebildeten Gegenständen, die offenbar nur er sah, die aber vor dem geistigen Auge der Zuschauer leibhaftige Gestalt anzunehmen schienen, so plastisch und eindringlich waren seine Bewegungen, mit denen er sie anfasste, hob und wegstellte.
Als er dann plötzlich aufhorchte, die Lippen spitzte, zum Fenster trippelte und ein paar Takte einer Melodie pfiff, als säße dort ein Star in einem Käfig – aus einer imaginären Kassette einen ebenso unsichtbaren Mehlwurm nahm und ihn seinem Liebling hinhielt, standen bereits alle so unter dem Bann des Eindrucks, dass sie vorübergehend ganz vergaßen, wo sie waren und sich in die Umgebung zurückversetzt wähnten, in der der tote Baron Bogumil noch hier gehaust hatte.
Erst als Zrcadlo, vom Fenster zurückkommend, wieder in den Lichtschein trat und der Anblick seines schäbigen schwarzen Samtmantels die Illusion für einen Augenblick zerstörte, fasste sie das Grauen an, und sie warteten stumm und widerstandslos, was er weiter beginnen werde.
Zrcadlo überlegte eine Weile, während der er wiederholt aus einer unsichtbaren Dose schnupfte, rückte sodann einen der geschnitzten Sessel in die Mitte des Zimmers vor einen eingebildeten Tisch, setzte sich und begann, vorgebeugt und den Kopf schief gelegt, in der Luft zu schreiben, nachdem er vorher eine imaginäre Gänsefeder genommen, geschnitten und gespalten hatte – wiederum mit so erschreckend das Leben nachahmender Deutlichkeit, dass man sogar das Knirschen des Messers zu hören vermeinte. Mit angehaltenem Atem sahen ihm die Herrschaften zu – das Gesinde hatte bereits vorher auf einen Wink des Pinguins das Zimmer auf Zehenspitzen verlassen – ; nur von Zeit zu Zeit unterbrach ein angstvolles Stöhnen des Barons Konstantin, der von seinem „toten Bruder“ den Blick nicht zu wenden vermochte, die tiefe Stille.
Endlich schien Zrcadlo mit dem Brief, oder was er sonst zu schreiben sich einbildete, fertig zu sein, denn man sah ihn einen komplizierten Schnörkel – offenbar unter seinen Namenszug – setzen. Geräuschvoll schob er den Stuhl zurück, ging zur Wand, suchte lange in einer Bildernische, in der er tatsächlich einen – wirklichen Schlüssel fand, drehte an einer Holzrosette an der Täfelung, sperrte ein dahinter sichtbar werdendes Schloss auf, zog ein Fach heraus, legte seinen „Brief“ hinein und drückte die Schublade in die Wand zurück.
Die Spannung der Zuschauer hatte sich so gesteigert, dass niemand die Stimme Bosenas hörte, die draußen vor der Tür halblaut rief: „Milostpane! Gnä’ Herr! Dirfen wir herein?“
„Haben – haben Sie’s gesehen? Flugbeil, haben Sie’s auch gesehen? War das nicht eine wirkliche Schublade, was mein Bruder selig da aufgemacht hat?“ brach Baron Elsenwanger stockend und schluchzend vor Aufregung das Schweigen; „ich hab’ doch gar nicht geahnt, dass da eine Schublad ist.“ Jammernd und die Hände ringend, brach er los: „Bogumil, um Gottes willen, ich hab’ dir doch nichts getan! Heiliger Vaclav, vielleicht hat er mich enterbt, weil ich seit dreißig Jahren nicht in der Teinkirche war!“
Der kaiserliche Leibarzt wollte zur Wand gehen und nachsehen, aber ein lautes Klopfen an der Tür hielt ihn davon ab.
Gleich darauf stand eine hohe, schlanke, in Fetzen gehüllte Weibsperson im Zimmer, die von Bosena als die „böhmische Liesel“ vorgestellt wurde.
Ihr Kleid, ehemals kostbar und mit Schmelz besetzt gewesen, verriet noch immer durch seinen Schnitt und wie es sich um Schultern und Hüften legte, welche Sorgfalt auf seine Herstellung verwandt worden war. Der bis zur Unkenntlichkeit zerknüllte und von Schmutz starrende Besatz an Hals und Ärmeln bestand aus echten Brüsseler Spitzen.
Das Frauenzimmer mochte hoch in den Siebzigern sein, aber immer noch wiesen ihre Züge trotz der grauenhaften Verwüstung durch Leid und Armut die Spuren einstiger großer Schönheit auf.
Eine gewisse Sicherheit im Benehmen und die ruhige, beinahe spöttische Art, mit der sie die drei Herren ansah – die Gräfin Zahradka würdigte sie überhaupt keines Blickes – ließen darauf schließen, dass ihr die Umgebung in keiner Weise imponierte.
Sie schien sich eine Zeitlang an der Verlegenheit der Herren, die sie offenbar aus ihrer Jugendzeit her genauer kannten, als sie vor der Gräfin merken lassen wollten, zu weiden, denn sie schmunzelte vielsagend, kam aber dann dem kaiserlichen Leibarzt, der etwas Unverständliches zu stottern begann, mit der höflichen Frage zuvor:
„Die Herrschaften haben nach mir geschickt; darf man wissen, worum es sich handelt?“
Verblüfft über das ungewöhnlich reine Deutsch und die wohlklingende, wenn auch ein wenig heisere Stimme, nahm die Gräfin ihre Lorgnette vor und musterte mit funkelnden Augen die alte Prostituierte. Aus der Befangenheit der Herren schloss sie mit richtigem weiblichem Instinkt sofort auf die wahre Ursache und rettete die peinlich gewordene Situation mit einer Reihe rascher, scharfer Gegenfragen:
„Dieser Mann dort“ – sie deutete auf Zrcadlo, der, das Gesicht zur Wand gekehrt, regungslos vor dem Bildnis der blonden Rokokodame stand – ist vorhin eingedrungen. Wer ist er? Was will er? Er wohnt, här’ ich, bei Ihnen? – Was is mit ihm? Is er wahnsinnig? Oder besoff – ?“ – sie brachte das Wort nicht heraus – bei der bloßen Erinnerung, was sie vor kurzem mit angesehen, packte sie wieder das Grausen. – „Oder – oder, ich meine – hat er Fieber? – Ist er vielleicht krank?“ milderte sie den Ausdruck.
Die „böhmische Liesel“ zuckte die Achseln und drehte sich langsam zu der Fragerin; in ihren wimpernlosen, entzündeten Augen, die in die leere Luft zu schauen schienen, als stünde dort, woher die Worte gekommen waren, überhaupt niemand, lag ein Blick, so hochfahrend und verächtlich, dass der Gräfin unwillkürlich das Blut ins Gesicht stieg.
„Er ist von dem Gartentor heruntergefallen“, mischte sich der kaiserliche Leibarzt schnell ein. „Wir glaubten anfangs, er sei tot, und haben deshalb nach Ihnen geschickt. – Wer und was er ist“ – fuhr er krampfhaft fort, um zu verhindern, dass sich die Sachlage weiter unangenehm zuspitze, „tut ja nichts zur Sache. Allem Anschein nach ist er ein Schlafwandler. – Sie wissen doch, was das ist? – Nun, sehen Sie, ich hab’ mir gleich gedacht, dass Sie wissen, was das ist. – Ja. Hm. – Und da müssen Sie halt des Nachts auf ihn ein bissel achtgeben, damit er nicht wieder ausbricht. – Vielleicht haben Sie die Güte, ihn jetzt wieder heimzubringen? Der Diener oder die Bosena kann Ihnen dabei behilflich sein. Hm. Ja. – Nicht wahr, Baron, Sie geben doch die Erlaubnis?“
„Jaja. Nur hinaus mit ihm!“ wimmerte Elsenwanger. „O Gott, nur fort, nur fort.“
„Ich weiß bloß, dass er Zrcadlo heißt und wahrscheinlich ein Schauspieler ist“, sagte die „böhmische Liesel“ ruhig. „Er geht des Nachts in den Weinstuben herum und macht den Leuten etwas vor. – Freilich, ob er“ – sie schüttelte den Kopf – „ob er selber weiß, wer er ist, hat wohl noch keiner herausgebracht. – Und ich kümmere mich nicht darum, wer und was meine Mieter sind. – Ich bin nicht indiskret. – Pane Zrcadlo! Kommen Sie! So kommen Sie doch! – Sehen Sie denn nicht, dass hier keine Gastwirtschaft ist?“
Sie ging zu dem Mondsüchtigen und fasste ihn an der Hand. —
Willenlos ließ er sich zur Tür führen.
Die Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Baron Bogumil war vollständig aus seinen Zügen gewichen; seine Gestalt schien wieder größer und straffer, sein Gang sicher und das normale Selbstbewusstsein halb und halb zurückgekehrt – trotzdem nahm er noch immer keine Notiz von den Anwesenden, als seien alle seine Sinne für die Außenwelt verschlossen wie die eines Hypnotisierten.
Aber auch der hochfahrende Ausdruck des ägyptischen Königs war aus seinem Gesicht ausgelöscht. Nur noch ein Schauspieler! – Eine Maske aus Fleisch und Haut, jeden Augenblick zu einer neuen, unbegreiflichen Veränderung gespannt – eine Maske, wie der Tod selbst sie tragen würde, wenn er beschlösse, sich unter die Lebenden zu mischen – „das Antlitz eines Wesens“ – fühlte der kaiserliche Leibarzt, den wiederum eine dumpfe Furcht, er müsse diesen Menschen schon einmal irgendwo gesehen haben, befallen hatte, „eines Wesens, das heute der und morgen ein völlig anderer sein kann – ein anderer, nicht nur für die Mitwelt, nein, auch für sich selbst – eine Leiche, die nicht verwest und der Träger ist für unsichtbare, im Weltraum umherirrende Einflüsse – ein Geschöpf, das nicht nur ‘Spiegel’ heißt, sondern vielleicht wirklich – einer ist.“

Die „böhmische Liesel“ hatte den Mondsüchtigen aus dem Zimmer gedrängt, und der kaiserliche Leibarzt benützte die Gelegenheit, ihr zuzuflüstern:
„Geh Sie jetzt, Lisinka; ich werd’ Sie morgen aufsuchen. – Aber sprech sie mit niemand drüber! – Ich muss Näheres über diesen Zrcadlo erfahren.“
Dann blieb er noch eine Weile zwischen Tür und Angel stehen und horchte die Treppe hinab, ob die beiden wohl miteinander sprechen würden, aber das einzige, was er hören konnte, waren immer die gleichen beruhigenden Worte des Frauenzimmers: „Kommen Sie, kommen Sie, Pane Zrcadlo! Sie sehen doch, es ist kein Gasthaus hier!“ —

Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass die Herrschaften bereits ins Nebenzimmer gegangen waren, sich am Spieltisch niedergesetzt hatten und auf ihn warteten.
An den blassen, aufgeregten Gesichtern seiner Freunde sah er, dass ihre Gedanken wahrlich nicht bei den Karten weilten und dass es wohl nur ein herrischer Befehl der willensstarken alten Dame gewesen war, der sie gezwungen hatte, ihre gewohnheitsmäßige abendliche Zerstreuung aufzunehmen, als sei nicht das geringste geschehen.
„Das wird heute ein konfuser Whist werden“, dachte er bei sich, ließ sich aber nichts merken und nahm nach einer leichten, vogelartigen Verbeugung der Gräfin gegenüber Platz, die mit nervös zuckenden Händen die Blätter verteilte.

Die neue Welt
„Wie die Damoklesschwerter wären seit Menschengedenken die ‘Flugbeile’, die alle kaiserliche Leibärzte gewesen waren – über Böhmens sämtlichen gekrönten Häuptern gehangen, bereit, unverzüglich auf ihre Opfer niederzufallen, sowie sich bei diesen auch nur die geringsten Anzeichen einer Krankheit zeigen wollten.“ – war ein Sprichwort, das, auf dem Hradschin in Adelskreisen gang und gäbe, eine gewisse Bestätigung darin zu finden schien, dass mit dem Hinscheiden der Kaiserinwitwe Maria Anna tatsächlich auch das Geschlecht der Flugbeile in seinem letzten Sprossen, dem Hagestolz Thaddäus Flugbeil, genannt der Pinguin, dem Erlöschen geweiht war.
Das Junggesellenleben des Herrn kaiserlichen Leibarztes, genau geregelt wie der Gang einer Uhr, hatte durch das nächtliche Abenteuer mit dem Schlafwandler Zrcadlo eine unliebsame Störung erlitten.
Allerlei Traumbilder waren durch seinen Schlummer geschritten, und schließlich hatte sich darin sogar der Schatten von schwülen Erinnerungen aus der Jugendzeit verirrt, in denen die Reize der „böhmischen Liesel“ – natürlich, als diese noch schön und begehrenswert gewesen – eine nicht unwesentliche Rolle spielten.
Ein neckisches, konfuses Gegaukel von Phantasien, in dem das ungewohnte Gefühl, er halte einen Bergstock in der Hand, gewissermaßen den Glanzpunkt bildete, weckte ihn schließlich zu ungebührlich früher Stunde.
Jedes Frühjahr, genau am 1. Juni, pflegte der Herr kaiserliche Leibarzt zur Kur nach Karlsbad zu fahren und zu diesem Zwecke, da er die Eisenbahn verabscheute, die er für eine jüdische Einrichtung hielt, eine Droschke zu benützen.
Wenn Karlitschek, so hieß der isabellfarbige Klepper, der den Wagen ziehen durfte, den eindringlichen Weisungen seines alten, rotbewesteten Kutschers gemäß, den fünf Kilometer entfernten Prager Vorort Holleschowitz erreicht hatte, wurde jedesmal die erste Nachtrast gemacht und am nächsten Tag die dreiwöchentliche Fahrt in längeren oder kürzeren Etappen, je nachdem Karlitschek, das wackre Ross, gelaunt war, fortgesetzt – in Karlsbad angelangt, konnte sich’s dann bis zur Rückreise an Hafer dick und rund fressen, bis es einer rosabschimmernden Wurst auf vier dünnen Stelzbeinen glich, derweilen der Herr Leibarzt sich selbst Bewegung per pedes[3 - per pedes (лат.) – пешком] verordnete. Das Erscheinen der roten Datumsziffer 1. Mai auf dem Abreißkalender über dem Bette gab sonst immer das Zeichen, dass es höchste Zeit sei, die Koffer zu packen, aber diesmal würdigte der Herr kaiserliche Leibarzt den Block keines Blickes, ließ den 30. April, der den schauerlichen Unterdrück „Walpurgisnacht"[4 - Walpurgisnacht – Вальпургиева ночь (по названию праздника Св. Вальпурги, монахини Бенедиктинского ордена), ночь с 30 апреля на 1 мая, когда, согласно народным поверьям, в Брокенских горах ведьмы собираются на шабаш.] trug, unberührt hängen, begab sich an seinen Schreibtisch, nahm einen ungeheuren schweinsledernen, mit Messingecken verzierten Folianten vor, der schon von seinem Urgroßvater an jedem männlichen Flugbeil als Diarium gedient hatte, und begann unter den Aufzeichnungen seiner Jugendjahre nachzublättern, ob sich nicht vielleicht auf diesem Wege feststellen lasse, ob, wann und wo er dem unheimlichen Zrcadlo schon früher begegnet sei – denn der Gedanke, dass dies der Fall sein müsse, quälte ihn unablässig. —
Seit seinem fünfundzwanzigsten Jahre und von dem Datum angefangen, als sein Vater gestorben war, hatte er pünktlich jeden Morgen seine Erlebnisse – genau – wie einst seine seligen Vorfahren eingetragen und jeden Tag mit fortlaufenden Zahlen versehen. – Der heutige trug bereits die Ziffer 16.177. —
Da er nicht hatte wissen können, dass er Junggeselle bleiben und daher keine Familie hinterlassen werde, hatte er – ebenfalls nach dem Vorbilde seiner Ahnen – von Anfang an alles, was Liebesangelegenheiten betraf, durch Geheimschrift und Zeichen, die nur er allein enträtseln konnte, für unberufene Augen unlesbar gemacht.
Solcher Stellen gab es in diesem Buche rühmenswerterweise nur wenige; sie verhielten sich hinsichtlich Häufigkeit des Vorkommens zur Zahl der ebenfalls sorgfältig gebuchten, im Gasthaus „zum Schnell" verzehrten Gulasch etwa wie 1 zu 300.
Trotz der Gewissenhaftigkeit, mit der das Diarium geführt war, konnte der Herr Leibarzt keine Stelle finden, die auf den Schlafwandler irgendwelchen Bezug gehabt hätte, und enttäuscht klappte er das Buch endlich zu.
Schon beim Blättern hatte ihn ein unbehagliches Gefühl beschlichen: Während des Durchlesens der einzelnen Notizen waren ihm – zum ersten Mal – unwillkürlich zu Bewusstsein gekommen, wie unsäglich eintönig, im Grunde genommen, seine Jahre dahingeflossen waren.
Zu anderen Zeiten hätte er es wie Stolz empfunden, sich eines Lebens, so regelmäßig und abgezirkelt wie das kaum eines der exklusivsten Hradschiner Adelskreise rühmen zu können, und dass auch seinem Blute – trotzdem es nicht blau und nur bürgerlich war – jegliche Hast und jegliche plebejische Fortschrittsgier seit Generationen abhanden gekommen sei – mit einem Mal kam es ihm aber jetzt unter dem noch frischen Eindruck des nächtlichen Geschehnisses im Hause Elsenwanger vor, als wäre ein Trieb ihn ihm erwacht, für den er nur hässliche Namen finden konnte. Namen wie: Abenteuersucht, Unbefriedigtsein oder Neugierde, unerklärlichen Vorgängen nachforschen zu wollen und dergleichen mehr.
Befremdet sah er sich in der Stube um. Die schmucklosen, weißgekalkten Wände störten ihn. Früher hatten sie ihn doch nie gestört! – Warum plötzlich jetzt?
Er ärgerte sich über sich selbst.
Die drei Zimmer, die er bewohnte, lagen im südlichen Flügel der königlichen Burg, die ihm die k. k. Schlosshauptmannschaft, als er pensioniert worden war, angewiesen hatte. Von einer vorgebauten Brüstung aus, in der ein mächtiges Fernrohr stand, konnte er hinab in die „Welt“ – nach Prag – sehen und dahinter, am Horizont, noch die Wälder und sanft gewellten grünen Flächen einer Hügellandschaft unterscheiden, während ein anderes Fenster den oberen Flusslauf der Moldau[5 - Moldau – немецкое название Влтавы, левого притока Эльбы, которая протекает через Прагу и делит город на две части.] – ein silberig glitzerndes Band, das sich in dunstiger Ferne verlor – als Aussicht bot.
Um seine wildgewordenen Gedanken ein wenig zur Ruhe zu bringen, trat er an das Teleskop und richtete es auf die Stadt, wobei er sich, wie es seine Gewohnheit war, vom Zufall die Hand führen ließ.
Das Instrument vergrößerte in außerordentlichem Maße und hatte infolgedessen nur ein winziges Gesichtsfeld, so dass dem Beschauer die Gegenstände, auf die es gerichtet wurde, so dicht ans Auge gerückt erschienen, als stünden sie in seiner unmittelbaren Nähe.
Der Herr kaiserliche Leibarzt beugte sich zur Linse nieder mit dem unwillkürlichen, kaum gedachten, heimlichen Wunsche, einen Schornsteinfeger auf einem Dache oder sonst irgendein glückverheißendes Omen zu erblicken, fuhr aber gleich darauf mit einem Ausdruck des Schreckens zurück.
Das Gesicht der „böhmischen Liesel“ hatte ihn nämlich lebensgroß, hämisch verzerrt und mit den wimperlosen Lidern blinzelnd, als sehe und erkenne sie ihn gar wohl, angegrinst!
So schreckhaft und ungeheuerlich war der Eindruck gewesen, dass der Herr Leibarzt an allen Gliedern zitterte und eine Weile bestürzt an dem Fernrohr vorbei in den sonnendurchflimmerten Luftraum starrte, jede Sekunde gewärtig, die alte Vettel leibhaftig und womöglich auf einem Besen reitend als Gespenst vor sich auftauchen zu sehen.
Als er sich schließlich aufraffte – zwar voll Staunens darüber, wie seltsam der Zufall gespielt hatte, aber immerhin froh, sich die Sache ganz natürlich erklären zu können – und wieder durch das Instrument blickte, war wohl die Alte verschwunden, und nur noch fremde, ihm gleichgültige Gesichter zogen an dem Sehfeld vorbei, aber es wollte ihm scheinen, als läge in ihren Mienen eine seltsame Aufregung – eine Spannung, die sich auf ihn übertrug.
Er erkannte aus der Hast, mit der sie einander verdrängten, aus den Gestikulationen der Hände, den eilfertig schwätzenden Lippen, aus den zeitweilig weit aufgerissenen Mündern, die Schreie auszustoßen schienen, dass ein Volksauflauf entstanden sein müsse, dessen Ursache sich jedoch wegen der großen Entfernung nicht feststellen ließ. Ein kleiner Ruck, den er dem Fernrohr gab, machte das Bild im Nu verschwinden, und an seine Stelle trat – zuerst in verschwommenen Umrissen – ein viereckiges dunkles Etwas, das allmählich beim Näherschrauben der Linse zu einem offenen Giebelfenster mit zerbrochenen, mit Zeitungspapier verklebten Scheiben gerann.
Ein junges, in Lumpen gehülltes Weib, das Gesicht leichenhaft eingefallen und verhärmt, die Augen tief in den Höhlen, saß in dem Rahmen und hielt den Blick mit stumpfer vertierter Gleichgültigkeit unbeweglich auf ein skelettartig abgemagertes kleines Kind gerichtet, das vor ihr lag und offenbar in ihren Armen gestorben war. —
Das grelle Sonnenlicht, das die beiden umfing, ließ jede Einzelheit mit grausamer Schärfe erkennen und vertiefte mit seinem jubelvollen Frühlingsglanz den furchtbaren Missklang zwischen Jammer und Freude bis zur Unerträglichkeit.
„Der Krieg. Ja, der Krieg“, seufzte der Pinguin und versetzte dem Rohre einen Stoß, um sich durch den grässlichen Anblick nicht unnötigerweise den Appetit für sein Gabelfrühstück zu verderben.
„Der rückwärtige Eingang eines Theaters oder so etwas Ähnliches muss das sein“, murmelte er sinnend, als sich gleich drauf eine neue Szene vor ihm abrollte: Zwei Arbeiter trugen, begafft von zahlreichen Gassenjungen und knicksenden alten Weibern in Kopftüchern, aus einem gähnenden Tor ein Kolossalgemälde, worauf ein Greis mit langem weißem Bart zu sehen war, auf rosa wolken gebettet, in den Augen den Ausdruck unsäglicher Milde und die Rechte segnend ausgestreckt, während die Linke fürsorglich einen Globus umspannt hielt.
Wenig befriedigt und von widerstreitenden Gefühlen gequält, zog sich der kaiserliche Leibarzt ins Zimmer zurück, nahm die Botschaft seiner Köchin, „der Wenzel warte unten“, wortlos entgegen, ergriff Zylinder, Handschuhe und Elfenbeinstock und verfügte sich knarrenden Fußes die kühle Steintreppe hinab in den Schlosshof, wo der Kutscher bereits mit dem Abbau des Droschkendaches beschäftigt war, um die hohe Gestalt seines Herrn ohne Anstoß im Inneren des Wagens verstauen zu können.
Die Karosse war so ziemlich den größten Teil der steilen Straßen hinabgerasselt, als dem Pinguin plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoss, der ihn veranlasste, so lange an die klapprigen Fensterscheiben zu klopfen, bis Karlitschek sich endlich bequemte, durch Steifmachen seiner isabellfarbigen Vorderstelzen der Fahrt ein jähes Ende zu bereiten, und Wenzel vom Bock sprang und mit gezogenem Hut an den Schlag trat.
Wie aus dem Boden gewachsen umdrängte sofort eine Schar Schulbuben den Wagen und vollführte, als sie den Pinguin darin erblickte, seines Spitznamens eingedenk, eine Art lautlosen Polarvogeltanz, wobei sie sich mit gekrümmten Armen unbeholfene Flugbewegungen nachahmten und wie mit spitzen Schnäbeln nacheinander hackten.
Der Herr kaiserliche Leibarzt würdigte die Spötter keinen Blickes und flüsterte dem Kutscher etwas zu, das diesen einen Augenblick lang buchstäblich erstarren ließ.
„Exlenz, gnä’ Herr, wos, in die Totengasse wollen sich Exlenz fahren?“ stieß der Mann endlich halblaut hervor. „Zu die – zu die – zu die Menscher? – Und jetzen in der Früh schon?“
„Aber die ‘böhmische Liesel’ wohnt sich doch gar nicht in der Totengassen“ – fuhr er erleichtert fort, als ihm der Pinguin sein Vorhaben genauer auseinandergesetzt hatte. „Die ‘bähmische Liesel’ wohnt sich doch in der ‘Neien Welt’. Gott sei Dank.“
„In der – Welt? Unten?“ fragte der kaiserliche Leibarzt zurück und warf einen missgelaunten Blick aus dem Fenster auf das zu seinen Füßen liegende Prag.
„In der ‘Neien Welt’“, beruhigte ihn der Kutscher, „in der Gassen, was sich um den Hirschgraben rundumadum ziecht.“ Dabei deutete er mit dem Daumen zum Firmament empor und beschrieb dann behende mit dem Arm eine Schlinge in der Luft, als wohne die alte Dame in beinahe unzugänglichen Gefilden – sozusagen im Astralreich, zwischen Himmel und Erde. —
Einige Minuten später klomm Karlitschek wieder – mit dem gemessen langsamen Bewegungen eines schwindelfreien kaukasischen Gebirgsmaultieres – die abschüssige Spornergasse bergan. —
Dem Herrn kaiserlichen Leibarzt war eingefallen, dass er vor kaum einer halben Stunde die „böhmische Liesel“ durch das Fernrohr in den Straßen Prags gesehen hatte und dass daher die Gelegenheit, den Schauspieler Zrcadlo, der bei ihr wohnte, unter vier Augen zu sprechen, selten günstig sei. Und so hatte er beschlossen, aus diesem Umstande Nutzen zu ziehen und lieber auf das Gabelfrühstück beim „Schnell“ zu verzichten.
Die Gasse, genannt die „Neue Welt“, bestand, wie der Herr kaiserliche Leibarzt eine Weile später – die Droschke musste zurückbleiben, um peinliches Aufsehen zu vermeiden – Gelegenheit fand, sich zu überzeugen, aus etwa sieben getrennt voneinander stehenden Häuschen und dicht gegenüber einer halbkreisförmigen Mauer, deren oberer Rand mit einem fortlaufenden Fries aus mit Kreide zwar primitiv von Knabenhand gezeichneten, nichtsdestoweniger aber äußerst drastischen Anspielungen auf das Geschlechtsleben verziert war. Von ein paar Kindern abgesehen, die fröhlich kreischend in der knöcheltief mit weißem Kalkstaub bedeckten Gasse Kreisel drehten, war weit und breit kein menschliches Gesicht zu erblicken.
Von dem Hirschgraben, dessen Hänge mit blühenden Bäumen und Sträuchern übersät waren, wehte ein duftgetränkter Hauch von Jasmin und Flieder herauf, und in der Ferne träumte das Lustschloss der Kaiserin Anna, von dem silberweißen Gischt der sprühenden Fontänen umgeben, mit seinem gebauchten, grünkupfernen Patinadach im Mittagslicht wie ein riesiger, glänzender Käfer.
Dem kaiserlichen Leibarzt schlug mit einem Mal das Herz seltsam laut in der Brust. Die weiche erschlaffende Frühlingsluft, der betäubende Geruch der Blumen, die spielenden Kinder, das dunstig helleuchtende Bild der Stadt zu seinen Füßen und der ragende Dom mit den in Scharen über ihren Nestern kreischenden Dohlen, alles erweckte in ihm wieder das dumpfe vorwurfsvolle Gefühl von heute Morgen, er habe seine Seele um ein ganzes langes Leben betrogen.
Er sah eine Weile zu, wie sie die kleinen, grau-roten, kegelförmigen Kreisel unter den Schlägen der Peitschen drehten und Staubwölkchen emporwirbelten; er konnte sich nicht entsinnen, jemals als Kind dieses lustige Spiel getrieben zu haben – jetzt kam es ihm vor, als hätte er ein langes Dasein voll Glück dadurch versäumt.
Die offenen Flure der kleinen Häuser, in die er spähte, um die Wohnung des Schauspielers Zrcadlo zu erkunden, waren wie ausgestorben.
In dem einen stand ein leerer Bretterverschlag mit Glasfenstern, hinter denen wahrscheinlich in Friedenszeiten mit blauen Mohnkörnern bestreute Semmeln verkauft worden waren oder – wie ein ausgetrocknetes hölzernes Fässchen verriet – saurer Gurkensaft gemäß der Landessitte: einen in diese Flüssigkeit hängenden Lederriemen gegen Entgelt von einem Heller zweimal durch den Mund ziehen zu dürfen.
Vor einem andern Eingang hing ein schwarz-gelbes Blechschild mit einem zerkratzten Doppeladler darauf und den Fragmenten einer Inschrift, die besagte, es dürfe hier straflos Salz an Reflektanten abgegeben werden.
Aber alles das machte den betrüblichen Eindruck, als sei es längst nicht mehr wahr.
Auch ein Zettel mit großen, einst schwarzen Buchstaben: „Zde se mandluje“, was soviel heißen sollte wie: „Hier dürfen Dienstmädchen gegen Vorausbezahlung von zwölf Kreuzern eine Stunde lang Wäsche mangen“, war halb zerrissen und ließ deutlich ahnen, dass der Gründer dieses Unternehmens jegliches Vertrauen auf seine Erwerbsquelle eingebüßt haben musste.
Allüberall hatte die erbarmungslose Faust der Kriegsfurie die Spuren ihrer zerstörenden Tätigkeit hinterlassen.
Aufs Geratewohl betrat der kaiserliche Leibarzt die letzte der Hütten, aus deren Schornstein ein dünner, langer Wurm graublauen Rauchs sich zum wolkenlosen Maienhimmel emporschlängelte, öffnete nach längerem, unbeantwortetem Klopfen eine Tür und sah sich – unliebsam überrascht – der „böhmischen Liesel“ gegenüber, die, eine Holzschüssel mit Brotsuppe auf den Knien, ihn schon auf der Schwelle erkannte und mit dem herzlichen Ausruf: „Servus! Pinguin! Ja, du bist’s?!“ willkommen hieß.
Die Stube, gleichzeitig Küche, Wohnzimmer und auch Schlafraum – nach einer Lagerstätte aus alten Lumpen, Strohknödeln und zerknülltem Zeitungspapier in der Ecke zu schließen – , war unendlich schmutzig und vernachlässigt. Alles – Tisch, Stühle, Kommode, Geschirr – stand wild durcheinander; aufgeräumt sah eigentlich nur die „böhmische Liesel“ selbst aus, da ihr der unvermutete Besuch offenbar große Freude bereitete.
An den zerfetzten pompejanischroten Tapeten hing eine Tapete morscher Lorbeerkränze mit blassblauen, verwaschenen Seidenschärpen, darauf allerhand Huldigungen wie „Der großen Künstlerin“ usw., zu lesen waren, und daneben eine bändergeschmückte Mandoline.
Mit der selbstverständlichen Gelassenheit einer Dame von Welt blieb die „böhmische Liesel“ ruhig sitzen und streckte nur, geziert lächelnd, die Hand aus, die der Herr kaiserliche Leibarzt, blutrot vor Verlegenheit, zwar ergriff und drückte, aber zu küssen vermied.
Den Mangel an Galanterie liebenswürdig übersehend, eröffnete die „böhmische Liesel“ die Konversation mit ein paar einleitenden Worten über das schöne Wetter, wobei sie ungeniert ihre Suppe zu Ende schlürfte, und versicherte sodann Seine Exzellenz ihrer hohen Befriedigung, einen so lieben alten Freund bei sich begrüßen zu dürfen.
„Ein Feschak bist d’ und bleibst d’ halt doch, Pinguin“, änderte sie, unvermittelt ins Vertrauliche übergehend, die zeremonielle Tonart, ließ die hochdeutsche Ausdrucksweise fallen und bediente sich des Prager Jargons, „was man so sagt: ein sakramensky chlap[6 - sakramensky chlap (чеш.) – славный малый].“ —
Erinnerungen schienen sie zu überfallen, und einen Moment lang schwieg sie, die Augen wie unter sehnsuchtsvollen Erinnerungen geschlossen; der Herr kaiserliche Leibarzt wartete gespannt, was sie wohl sagen werde.
Dann girrte sie plötzlich heiser mit gespitzten Lippen.
„Brussi, Brussi!“ – und breitete die Arme aus.
Von Grauen geschüttelt, prallte der Herr kaiserliche Leibarzt zurück und starrte sie entsetzt an.
Sie achtete nicht darauf, stürzte zu einem Wandbrett, riss ein Bild – ein altes, verblichener Daguerreotyp – , das dort inmitten vieler anderer stand, an sich und bedeckte es mit glühenden Küssen.
Dem Herrn kaiserlichen Leibarzt stockte fast der Atem: Er erkannte sein eigenes Konterfei, das er ihr vor wohl vierzig Jahren geschenkt hatte.
Dann stellte sie es behutsam, voll Zärtlichkeit wieder zurück, hob verschämt mit spitzen Fingern den zerlumpten Rock bis zum Knie und tanzte, den Kopf mit dem wirr zerzausten Haar wie in wollüstigen Träumen wiegend, eine gespenstische Gavotte[7 - Gavotte – гавот, старинный французский танец].
Der Herr kaiserliche Leibarzt stand wie gelähmt; das Zimmer drehte sich vor seinen Augen; „Danse macabre“[8 - Danse macabre (фр.) – Пляска смерти], sagte etwas in ihm, und die beiden Worte tauchten in kraus geschnörkelten Buchstaben als Unterschrift zu einem alten Kupferstich, den er einst bei einem Antiquar gesehen, wie eine Vision vor ihm auf.
Er konnte den Blick nicht von den skelettartigen dürren Beinen der Greisin wenden, die in schlottrigen, grünlich schimmernden schwarzen Strümpfen staken – er wollte im Übermaß des Grausens zur Tür fliehen, aber der Entschluss entfiel ihm, noch ehe er gefasst war. Die Vergangenheit verband sich mit der Gegenwart in ihm zu einem inneren und äußeren Bannbild schreckhafter Wirklichkeit, dem zu entrinnen er sich ohnmächtig fühlte; er wusste nicht mehr: War er selbst noch jung und hatte sich die, die da vor ihm tanzte, urplötzlich aus einem soeben noch schönen Mädchen in ein leichenhaftes Scheusal mit zahnlosem Mund und entzündeten, runzligen Lidern verwandelt – oder träumte er nur, und seine eigene Jugend und die ihrige hatten in Wahrheit nie existiert?
Diese platten Klumpen in den grauschwarzen, schimmligen Überresten von niedergetretenen Stiefeln, die da vor ihm im Takte sich drehten und hüpften – konnten sie wirklich dieselben zierlichen Füsschen mit den zarten Knöcheln sein, die ihn einst so verliebt gemacht und entzückt hatten?
„Sie kann sie jahrelang nicht ausgezogen haben, das Leder würde in Stücke zerfallen sein. Sie schläft in ihnen“, kam ein halber Gedanke flüsternd an seinem Bewusstsein vorbei, wuchtig verdrängt von einem andern: „Es ist furchtbar, der Mensch verwest in dem unsichtbaren Grabe der Zeit, noch während er lebt.“
„Weißt du noch, Thaddäus!“ flötete die „böhmische Liesel“ heiser und krächzte eine Melodie:
„Du, du, du – bist so kalt
und machst allen so heiß,
zauberst Flammen hervor aus dem Eis.“
Dann hielt sie, wie mit einem Ruck zu sich gekommen, inne, warf sich in einen Sessel, krümmte sich, überwältigt von jäh ausbrechenden, namenlosem Schmerz, zusammen und verbarg weinend ihr Gesicht in den Händen. – Der kaiserliche Leibarzt erwachte aus seiner Betäubung, raffte sich auf, gewann einen Augenblick Gewalt über sich und verlor sie gleich darauf wieder. – Er erinnerte sich mit einem Mal deutlich seiner unruhig durchschlummerten Nacht und dass er denselben armen, verwitterten Körper noch vor wenigen Stunden als blühendes junges Weib liebestrunken im Traum in den Armen gehalten hatte, der jetzt, mit Lumpen bedeckt und von Schluchzkrämpfen und Leid geschüttelt, vor ihm lag.
Er öffnete ein paarmal den Mund und schloss ihn wortlos wieder – wusste nicht, was er sagen sollte.
„Liesel“, brachte er endlich mühsam hervor, „Liesel, gehts dir so schlecht?“ – Er ließ seinen Blick durch die Stube schweifen und blieb mit den Augen an dem hölzernen Suppennapf hängen, hm ja. – „Liesel, kann ich dir irgendwie helfen?“ Früher hat sie aus silbernen Tellern gegessen – schaudernd sah er zu der schmutzstarrenden Lagerstätte hinüber – hm, und – und auf Daunen geschlafen. —
Der Alte schüttelte heftig den Kopf, ohne das Gesicht zu heben.
Der Herr kaiserliche Leibarzt hörte, wie sie ihr Wimmern hinter den Händen verbiss.
Seine Photographie auf dem Wandbrett schaute ihm geradeaus ins Gesicht – der Widerschein eines blinden Spiegels am Fenster warf einen schrägen Lichtstrahl auf die ganze Reihe – lauter schlanke, junge Kavaliere, die er alle gekannt hatte, manche jetzt noch kannte als steif und weiß gewordene Fürsten und Barone – er selbst mit lachenden, lustigen Augen, in goldbetresstem Rock, den Dreispitz unter den Armen.
Schon vorhin, als er das Bild als das seinige erkannt hatte, war die Absicht in ihm aufgestiegen, es heimlich zu entfernen; unwillkürlich machte er einen Schritte darauf zu – schämte sich aber sofort seines Gedankens und blieb stehen.
Schultern und Rücken der Alten bebten und zuckten noch immer vor verhaltenem Weinen; er sah auf sie nieder, und ein tiefes, heißes Mitleid ergriff ihn.
Er vergaß seinen Ekel vor ihrem schmutzigen Haar und legte ihr die Hand vorsichtig auf den Kopf, als getraue er sich nicht recht – streichelte sie sogar schüchtern.
Er schien sie sichtlich zu beruhigen, und sie wurde allmählich still wie ein Kind.
„Liesel“ – fing er nach einer Weile wieder, ganz leise, an – „Liesel, schau, mach dir nichts draus – na ja, ich mein, wenn’s dir schlecht geht. – Weißt d’“ – er suchte nach Worten – „na ja, weißt d’, es is – es is halt Krieg. – Und – und Hunger ham wir ja alle – jetzt im Krieg“ – er schluckte ein paarmal verlegen, denn er fühlte, dass er log; er hatte doch noch niemals Hunger gehabt – wusste gar nicht, was das war; sogar frischgebackene Salzstangel aus weißem Mehl wurden ihm jeden Tag beim „Schnell“ heimlich unter die Serviette gesteckt. – „No – und jetzt, wo ich weiß, dass dir’s schlecht geht, brauchst d’ dich ieberhaupt nicht mehr sorgen, Liesel; es is ja von selbstverstehtsich, dass ich dir hilf. – No – und der Krieg“ – er trachtete, einen möglichst fröhlichen Ton in seine Rede zu legen, um sie aufzuheitern – „er is ja vielleicht iebermorgen schon ’rum – und dann kannst d’ ja auch wieder deinem Verdienst – “, er brach bestürzt ab; es fiel ihm plötzlich ein, was sie war; überdies konnte man in ihrem Falle doch kaum von „Verdienst“ reden – „hm, ja – nachgehen“, schloss er den Satz halblaut nach einer kleinen Pause, denn er wusste kein besseres Wort.
Sie haschte nach seiner Hand und küsste sie stumm und voll Dankbarkeit. – Er fühlte ihre Tränen auf seine Finger fallen. „Geh, lass doch“, wollte er sagen, brachte es aber nicht heraus. Er blickte ratlos umher.
Eine Weile schwiegen beide. Dann hörte er, dass sie etwas murmelte, verstand aber die Worte nicht.
„Ichichich dank’“, schluchzte sie endlich halberstickt, – ichich dank’ dir, Ping – , ich dank’ dir, Thaddäus. Nein, nein, kein Geld“, fuhr sie hastig fort, als er wieder davon anfangen wollte, er werde ihr helfen – „nein, ich brauch’ nichts“ – sie richtete sich schnell auf und drehte den Kopf zur Wand, damit er ihr schmerzverzerrtes Gesicht nicht sehen solle, hielt aber dabei seine Hand krampfhaft fest, „es geht mir ja ganz gut. Ich bin doch so glücklich, dass du – dich nicht vor mir graust. – Nein, nein, wirklich, mir gehts ganz gut. -W-w-weißt d’, es ist nur so schrecklich, wenn man sich erinnert, wie früher alles war.“ – Einen Augenblick würgte sie es wieder, und sie fuhr sich nach dem Hals, als bliebe ihr der Atem aus. – „Weißt d’, dass man – dass man nicht alt werden kann, ist so furchtbar.“
Der Pinguin sah sie erschrocken an und glaubte, sie rede irre; erst nach und nach begriff er, was sie meinte, als sie anfing, ruhiger zu sprechen.
„Vorhin, wie du herausgekommen bist, Thaddäus, da hab’ ich gemeint, ich bin wieder jung – und du hast mich noch lieb“, setzte sie ganz leise hinzu – „und so geht’s mir oft. Manchmal – manchmal fast eine Viertelstunde lang. – Besonders, wenn ich auf der Gassen geh, vergess’ ich, wer ich bin, und glaub’, die Leute schauen mich so an, weil ich jung und schön bin. – Dann freilich, wenn ich hör’, was die Kinder hinter mir dreinrufen – .“ Sie schlug die Hände vors Gesicht. —
„Nimm’s nicht so schwer, Liesel“ – tröstete sie der kaiserliche Leibarzt – „Kinder sind immer grausam und wissen nicht, was sie tun. Du darfsts ihnen nicht nachtragen, und wenn sie sehen, dass du dir nichts drausmachst – “
„Glaubst du denn, ich bin ihnen bös deshalb? – Ich bin noch nie jemand bös gewesen. Nicht einmal dem lieben Gott. Und dem hat doch heutzutag wahrhaftig jeder Mensch Grund, böse zu sein. – Nein, das ist’s nicht. – Aber dieses Aufwachen jedesmal, wie aus einem schönen Traum, das ist fürchterlicher, Thaddäus, als wenn man bei lebendigem Leibe verbrennt.“
Der Pinguin blickte wieder in der Stube umher und sann nach. „Wenn man’s ihr ein wenig behaglicher machen würde hier“, dachte er, „vielleicht würde sie sich – “
Sie schien seinen Gedanken erraten zu haben. „Du meinst, warum’s so schauderhaft hier ist und warum ich so gar nichts mehr auf mich halte? – Du, mein Gott, wie oft hab’ ich schon versucht, das Zimmer ein bissel sauberer zu machen. Aber ich glaub’, ich müsst wahnsinnig werden, wenn ich’s tu. – Wenn ich nur damit anfang’ und rück’ bloß einen Sessel zurecht, so schreit schon alles in mir auf, dass es ja doch nie mehr so werden kann, wie’s früher war. – So ähnlich geht’s vielleicht vielen Menschen auch, nur können’s die andern nicht verstehen, die nie aus dem Licht haben in die Finsternis müssen. – Du wirst’s mir nicht glauben, Thaddäus, aber wirklich, es ist noch so etwas wie ein Trost darin für mich, dass alles um mich herum, und ich selbst, so unsagbar verkommen und scheußlich ist.“ – Sie starrte eine Weile vor sich hin, dann fuhr sie plötzlich auf: „Und ich weiß auch warum. – Jaja, warum soll nicht der Mensch auch gezwungen sein, mitten im tiefsten Schmutz zu leben, wo doch seine Seele in einem so grässlichen Kadaver stecken muss! —
Und dann – hier so mitten im Dreck“ – murmelte sie halblaut vor sich hin – „vielleicht kann ich doch einmal vergessen.“ – Sie fing an, wie geistesabwesend mit sich selbst zu sprechen. „Ja, wenn der Zrcadlo nicht wär’“ – der Leibarzt horchte auf, als der Name fiel, und erinnerte sich, dass er doch eigentlich des Schauspielers wegen hergekommen sei; – „Ja, wenn der Zrcadlo nicht wär’! – Ich glaub’, er ist an allem schuld. – Ich muss ihn fortschicken. – Wenn ich nur – wenn ich nur die Kraft dazu hätt’.“ —
Der Herr kaiserliche Leibarzt räusperte sich laut, um ihre Aufmerksamkeit zu erwecken. – „Sag mal, Liesel, was ist das eigentlich mit dem Zrcadlo?“ – „Er wohnt doch bei dir?“ fragte er endlich direkt heraus.
Sie fuhr sich über die Stirn: – „Der Zrcadlo? Wieso kommst du auf ihn?“
„Nun. Halt so. Nach dem, was gestern beim Elsenwanger passiert ist. – Mich interessiert der Mensch. – Nur so. Halt als Arzt.“
Die „böhmische Liesel“ kam langsam zu sich, dann trat plötzlich ein Ausdruck des Schreckens in ihre Augen. Sie packte den kaiserlichen Leibarzt heftig am Arm:
„Weißt du, manchmal, da glaub’ ich – er ist der Teufel. Jesus Maria, Thaddäus, denk nicht an ihn! – Aber nein“ – sie lachte hysterisch auf – „das is alles dummes Zeug. – Es gibt doch gar keinen Teufel. – Er ist natürlich nur verrückt. – Oder – oder ein Schauspieler. Oder alles beides zusammen.“ Sie wollte wieder lachen, aber ihre Lippen verzerrten sich nur.
Der kaiserliche Leibarzt sah, dass ein kalter Schauer sie überlief und ihre zahnlosen Kiefer schlotterten.
„Selbstverständlich ist er krank“, sagte er ruhig, „aber manchmal muss er doch bei sich sein – und da hätt ich gern einmal mit ihm gesprochen.“
„Er ist nie bei sich“, murmelte die „böhmische Liesel“.
„Du hast aber doch gestern Nacht gesagt, er geht in den Beiseln herum und spielt den Leuten etwas vor?“
„Ja. – Ja, das tut er.“
„No, dazu muss er doch bei sich sein?“
„Nein. Das ist er nicht.“
„So. – Hm“ – der kaiserliche Leibarzt grübelte nach. – „Aber er war doch gestern geschminkt! Tut er das vielleicht auch ohne Bewusstsein? – Wer schminkt ihn denn?“
„Ich.“
„Du? Wieso?“
„Damit er für einen Schauspieler gehalten wird. Und etwas verdienen kann. – Und damit mer ihn net einsperrt.“
Der Pinguin blickte die Alte lang und misstrauisch an.
„Es kann doch gar nicht sein, dass er – ihr Zuhälter ist“, überlegte er. – Sein Mitleid war verflogen, und der Ekel fasste ihn wieder an. – „Wahrscheinlich lebt sie mit von seinen Einnahmen.“ „Jaja, natürlich, so wird’s wohl sein.“
Auch die „böhmische Liesel“ war mit einem Mal ganz verändert. – Sie hatte ein Stück Brot aus der Tasche gezogen und kaute mürrisch daran.
Der Herr kaiserliche Leibarzt trat verlegen von einem Bein aufs andere. Er fing an, sich innerlich heftig zu ärgern, dass er überhaupt hiehergekommen war. —
„Wenn d’ gehen willst – ich halt’ dich nicht“, brummte die Alte nach einer peinlichen Pause längeren beiderseitigen Stillschweigens.
Der Herr kaiserliche Leibarzt griff rasch nach seinem Hut und sagte, wie von einem Druck befreit: „Ja, freilich, Liesel, du hast recht, es ist schon spät. – Hm, ja. – No, und so gelegentlich komm’ ich wieder nach dir schauen, Liesel.“ – Er tastete mechanisch nach seinem Portemonnaie. —
„Ich hab’ dir schon einmal g’sagt, ich brauch’ kein Geld nicht“, fauchte die Alte los.
Der Herr kaiserliche Leibarzt zuckte mit der Hand zurück und wandte sich zum Gehen:
„Alsdann, grüß dich Gott, Liesel.“
„Servus, Thadd – , Servus, Pinguin.“
Im nächsten Augenblick stand der Herr kaiserliche Leibarzt, geblendet von der grellen Sonne, auf der Gasse und strebte gallig seiner Droschke zu, um so rasch wie möglich aus der „Neuen Welt“ heim zum Mittagessen zu fahren.

Hungerturm
In dem mauerumfriedeten stillen Hof der „Daliborka“[9 - Daliborka – Государственная тюрьма в Праге. Названа по имени первого узника-шляхтича Далибора, возглавившего крестьянское восстание (XV в.).] – des grauen Hungerturms auf dem Hradschin – warfen die alten Linden bereits schräge Schatten, und das kleine Wärterhäuschen, darin der Veteran Vondrejc mit seiner gichtbrüchigen Gattin und seinem Adoptivsohn Ottokar, einem neunzehnjährigen Konservatoristen, wohnte, lag wohl schon eine Stunde in kühlem Nachmittagsdunkel.
Der Alte saß auf einer Bank und zählte und sortierte einen Haufen Kupfer- und Nickelmünzen neben sich hin auf das morsche Brett, die ihm der Tag als Trinkgeld von den Besuchern des Turms eingebracht hatte. Jedes Mal, wenn er die Zahl zehn erreichte, machte er mit seinem Stelzbein einen Strich in den Sand.
„Zwei Gulden siebenundachtzig Kreizer“, brummte er, als er fertig war, unzufrieden zu seinem Adoptivsohn hin, der, an einen Baum gelehnt, emsig damit beschäftigt war, die spiegelnden Flecken an den Knien seines schwarzen Anzuges rauhzubürsten, und rief es dann mit lautem, militärischem Meldeton durchs offene Fenster in die Stube hinein, damit es seine bettlägerige Frau hören könne.
Gleich darauf sank er, den bis in den Nacken haarlosen Kopf mit der hechtgrauen Feldwebelmütze bedeckt, in starrer, totenähnlicher Ruhe zusammen wie ein Hampelmann, in dem der Lebensfaden plötzlich gerissen ist, und hielt seine halbblinden Augen unbeweglich auf den mit libellenförmigen Baumblüten übersäten Boden geheftet.
Er achtete nicht einmal mit einem Wimpernzucken darauf, dass sein Adoptivsohn den Geigenkasten von der Bank nahm, sich seine Samtkappe aufsetzte und dem schwarz-gelb gestreiften, kasernenmäßigen Ausgangstor zuschritt. Er antwortete nicht auf den Abschiedsgruß. – Der Konservatorist schlug den Weg nach abwärts ein, der Thunschen Gasse zu, in der die Gräfin Zahradka ein schmales, finsteres Palais bewohnte, blieb aber nach wenigen Schritten, wie von einem Gedanken erfasst, stehen, warf einen Blick auf seine abgeschabte Taschenuhr, kehrte hastig um und eilte, die Wiesenstege des „Hirschgrabens“ abkürzend, wo immer es ging, zur „Neuen Welt“ empor, wo er, ohne anzuklopfen, das Zimmer der „böhmischen Liesel“ betrat. —
Die Alte war so tief versponnen in ihre Jugenderinnerungen, dass sie lange nicht begriff, was er von ihr wollte.
„Zukunft? Was ist das: Zukunft?“ murmelte sie geistesabwesend, immer nur die letzten Worte seiner Sätze verstehend, „Zukunft? – Es gibt doch gar keine Zukunft!“ – sie musterte ihn langsam von oben bis unten – der verschnürte Studentenrock des jungen Mannes verwirrte sie offenbar. – „Warum nicht goldene Tressen heute? – Er ist doch Oberst-Hofmarschall!“ fragte sie halblaut in die leere Luft hinein. – „Aha, Pan Vondrejc mladsi – ah, der junge Herr Vondrejc will die Zukunft wissen! Ah so.“ – Jetzt erst erfasste sie, wen sie vor sich hatte.
Ohne weiter ein Wort zu verlieren, ging sie zur Kommode, bückte sich, fischte unter den Möbeln ein mit rötlichem Modellierton überzogenes Brett hervor, stellte es auf den Tisch, reichte dem Konservatoristen einen hölzernen Griffel und sagte: „Da! Tupfen S’, Pane Vondrejc! Von rechts nach links. – Aber ohne zu zählen! – Nur an das denken, was Sie wissen wollen! – Und sechzehn Reihen untereinander.“
Der Student nahm den Stift, zog die Augenbrauen zusammen und zögerte eine Weile, dann wurde er plötzlich leichenblass vor innerer Erregung und stach in fliegender Hast und mit zitternder Hand eine Anzahl Löcher in die weiche Masse.
Die „böhmische Liesel“ zählte sie zusammen, schrieb sie in Kolonnen neben- und untereinander auf eine Tafel, während er ihr gespannt zusah, zeichnete die Resultate in geometrische Formen geordnet in ein mehrfach geteiltes Viereck und schwätzte dabei mechanisch vor sich hin:
„Das sind die Mütter, die Töchter, die Neffen, die Zeugen, der Rote, der Weiße und der Richter, Drachenschwanz und Drachenkopf. – Alles genau, wie’s die alte böhmische Punktierkunst verlangt. – So haben wir’s gelernt von den Sarazenen, eh’ sie vernichtet wurden in den Kämpfen am weißen Berg, der ist getränkt von Menschenblut. – Böhmen ist der Herd aller Kriege. – Auch jetzt wieder war’s der Herd und wird’s immer bleiben. – Jan Zizka[10 - Jan Zizka – Ян Жижка (ок. 1360–1424), предводитель гуситов, сторонников Яна Гуса (1370–1415). Целью движения были реформы, прежде всего касающиеся устройства церкви.], unser Führer Zizka, der Blinde!“
„Was ist s mit Zizka?“ fuhr der Student aufgeregt dazwischen, „steht da etwas von Zizka?“
Sie achtete nicht auf die Frage. – „Wenn die Moldau nicht so rasch flösse, heut noch wäre sie rot von Blut.“ – Dann änderte sie mit einem Mal den Ton wie in grimmiger Lustigkeit: „Weißt du, Buberl, warum so viel Blutegel in der Moldau sind? Vom Ursprung bis zur Elbe – wo du am Ufer einen Stein aufhebst, immer sind kleine Blutegel darunter. Das kommt, weil früher der Fluss ganz aus Blut bestand. Und sie warten, weil sie wissen, dass sie eines Tags wieder neues Futter kriegen – Was ist das?“ – sie ließ erstaunt die Kreide aus der Hand fallen und starrte abwechselnd den jungen Mann und die Figuren auf der Tafel an – „was ist das! – Willst du vielleicht gar Kaiser der Welt werden?“
– Sie sah ihm forschend in die dunklen, flackernden Augen.
Er gab keine Antwort, aber sie bemerkte, dass er sich am Tische krampfhaft festhielt, um nicht zu taumeln. „Am End’ wegen der da?“ – sie deutete auf eine der geometrischen Figuren. „Und ich hab’ immer geglaubt, du hättst ein Gspusi mit der Bosena vom Baron Elsenwanger?“
Ottokar Vondrejc schüttelte heftig den Kopf.
„So? Es ist also schon wieder aus, Buberl? – Na, was ein ächtes böhmisches Madel is, trägt nichts nach. Auch nicht, wenn’s ein Kind kriegt. – Aber vor der da“ – sie zeigte wieder auf die Figur – „nimm dich in acht. – Die saugt Blut. – Sie is auch eine Tschechin, aber von der alten gefährlichen Rass’.“
„Das ist nicht wahr“, sagte der Student heiser.
„So? Glaubst du? – Sie ist aus dem Stamme Boriwoj, sag’ ich dir. Und du“ – sie blickte den jungen Mann lang und nachdenklich in das schmale, braune Gesicht – „und du – du bist auch aus der Rasse Boriwoj. So zwei zieht’s zueinander wie Eisen und Magnet. – Was braucht man da lang in den Zeichen zu lesen“ – sie wischte mit dem Ärmel über die Tafel, ehe sie der Student daran hindern konnte. „Gib nur acht, dass du nicht das Eisen wirst und sie der Magnet, sonst bist du verloren, Buberl. – Im Stamme Boriwoj war Gattenmord, Blutschande und Brudermord an der Tagesordnung. – Denk an Wenzel, den Heiligen[11 - Wenzel der Heilige – Вацлав Святой (ок. 900–929), почитаемый в Чехии святой; герцог, ревностно боровшийся за введение христианства в Богемии; погребен в соборе Св. Витта в Праге.]!“
Der Konservatorist versuchte zu lächeln. – „Wenzel der Heilige war ebensowenig aus dem Stamme Boriwoj, wie ich es bin. Ich heiß’ doch bloß Vondrejc, Frau – Frau Lisinka.“
„Sagen Sie mir nicht immer Frau Lisinka!“ – wütend schlug die Alte mit der Faust auf den Tisch; „Ich bin keine Frau! – Ich bin eine Hur. – Ich bin ein Fräulein!“
„Ich hätt’ nur noch gern gewusst – Lisinka – , was haben Sie da vorhin gemeint mit dem – ‘Kaiser werden’ und mit Jan Zizka?“ fragte der Student eingeschüchtert.
Ein Knarren von der Wand her ließ ihn innehalten. —
Er drehte sich um und sah, dass im Rahmen der langsam sich öffnenden Tür ein Mann stand, eine große, schwarze Brille im Gesicht, den übermäßig langen Gehrock zwischen den Schultern ungeschickt ausgestopft, wie um einen Buckel vorzutäuschen – die Nasenlöcher weit aufgebläht von Wattepfropfen, die darin staken – , eine fuchsrote Perücke auf dem Schädel und einen ebensolchen Backenbart, dem man auf hundert Schritt ansehen konnte, dass er angeklebt war.
„Prosim! Milostpane! Gnädigste!“ wandte sich der Fremde mit deutlich verstellter Stimme an die „böhmische Liesel“. „Bittschän, Pardon, wann ich stäare, bittschän, war sich nicht vorhin der Herr kaiserliche Leibharz von Flugbeil hier?“
Die Alte verzog ihren Mund zu einem lautlosen Grinsen.
„Bittschän, man hat mir, här’ ich, nämlich gesagt, dass er sich hier gewesen is.“
Die Alte grinste weiter wie eine Leiche.
Der sonderbare Kerl wurde sichtlich betreten.
„Ich soll nämlich dem Herrn kaiserlichen Leibharz – “
„Ich kenn’ keinen kaiserlichen Leibarzt!“ schrie die „böhmische Liesel“ jäh los – „Schauen Sie, dass Sie hinauskommen, Sie Rindvieh!“
Blitzartig schloss sich die Türe und der nasse Schwamm, den die Alte von der Schiefertafel abgerissen und nach dem Besuch geschleudert hatte, fiel klatschend zu Boden. —

„Es war nur der Stefan Brabetz“, kam sie der Frage des Konservatoristen zuvor. „Er ist ein Privatspitzel. Er verkleidet sich jedesmal anders und glaubt, dann kennt man ihn nicht. – Wenn irgendwo etwas los ist, dann schnüffelt er’s heraus. Er möcht dann immer was erpressen, aber er weiß nie, wie er’s machen soll. – Er ist von unten. Aus Prag. – Da sind sie alle so ähnlich. – Ich glaub’, das kommt von der geheimnisvollen Luft, die aus dem Boden steigt. – Alle werden sie im Lauf der Zeit so wie er. Einer früher, einer später, außer sie sterben vorher. – Wenn einer dem anderen begegnet, grinst er hämisch, bloß damit der andere glaubt, man weiß was über ihn. – Hast d’ es noch nie bemerkt, Buberl“ – sie wurde seltsam unruhig und begann ruhelos im Zimmer hin und her zu wandern – „dass in Prag alles wahnsinnig is? Vor lauter Heimlichkeit? – Du bist doch selbst verrückt, Buberl, und weißt es bloß nicht! – Freilich, hier oben auf dem Hradschin, da is eine andere Art Wahnsinn. – Ganz anders als unten. – So – so mehr ein versteinerter Wahnsinn. – Wie überhaupt hier oben alles zu Stein geworden ist. – Aber wenn’s einmal losbricht, dann is es, wie wenn steinerne Riesen plötzlich anfangen zu leben und die Stadt in Trümmer schlagen – hab ich“ – ihre Stimme sank zu leisem Gemurmel herab – „hab’ ich mir als kleines Kind von meiner Großmutter sagen lassen. – Ja, na ja, und der Stefan Brabetz, der riechts wahrscheinlich, dass hier auf dem Hradschin irgendwas in der Luft is. Irgendwas los.“
Der Student verfärbte sich und blickte unwillkürlich scheu nach der Tür. „Wieso? Was soll los sein?“
Die „böhmische Liesel“ redete an ihm vorbei: „Ja, glaub mir, Buberl, du bist jetzt schon verrückt. – Vielleicht willst du wirklich Kaiser der Welt werden.“ – Sie machte eine Pause. „Freilich, warum soll’s nicht möglich sein? – Wenn’s in Böhmen nicht so viele Wahnsinnige gäb’, wie hätTs sonst immer der Herd der Krieg sein können! – Ja, sei nur verrückt, Buberl! Dem Verrückten gehört am Schluss doch die Welt. – Ich bin ja auch die Geliebte vom König Milan Obrenowitsch gewesen, bloß weil ich geglaubt hab’, dass ich’s werden kann. – Und wieviel hat gefehlt, wär’ ich Königin von Serbien geworden!“ – Es war, als erwache sie plötzlich – „Warum bist du eigentlich nicht im Krieg, Buberl? – So? Einen Herzfehler? – Noja. – Hm. – Und warum meinst du, bist du kein Boriwoj?“ – Sie ließ es nicht zur Antwort kommen – „Und wohin gehst du jetzt, Buberl, da mit der Geige?“
„Zur Frau Gräfin Zahradka. Ich soll ihr vorspielen.“
Die Alte sah überrascht auf, studierte wieder lang und aufmerksam den Gesichtsausschnitt des jungen Mannes und nickte dann, wie jemand, der seiner Sache gewiss ist. „Ja. Hm. Boriwoj. – No, und hat sie dich gern, die Zahradka?“
– „Sie ist meine Patin.“
Die „böhmische Liesel“ lachte laut auf: – „Patin, hähä, Patin!“
Der Student wusste nicht, wie er sich das Gelächter deuten solle. Er hätte seine Frage nach Jan Zizka gern wiederholt, aber er sah ein, dass es vergeblich wäre.
Er kannte die Alte zu lange, um nicht aus ihrer plötzlich ungeduldig gewordenen Miene zu entnehmen, dass sie wünschte, die Audienz beendet zu sehen. —
Mit einem verlegen gemurmelten Dank drückte er sich zur Tür hinaus.

Er war kaum des alten im Abendrot träumenden Kapuzinerklosters, an dem er auf seinem Wege zum Palais der Gräfin Zahradka vorbei musste, ansichtig geworden, da erklang dicht nebenan, als wolle es ihn begrüßen, gleich einem zauberhaften Orchester von Äolsharfen, das ehrwürdige Glockenspiel der St.– Loretto-Kapelle und zog ihn in seinen magischen Bann.
Eingehüllt von melodisch schwingenden Luftwellen, die ihn umfingen – getränkt von Blütenhauch aus den verborgenen nahen Gärten – wie der unendlich weiche liebkosende Schleier einer unsichtbaren Himmelswelt, blieb er ergriffen stehen und lauschte, bis es ihm schien, als mischten sich die Töne eines alten Kirchenliedes darein, gesungen von tausend fernen Stimmen. Und wie er horchte, da war es, als käme es aus seinem Innern – dann wieder, als schwebten die Klänge ihm zu Häupten, um echogleich in den Wolken zu ersterben – bald so nahe, dass er glaubte, die lateinischen Worte der Psalmodie zu verstehen, bald – verschlungen vom hallenden Dröhnen aus dem erzenen Munde der Glocken – nur noch in leisen Akkorden, wie aus unterirdischen Kreuzgängen herauf.
Sinnend schritt er über den mit hellen Birkenzweigen festlich geschmückten Hradschinplatz an der königlichen Burg vorüber, an deren steinerner Resonanz sich die Wogen der Töne brachen, dass er seine Geige in dem hölzernen Kasten vibrieren fühlte, als sei sie in ihrem Sarge lebendig geworden.
Dann stand er auf der Plattform der neuen Schlossstiege und sah die breite Flucht der zweihundert balustradenumsäumten Granitstufen auf ein sonnenbeglänztes Dächermeer hinab, aus dessen Tiefe, einer ungeheuren schwarzen Raupe gleich, eine Prozession langsam heraufkroch.
Tastend schien sie ihren silbernen Kopf mit den purpurgefleckten Fühlern in die Höhe zu heben, wie unter dem weißen Baldachin, den vier Geistliche in Alba und Stola trugen, der Fürsterzbischof mit rotem Scheitelbarett und die Füße in rotseidenen Schuhen, das goldgestickte Pluvial um die Schultern, der singenden Menge voran Stufe um Stufe emporschritt.
In der warmen, unbeweglichen Abendluft schwebten die Flammen über den Kerzen der Ministranten kaum wahrnehmbar als durchsichtige Ovale und zogen dünne schwarze Qualmfäden durch die bläulichen Schwaden der feierlich geschwungenen Weihrauchgefäße hinter sich drein.
Das Abendrot lag auf der Stadt, glomm in Purpurstreifen über die langen Brücken, strömte – in Blut verwandeltes Gold – im Flusse unter ihren Pfeilern dahin.
Loderte in tausend Fenstern, als stünden die Häuser in Brand.
Der Student starrte in das Bild hinein; die Worte der alten Frau und was sie von der Moldau gesagt und dass ihre Wellen einstens rot gewesen, klangen ihm in den Ohren; das Schaugepränge, das die Schlossstiege herauf immer näher und näher ihm entgegenzog: Einen Augenblick ergriff es ihn wie Betäubung; ja so müsste es sein, wenn sein wahnwitziger Traum, gekrönt zu werden, dereinst Erfüllung gefunden haben würde.
Er schloss eine Minute die Augen, um nicht zu sehen, dass sich Leute neben ihn gestellt hatten, die das Kommen der Prozession erwarteten – eine kurze Spanne Zeit nur noch wollte er sich gegen das Gefühl einer nüchternen Gegenwart wehren.
Dann wandte er sich um und durchquerte die Schlosshöfe der Burg, um auf andern menschenleeren Wegen noch rechtzeitig in die Thunsche Gasse zu gelangen. —
Als er um das Landtagsgebäude bog, sah er von weitem zu seiner Verwunderung das breite Tor des Waldsteinpalais weit offenstehen.
Er eilte darauf zu, um einen Blick in den düsteren Garten mit seinen armdicken Efeuranken an den Mauern und die wundervolle Renaissancehalle und die historische Badegrotte dahinter zu erhaschen, die aus seinen Kinderjahren her, als er einmal all diese Pracht einer längst versunkenen Zeit hatte in nächster Nähe besichtigen dürfen, tief wie ein erschütterndes Erlebnis aus Märchenlanden als unauslöschliche Erinnerung in seine Seele eingegraben standen. Lakaien in silberbordürten Livreen und kurzgeschnittenen Wangenbärten, die Oberlippe glattrasiert, zogen schweigend das ausgestopfte Pferd, das einst Wallenstein[12 - Wallenstein – Альбрехт Валленштейн (1583–1634), герцог Фридляндский, полководец времен Тридцатилетней войны, завоеватель Силезии и Мекленбурга; был убит в результате заговора.] geritten, heraus auf die Straße.
Er erkannte es an der scharlachfarbenen Decke und den stieren gelben Glasaugen, die ihn, wie er sich plötzlich entsann, schon als Knaben lange bis in den Schlaf so mancher Nacht hinein als rätselvolles Vorzeichen, das er sich niemals deuten konnte, verfolgt hatten.

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notes
Примечания

1
der Hradschin – Градчаны, исторический центр Праги

2
das Supperläh (искаж. англ.) – ужин

3
per pedes (лат.) – пешком

4
Walpurgisnacht – Вальпургиева ночь (по названию праздника Св. Вальпурги, монахини Бенедиктинского ордена), ночь с 30 апреля на 1 мая, когда, согласно народным поверьям, в Брокенских горах ведьмы собираются на шабаш.

5
Moldau – немецкое название Влтавы, левого притока Эльбы, которая протекает через Прагу и делит город на две части.

6
sakramensky chlap (чеш.) – славный малый

7
Gavotte – гавот, старинный французский танец

8
Danse macabre (фр.) – Пляска смерти

9
Daliborka – Государственная тюрьма в Праге. Названа по имени первого узника-шляхтича Далибора, возглавившего крестьянское восстание (XV в.).

10
Jan Zizka – Ян Жижка (ок. 1360–1424), предводитель гуситов, сторонников Яна Гуса (1370–1415). Целью движения были реформы, прежде всего касающиеся устройства церкви.

11
Wenzel der Heilige – Вацлав Святой (ок. 900–929), почитаемый в Чехии святой; герцог, ревностно боровшийся за введение христианства в Богемии; погребен в соборе Св. Витта в Праге.

12
Wallenstein – Альбрехт Валленштейн (1583–1634), герцог Фридляндский, полководец времен Тридцатилетней войны, завоеватель Силезии и Мекленбурга; был убит в результате заговора.
Walpurgisnacht  Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке Густав Майринк
Walpurgisnacht / Вальпургиева ночь. Книга для чтения на немецком языке

Густав Майринк

Тип: электронная книга

Жанр: Литература 20 века

Язык: на немецком языке

Издательство: КАРО

Дата публикации: 18.10.2024

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О книге: Густав Майринк (1868–1932) – австрийский писатель-экспрессионист. Работал в жанре «черного романтизма», продолжая традиции таких писателей, как Эдгар По, Шарль Бодлер, Оскар Уайльд. Действие романа «Вальпургиева ночь» (1917) разворачивается в Чехии. Прага становится местом столкновений немецких бюрократов, находящихся в осаде в старинном замке над рекой Влтава, и чешских революционеров, занявших город внизу. История, миф и политическая реальность переплетаются в эпизоде, когда восставшие штурмуют замок, чтобы короновать бедного скрипача, «Императора мира». В предлагаемой вниманию читателей книге приводится неадаптированный текст романа на языке оригинала с комментариями и словарем.

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