Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке

Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке
Alexander Ilitshewski
Russische moderne Prosa
Александр Викторович Иличевский – современный русский писатель и поэт, обладатель многочисленных литературных наград. В 2007 году его роман «Матисс» был удостоен премии «Русский Букер» и снискал высокую оценку как жюри конкурса, так и читателей.
Роман повествует о нелегкой судьбе людей, по разным причинам оказавшихся в сложных жизненных обстоятельствах и пытающихся найти свой путь в водовороте событий 90-х годов XX века в России. Главными героями романа являются бродяги и присоединившийся к ним бывший аспирант-физик по фамилии Королёв. Вместе они отправляются в путешествие по просторам страны в поисках того, чего не хватает в повседневной жизни, бегут от обыденности и несвободы.
Читателю предоставляется возможность познакомиться с произведением современной русской литературы в переводе на немецкий язык. Издание снабжено комментариями и словарем. Книга адресована широкому кругу лиц, владеющих немецким языком на среднем и продвинутом уровнях.

Alexander Ilitschewski / Александр Иличевский
Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке

Translated into German by Valerie Engler and Friederike Meltendorf
© MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, 2018.
All rights reseved.
© КАРО, 2019

Presnja[1 - Здесь и далее прим. перев. (#litres_trial_promo)]

I
»Na los! Schlag zu, gib’s mir! Ja genau, schlag mich!« Wadja war durch seinen Ausbruch ins Rutschen gekommen, er riss sich die Pelzjacke weiter auf, zerfetzte sich das Hemd über der Brust, Tränen flossen, sachte schob er Nadja von sich, die ihn zurückhielt, damit er den Jungs nicht noch unüberlegt hinterherrannte.
Sie waren zu viert, Straßenkinder, doch weil sie Wadjas Stolz in Gegenwart einer Dame[2 - in Gegenwart einer Dame – в присутствии дамы, женщны] verletzt hatten, hatte er sie schlichtweg herausfordern müssen. Im Licht der Straßenlaternen liefen sie an diesem frühen Winterabend bei Tauwetter schnell die Malaja Grusinskaja hinunter, ruderten und rutschten durch den frischen Schnee, schauten sich immer wieder provozierend um, der Älteste, größer und frecher als die Übrigen, reizte Wadja immer mehr:
»Komm doch, du Affe! Versuch doch, uns einzuholen. Wir machen dich platt[3 - j-n platt machen (фам.) – убить кого-либо, прикончить] – das vergisste so schnell nicht!«
Dem Jüngsten, er war vielleicht zehn, war der Ausdruck von Vertrauensseligkeit noch nicht aus dem Gesicht gewichen. Er ging ein Stück, verfiel in Trab, ging wieder, blickte umher. Da fesselte ihn der Anblick des schneebedeckten, raffiniert beleuchteten Timirjasew-Museums, das durch seinen Kaufmanns- oder gar Bojarenstil an Bilder aus Märchenbüchern erinnerte. Doch als der Junge sah, dass die anderen schon weit weg waren, nahm er eine Handvoll Schnee von der Balustrade, formte einen Ball, klopfte ihn fest, biss hinein, holte weit aus, zielte auf Wadja, warf und rannte dann schleunigst seinen Kumpels hinterher.
Wadja wollte ausweichen und kippte nach hinten, Nadja hatte ihn gehalten und knöpfte ihm nun die Pelzjacke zu, schaufelte den Schnee aus seinem Ausschnitt, klopfte Bart und Kragen ab, er heulte, und Nadja freute sich, dass die Straßenkinder endlich von ihnen abgelassen hatten und sie keine Angst mehr haben musste, dass sie Wadja verdroschen[4 - j-n verdreschen (разг.) – дать кому-либо взбучку].
Leonid Koroljow*, ein Mann von etwa fünfunddreißig, Warenkoordinator eines Kleinhandelsunternehmens, der im Stau Richtung Krasnaja Presnja* kroch und die Szene schon ab der katholischen Kirche beobachtet hatte, wusste, dass sich Obdachlose und Straßenkinder bereits seit mehreren Wintern bekriegten. Dass die Jugendlichen, in Grüppchen zusammengeschlossen, zur Abschreckung manchmal Obdachlose töteten und so die Lebensräume im Untergrund von Konkurrenz befreiten: die Gleistunnel der Bahnhöfe, die Nischen unter den Brücken, die trockenen Kanalisationsschächte, die warmen Keller, die Müllhalden, die Bettelposten. Dass ihre Grausamkeit im Rudel kein Erbarmen kannte. Dass die Obdachlosen wegen ihres ausgeprägten Geizes zu gemeinschaftlichem Handeln nicht fähig und deshalb ihren größten Feinden gegenüber machtlos waren.
Koroljow befand sich schon kurz vor der Abzweigung zu seinem Haus. Die Straße war von einer seelenlosen Masse von Autos in Beschlag genommen[5 - in Beschlag nehmen (в т. ч. юр., эк.) – конфисковать, забрать в пользование]. Sie röhrten mit durchgebrannten Auspuffrohren, pfiffen mit erschlafften Keilriemen, schnurrten mit teuren Motoren, klackerten mit Spikereifen, wummerten mit den Bässen ihrer Anlagen, scherten immer mal auf die Gegenfahrbahn aus und plärrten, rülpsten, jaulten mit ihren Alarmsirenen. Die Autos verhüllten die Gerinnsel menschlicher Müdigkeit, Blasiertheit, Gehässigkeit, Unbedachtheit, Gleichgültigkeit, Versunkenheit …
Der Stau war eine Naturkatastrophe. Der Schnee fiel mal in dichten Flocken, einen Augenblick später hörte er auf, und man schaltete die Scheibenwischer aus, nur um sie im nächsten Moment wieder einzuschalten. Das Auto schubste ein dampfendes Schneekissen von der Kühlerhaube, kroch vorwärts, drehte auf der Stelle, wühlte im Matsch, riss sich plötzlich los, er bremste ab und schloss zu der langgezogenen Ziehharmonika aus Autos auf, die durch das aufleuchtende Rot an der Krasnaja Presnja erneut gestoppt wurde. Koroljow war mittlerweile weder in der Lage, Radio zu hören noch emotional am Straßenverkehr teilzunehmen.
Schneeflocken blieben an der Windschutzscheibe kleben, sackten zusammen, rutschten ab, wurden durchsichtig, flossen davon. Beim ersten Aufprall auf das Glas blitzte die polygonale Struktur der Flocken kurz auf, makellos streng und rein, herangeweht aus schauriger Höhe. Sie hob ihn über die Stadt, über die von stählernem Licht durchfluteten Straßen, über den schwarzen Rücken des Flusses und die Sehnen der breiten Prospekte, über Hochhäuser und Straßenbuckel, über das Schweigen der flirrenden, tanzenden Stoffbahnen des Schneegestöbers, hinter das Trübe der tief hängenden Wolkenfetzen, dorthin, wo die Sterne funkelten, wo er allmählich der Welt entrückte, immer höher und weiter aufsteigend über die hügelige Kaviarkette aus Stadtlichtern – und dieser Aufstieg war sein tiefer Seufzer.

Koroljow haute den Gang rein und dachte voller Wut, dass das Unbelebte anständiger war als das Menschliche, dass im strengen Aufbau eines winzigen Kristalls mehr Sinn und Schönheit, irgendetwas von Bedeutung steckte, das ihm hätte erklären können, wozu er lebte, als in der Unmasse an Menschen, die diese Stadt überfüllten.
Mit jeder Vorwärtsbewegung des Staus holte er das Obdachlosenpärchen wieder ein. Die beiden hoben sich deutlich von allem ab, was man sonst auf der Straße sah, die verschlungen wurde von den Rücken und dem Gang der Fußgänger, von der Hast der Händler und Büroangestellten, dem aufgeregten Passgang der Jugendlichen, die aus der Metro in die Kneipen strömten, und von der trägen Dreistigkeit der Plakatkleber, Straßen- und Stadtarbeiter. Zwar waren ihre Gesichter nicht zu sehen, doch in der bloßen Silhouette dieses Paares, in den Bewegungen, in dem, wie sie ihn zurückhielt, ihm mit ihrem ganzen Wesen zugewandt war und wie er – stämmig, bärtig, verlottert, mit offener Jacke – unsicher auf den Beinen stand und versuchte, ihr mit zitternden Fingern über das verfilzte Haar zu streichen, sie auf die Schläfe zu küssen – darin lag ein Drama, jedenfalls etwas Außerordentliches, etwas derart Unwirkliches, dass es an eine Oper erinnerte und den dunkel brodelnden Dunst der Stadt verdrängte.

II
Koroljow kannte Wadja und Nadja bereits, wusste aber nicht, wie sie hießen. An seiner Haustür gab es keine Gegensprechanlage, und das mechanische Codeschloss war mit einem kräftigen Schlag auf die abgenutzten drei Knöpfe in der unteren Reihe problemlos zu öffnen. Es war das am leichtesten zugängliche Treppenhaus in der ganzen Straße. In Frostnächten war der Treppenabsatz zwischen dem zweiten und dritten Stock von Mitternacht bis morgens um sieben von Obdachlosen belegt. Wenn man spät nach Hause kam, musste man über sie hinwegsteigen, und der Geruch, der immer dichter, immer unerträglicher wurde und sich umso weiter im Schacht des Treppenhauses ausbreitete, je länger ihre Lumpen und Fußlappen an dem einzigen, die oberen Stockwerke versorgenden Heizkörper auftauten, verursachte Brechreiz. Die Obdachlosen – sei es die dicke Alte oder der Junge in Bikerjacke und verschlissenen Filzstiefeln mit Galoschen, der sich jedes Mal seine Fußmatte unterlegte, oder der einbeinige alte Kahlkopf im Armeeparka, den er einmal hatte seufzen hören: »Rette uns, o Herr«, oder sonstwer, für Koroljow verschmolzen sie alle zu einer einzigen aufgedunsenen, unförmigen Gestalt – versteckten ihre Gesichter und brummelten etwas, und Koroljow nahm dieses Brummeln irrtümlich als Entschuldigung.
Er wohnte jetzt schon das dritte Jahr in diesem Haus, in einer Eigentumswohnung, für die der Kredit noch nicht abbezahlt war. Er, der seine Kindheit im Internat, seine Jugend im Studentenwohnheim verbracht und Unbehaustheit im Laufe seines Lebens heftig zu spüren bekommen hatte, mal bei Freunden untergekommen und von den Freundesfreundinnen wieder vertrieben worden war, mal in Mietwohnungen oder Wohnungen von Freundinnen, die dann doch keine Ehefrauen wurden, mehr als einmal wegen Wohnungsreibereien die Nacht auf Bahnhöfen verbrachte hatte, wo er davon träumte, eine Reise in ein neues Leben anzutreten, oder bis zum Morgen auf dem Boulevardring spazieren gegangen und im Morgengrauen auf einer Bank eingeschlafen war – er hatte die Obdachlosen anfangs freundlich aufgenommen. Er hatte sich so sehr über seine Wohnung gefreut, über die eigenen vier Wände, dass es ihm unmöglich schien, nicht wenigstens ein kleines bisschen seiner Sesshaftigkeit mit ihnen zu teilen, und sei es nur indirekt. Er brachte ihnen Zeitungen als Schlafunterlage, schenkte Tee in Plastikbechern aus[6 - den Tee in Plastikbechern ausschenken – наливать (разливать) чай в пластиковые стаканчики] und bat sie, sauberzumachen, die durchgeweichten Zeitungen, die Pappen und Lumpen fortzuschaffen, keine leeren Flaschen oder stinkenden Müll liegenzulassen. Er besänftigte die Nachbarin von unten, eine langnasige alte Syrerin, die fluchte, warum er sie auch noch anlocke, die würden hier doch sogar ihr Geschäft verrichten und nicht wegmachen.
»Aber hören Sie mal, Nailja Iossifowna, wie kann man denn jemanden, der kaum noch lebt, in die Kälte hinausjagen? «, versuchte Koroljow sie zur Vernunft zu bringen[7 - j-n zur Vernunft bringen – образумить кого-либо], und das stinkende gesichtslose Wesen auf dem Treppenabsatz begann zu brummeln. »Der schafft es doch nicht mal bis zum Bahnhof, außerdem lassen sie ihn da eh nicht rein, in die Metro lassen sie ihn auch nicht, und im Nachtasyl nehmen sie nur Nüchterne. Wenn Sie die Bullen rufen, die prügeln ihn entweder zu Tode oder jagen ihn aus dem Haus. Sie wollen sich doch nicht versündigen?«
Die Alte winkte ab, schnaubte und schloss die knirschende Tür. Koroljow, der den Atem anhielt, aber bald krampfhaft zur Seite nach Luft schnappen[8 - nach Luft schnappen – ловить (хватать) ртом воздух] musste, bat daraufhin die Obdachlosen, doch wenigstens nicht ins Treppenhaus zu machen. Die brummelten wieder etwas, wälzten sich dabei auf dem Boden herum, klirrten mit Flaschen, raschelten mit Zeitungen, und erneut nahm Koroljow dies aus irgendeinem Grund als Zeichen des Einvernehmens, doch am Morgen sah er, wie der trübsinnige usbekische Hausmeister mit einer Wäschezange die Hinterlassenschaften der Obdachlosen in einen Sack stopfte.
Koroljow hielt sich die Nase zu und steckte dem stummen Usbeken im Vorbeigehen einen Schein zu, rannte nach unten, und während er bei Eiseskälte in seinem reifbedeckten Wagen schlotterte, unter dessen Haube ein nicht warm werden wollender Motor klopfte und pochte, redete er sich ein, dass es für geschwächte, berauschte Menschen schwer, ja geradezu unmöglich sei, sich schlaftrunken aufzurappeln und aus dem Warmen in die Kälte hinunterzusteigen, um die Notdurft zu verrichten.
Mit der Gastfreundschaft war es für ihn dann nach zwei Vorfällen im letzten Winter vorbei gewesen: Ein großer Haufen Scheiße auf der Treppe und eine Prügelei der Obdachlosen untereinander samt dreister Bullen, Blutlache und zurückgelassenem Schustermesser.
Am Abend desselben Tages hatte er auf dem geschrubbten Treppenabsatz die dicke Alte vorgefunden. Er brüllte sie an und stampfte mit dem Fuß auf. Er schrie, sie solle auf der Stelle verschwinden, wählte auf dem Handy die 02, aber da war besetzt, er brüllte wieder, rannte die Treppe hinauf zu seiner Wohnung und wieder runter. Die Alte rappelte sich auf, ächzte, drehte sich um, und der durch die Bewegung aufgewirbelte Gestank verschlug ihm den Atem, zog ihm den Boden unter den Füßen weg, er sank in sich zusammen und verstummte. Da trat Nailja Iossifowna aus der Tür, sie hielt ihren Kittel am Kragen zu und rief mit drohender Geste:
»Ruhe! Ruuuhe!«
Und versteckte sich sofort wieder hinter ihrer Tür.
Koroljow hatte in ihren riesigen Basedow’schen Augen Tränen stehen sehen.
Unter dem anschwellenden Geknurre der Pennerin beeilte er sich zu verschwinden.

III
Trotz der regelmäßig eingesauten Fußabtreter, die er aus Resten der beim Renovieren übriggebliebenen Auslegware zuschnitt, vertrieb er die Obdachlosen nie.
Anfangs hatte er sie stillschweigend Nailja Iossifowna überlassen. Doch die konnte sich nicht dazu durchringen, etwas zu unternehmen. Dann wartete er darauf, dass jemand anders im Haus gegen die Obdachlosen zu Felde ziehen würde[9 - gegen j-n / etwas (Akk) zu Felde ziehen (высок.) – энергично (агрессивно) выступать против кого-либо / чего-либо]. Aber die übrigen Bewohner des zweiten und dritten Stocks gingen entweder früh zu Bett und standen spät auf, oder sie verließen die Wohnung monatelang überhaupt nicht und interessierten sich daher nicht für den Zustand des Treppenhauses.
Ein Stockwerk höher stand eine Wohnung leer, Makler führten ihre verängstigten Kunden hinauf. Daneben war eine Prostituierte eingezogen, die aussah wie eine Schauspielerin aus einem italienischen 50er-Jahre-Film über ein Fischerdorf. Koroljow hatte den Film als Kind mehrmals gesehen – im Internat wurden samstags immer irgendwelche alten Filme angeschleppt. Gezeigt wurden sie im Speisesaal. Der Filmvorführer knutschte auf der Fensterbank mit der Krankenschwester und reagierte nicht gleich, wenn es pfiff und tönte: »He, du Depp! Weiter!« In den quälenden Pausen zwischen den knisternden Küssen war zu hören, wie der Film surrte und ruckartig an den Spulen zerrte, wie eine Maus herumtrippelte und ein Stück Brotrinde die Scheuerleiste entlangjagte.
Auf der geflickten Leinwand zog ein Mädchen von unendlicher Schönheit, das Haar vom Wind zerzaust, im engen Matrosenhemd, unter dem sich die Brüste drängten, bis zum Knie in schäumender Brandung, ein Fischerboot ins tiefe Wasser, kletterte hinein, entrollte das Segel, und Koroljow stockte der Atem[10 - j-m stockt der Atem – у кого-либо перехватило дыхание].
Zwei Puffmütter mit zerknittertem, aber professionellem Gesichtsausdruck und klimperndem Schlüsselbund brachten der Nachbarin reiche Kunden ins Haus. Diese agilen, wachsamen Brünetten hatten gepflegte, sonnengebräunte Haut, kauten nervös Kaugummi, quietschten weich in ihren Krokodilmokassins, ließen ihre Uhren unter den Aufschlägen hervorblitzen und die Schnallen ihrer Aktentaschen aufblinken und hinterließen in der Luft ein feines Duftornament. Haut und Kleidung entstammten einer anders begüterten Welt – einer Welt voller Massageglanz, Lackfältchen und Gesichtspflege.
Abends kam die junge Frau herunter. In einen kurzen Pelz gehüllt, die Schuhe an den bloßen Füßen, trottete sie zerstreut durch den Matsch zur Krasnaja Presnja. Die Passanten drehten sich nach ihr um und verlangsamten den Schritt. Koroljow war ihr einige Male nachgegangen, er hatte dann lange auf dem Gehweg gestanden und durch das Fenster eines japanischen Restaurants ihr Profil betrachtet, während sie die Speisekarte studierte, Sushi kaute, sich zerstreut die wirren Haare richtete, die vollen, zarten Lippen ein wenig öffnete und mal den Raum, mal das unter der Theke angebrachte Aquarium mit den beiden streitenden Buntbarschen betrachtete.
In der dritten Wohnung lebte zusammen mit seinem betagten Vater ein stiller, drahtiger junger Mann mit Downsyndrom. Sie kannten sich eigentlich nicht, doch wenn sie sich begegneten, rief er munter »Hallöchen, wie geht’s?« und streckte Koroljow die kräftige Hand hin. Der junge Nachbar schleppte ständig irgendetwas die Treppen rauf und runter, mal Kartoffelsäcke, mal Zwiebelnetze, mal Hanteln, mal Kugellager verschiedener Kaliber, die auf einem Draht aufgefädelt waren wie Gebäckkringel. Einmal war ihm ein solches Bund gerissen und die Kugellager mit schrecklichem Radau die Stufen hinuntergerollt. Der Junge bekam einen Schreck und lief weg. Koroljow sammelte die Ringe im ganzen Treppenhaus ein und legte sie aufs Fensterbrett. Seither lagen sie dort, mittlerweile verrostet und mit Zigarettenstummeln gespickt.
Auf seiner Etage wohnten Angestellte des Gartenbaugeschäfts auf dem Gelände des Timirjasew-Museums – schwermütige, unablässig fluchende Wießrussen, die sich freitagabends auf der Bank vor dem Haus volllaufen ließen. Sie wurden von der Geschäftsleitung immer wieder zwischen den Filialen hin und her geschoben, und so traf er heute die einen, morgen die anderen und übermorgen die dritten, und es kam ihm vor, als würden in der Einzimmerwohnung an die zwanzig Leute leben.
In der Wohnung direkt gegenüber wohnte eine sonderbare Familie. Die Frau war gläubig und erzog ihre zwei heranwachsenden Mädchen streng. Sonntags ging sie mit ihnen in die Kirche, von wo sie – alle drei mit Kopftuch und Rucksack, in grauen und lila Jäckchen sowie langen schwarzen Röcken, einander ausgesprochen ähnlich – im Gänsemarsch[11 - im Gänsemarsch – гуськом] zurückkamen. Die noch junge Frau blickte stets finster drein und grüßte nie. Ihren Mann, der ebenfalls keinen Gruß erwiderte[12 - j-s Gruß erwidern – отвечать на чьё-либо приветствие], verdrosch sie wortlos oder ließ ihn nicht in die Wohnung, wenn er gelegentlich volltrunken nach Hause kam, die Tasche über der Schulter, eine Flasche Starkbier in der Hand und nicht gleich in der Lage, die ihm entgegenstürzenden Stufen zu bewältigen. Der Mann war schmächtig, hatte aber gewaltige, steife Finger mit dicken schwarzen Nägeln an kräftigen Phalangen, mit denen er seine Flasche wie einen Stift umklammerte, wenn er auf den Stufen neben der Wohnungstür friedlich wegdöste. Solche Hände hatte Koroljow als Kind bei den Arbeitern der Maschinenfabrik Roter Bauarbeiter gesehen, die sich an der Station Zement-Gigant in den verqualmten Einstiegsbereich des Fünf-Uhr-Vorortszuges drängten: Abends waren er und die anderen Jungs gerne aus dem Internat abgehauen und nach Kolomna gefahren, um in der Zoohandlung die Schwertträger oder Segelflosser zu beäugen.
Einmal setzte er sich zu dem dösenden Nachbarn auf die Treppe, nahm einen Schluck von dessen Bier und betrachtete lange wie gebannt diese Finger. Der Zug hatte stets vor der Brücke abgebremst, an der die Moskwa in die Oka mündet, unten krauchte winzig ein Häuschen mit einem Wachtposten vorbei, riesig ragten die Brückenträger empor, die Räder klopften und hallten plötzlich bedeutsam, ringsum ergoss sich frei der weite Fluss, darin die Tropfen der Kuppeln, die Kremlmauern, Gärten, Gemüsebeete, Feuerwachtürme … Da plötzlich ging die Wohnungstür auf, die Nachbarin schob Koroljow zur Seite, zog ihrem Mann das Portemonnaie und die Schlüssel aus der Tasche, zerrte ihm die Schuhe von den Füßen und verschwand wieder in der Wohnung. Im Sommer reichte sie die Scheidung ein, wechselte das Schloss, ihr Exgatte versuchte die Tür aufzubrechen, woraufhin sie mit einer Unterschriftenliste die Nachbarn abklapperte und Geld für den Einbau einer Gegensprechanlage sammelte. Im Herbst wohnte der Mann wieder bei ihr, die Mädchen hatten jetzt modische Haarschnitte, trugen keine tristen Kopftücher mehr und grüßten, doch die Haustür bekam immer noch jeder auf, der es wollte, denn die nötige Summe für die Gegensprechanlage war am Ende doch nicht zusammengekommen.

IV
Nadja und Wadja waren vorbildliche »Beiwohner«, so nannte Nailja Iossifowna die auf dem Treppenabsatz nächtigenden Obdachlosen. Sie hinterließen keinen Dreck, wenngleich in den Morgenstunden ein ordentlicher Mief im Treppenhaus hing, bis er von Tabakschwaden abgelöst wurde, die aus den Nasenlöchern der merkwürdigerweise ständig ein- und ausgehenden Weißrussen strömten. Die beiden hatten, wenn auch nicht ohne Kampf, die anderen Obdachlosen nach und nach vertrieben. Mittlerweile stand in einer Ecke des Treppenabsatzes ein abgenutzter Reisigbesen, den sie auf dem Müllplatz hinter der Banja an der Krasnaja Presnja aufgetrieben hatten. Damit fegte Nadja vor und nach dem Nachtlager sorgfältig den Treppenabsatz und morgens auch noch zwei Treppen abwärts und eine hinauf.
Nadja redete nicht viel, sie schämte sich für ihre Unfähigkeit. Dafür hörte sie für ihr Leben gern zu. Wadja hingegen ließ keine Gelegenheit aus, mit Worten nach dem Leben zu greifen, es zumindest ans Tageslicht zu lassen – als würde er dieser seiner Gabe Dankbarkeit zollen, indem er ihm seine Geschichten darbrachte und zugleich seine Kunstfertigkeit hegte und pflegte, die ihm so oft aus der Patsche geholfen hatte[13 - j-m aus der Patsche helfen (разг.) – помочь выпутаться кому-либо из затруднительного положения]. In schwierigen Situationen konnte er sich über die Sprache einen Zugang zu den Menschen ertasten, Vertrauen gewinnen[14 - j-s Vertrauen gewinnen – заполучить чьё-либо доверие] oder erschmeicheln: wenn er bettelte, wenn man ihn rausschmiss, wenn man im Ismailowski-Park Kampfhunde auf ihn hetzte, ihn mit Knüppeln zur Sammelstelle für Obdachlose jagte, wenn man ihn schier zu Tode prügelte; er wusste genau, dass man auf keinen Fall schweigen darf, wenn sie einen totschlagen wollen, man muss reden, zetern, ächzen, jammern, flehen, beschämen, weinen … Und je flüssiger und müheloser du das hinkriegst, desto größer die Chance, dass du überlebst.
Wadja bezeichnete Nailja Iossifowna, wenn er mit Nadja redete, als alte Hexe, er war überzeugt, sie köchle in ihrer Küche besondere Wurzeln, die gegen den Kropf halfen, sonst wären ihre Augen schon längst geplatzt. Koroljow traute er nicht über den Weg[15 - j-m nicht über den Weg trauen – не питать в кому-либо ни малейшего доверия, ни в чём не доверять, не доверять кому-либо ни на грош], im Gespräch mit Nadja nannte er ihn misstrauisch den Schecken. Der Spitzname kam wohl daher, weil Koroljow am Scheitel eine graue Haarsträhne hatte und sein Auto ein Jahr nach einem Unfall immer noch nicht neu lackiert war: Mit der Grundierung des neuen Kotflügels und den Flecken verschiedenfarbiger Spachtelmasse war es buntgefleckt wie eine politische Landkarte.
Nadja hatte zwar keine Angst vor Koroljow, aber seine strenge Stimme, sein Blick, die Tatsache, dass er sie mit seiner Aufpasserei nicht in Ruhe ließ, sie aber auch nicht vertrieb, und die Art und Weise, wie er sie heimlich beobachtete, plötzlich lautlos die Tür einen Spalt breit öffnete, wie er sie morgens anspornte, von wegen: Prima, dass ihr hier euren Dreck wegmacht, weiter so – all das trug ihm keine Sympathie ein. Sie wusste, wenn sie so einen auf der Straße sehen würde, den würde sie im Leben nicht anschnorren: Der gibt nichts.
Koroljows penetrante Nachbarschaft nötigte ihnen dennoch zaghaften Respekt ab. Sie hielt Nadja und Wadja durch fordernde Duldsamkeit sogar auf Trab[16 - j-n auf Trab halten (разг.) – держать кого-либо в напряжении, не давать расслабиться], die beiden reagierten mit Eifer wie in einem Rollenspiel, ähnlich begeistert wie Kinder, die beim Krankenhausspielen auf Hygiene achten: Sie waschen sich die Hände auf jeden Fall bis hinauf zu den Ellenbogen, sie kochen Plastikspritzen aus, reiben Puppen mit Watte ab usw. Nadja halbierte mit einem Blick auf Koroljows Wohnungstür Wadjas abendliche Ration – auch wenn der anfangs um sich schlug.
»Vergiss es. Nein, kriegst du nicht. Ist doch peinlich vor den Leuten. Nein!«, zischte Nadja, wehrte die Prügel ab, stieß ihn mit dem Fuß weg und versteckte im Ausschnitt die Faust mit dem Fläschchen Apothekenalkohol, 100 ml zu siebzehn Rubel, zur äußerlichen Anwendung.
Nachdem Wadja sich einmal mit dieser Art von Symbolik abgefunden hatte, befolgte er sie mit Begeisterung: Das Eingebläute ging ihm in Fleisch und Blut über. Fast wäre er im Feuereifer verbrannt bei dem Versuch, Koroljows Nachbarn ins Gewissen zu reden[17 - j-m ins Gewissen reden – взывать к чьей-либо совести, усовестить кого-либо], als der betrunken nach Hause kam und auf der Treppe hinfiel.
Wadja hinkte zu ihm hinunter. Der Mann lag auf dem Rücken.
»Was denn, Kumpel. Solltest mal ein bisschen kürzertreten. Komm, hoch mit dir …« Wadja beugte sich über ihn.
Der Mann stöhnte und reckte seinen Oberkörper der zu Hilfe geeilten Nadja entgegen; die Beine wollten ihm nicht gehorchen.
»Sachte, sachte, Kumpel. Immer mit der Ruhe!«, sagte Wadja beruhigend und zog ihn ein wenig vom Geländer weg.
Blut tropfte aus der Nase auf die Stufen, die Tropfen hüllten sich ringsum in Staub. Wadja brachte ihn zur Wohnungstür, die Frau ließ ihn rein – und dann ging’s los: Die Tür flog wieder auf, der zu sich gekommene Nachbar, die Lippe blutig, schüttete Azeton auf die Treppe und die dort liegenden Obdachlosen.
»Drecksgesindel!«, brüllte er, lehnte sich gegen die Wand und ratschte mit durchnässten Streichhölzern. »Ich fackel euch alle ab!«

Steppe, Berge, Kloster

V
Wadjas Lebensgeschichte war so ausgedacht wie wahr. Er hatte sich derart tief in seine Fantasiegespinste hineingelebt, dass ihm schon vor langer Zeit jegliche Grenzen des Faktischen abhandengekommen waren. Wenn ein irritierter Gesprächspartner eine Unstimmigkeit bemerkte, reagierte er mit arglosem Wahrheitsglauben:
»Wer soll das jetzt noch wissen. So ist das eben manchmal.«
Die Biografie – eine Hieroglyphe des Lebens – ist der einzige Besitz der Obdachlosen. Sie hegen und pflegen die eigene Geschichte, wie Menschen von jeher sakrale Texte bewahrt und nachgeschliffen haben. Zu erzählen, was ihnen widerfahren ist, ist der Zauberrubel, mit dem sie sich gemeinhin einen Platz unter ihresgleichen erkaufen – die Ration Tabak, Alkohol, Essen, Wärme. Je dichter, unerwarteter und reicher diese Flunkerei verwoben ist, je mehr Schnörkel und Komponenten die Hieroglyphe hat, desto mehr bekommt man. Die Stummen, die nicht gut erzählen können, nicht amüsieren, aufwühlen oder Interesse wecken, werden von den anderen »Klotz« genannt.
Es ist falsch zu glauben, dass Menschen, die nie Zeitung gelesen und nie ferngesehen haben, echtes Wissen über die Welt besitzen. Doch der Mythos, den sie mit ihren Verirrungen nähren, ist einzigartig. Folgt man den bald skurril märchenhaften, bald schlicht unglaublichen Peripetien, kann man eine verblüffende Wahrheit über die Welt ans Licht bringen[18 - etwas (Akk) ans Licht bringen – вывести что-либо на свет божий, разоблачить, обнаружить, предать гласности что-либо]. Zwar wird sie – wie alle anderen Wahrheiten – eine barbarische Projektion der nichtexistenten höchsten Wahrheit sein (sein Schatten entstellt einen Gegenstand oft bis zur Unkenntlichkeit), doch ist es nahezu unmöglich, sie zu ignorieren, anders als die allgemein anerkannte Projektion, die an eine Lüge grenzt, als eine nicht von innen heraus entwickelte, sondern von außen aufgezwungene Kategorie.
Wo zum Beispiel konnte man sonst so was zu hören bekommen, was Wadja ganz beiläufig einem neuen Bekannten erzählte. Dass in Gagra ein alter Mann, so ein gruseliger Typ – seine Hände sahen aus, als wären es nicht seine, schwarz wie Kohlen, gangränös, aber vollkommen biegsam, tödlich konnte er damit zupacken, mit zwei Fingern einem die Gurgel rausreißen – dass dieser Alte also, wohl ein Grieche, wer will das heute noch wissen, erzählt hätte, das Muttermal auf Gorbatschows Stirn wäre so lange gewachsen, bis es wie Russland aussah. Wenn man nämlich mal auf den Globus schauen würde, würden Maße und Form übereinstimmen, eins zu eins. Nur, als der Fleck ausgewachsen war, wäre es mit seiner Macht vorbei gewesen. Und wer ihm jetzt die Haut vom Schädel abziehen würde, der würde Russland in seine Gewalt bringen.
Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu:
»Viele wollten diesem Griechen, diesem Alten, die Hand küssen. Hab ich selbst gesehen. Er hat aber nicht alle gelassen, nicht alle waren seiner würdig. Doch wenn du sie ehrerbietig geküsst hast, dann wird nie im Leben etwas an dir verfaulen, als wärst du verzaubert.« Wadja machte den Mund auf und klackte mit dem Fingernagel gegen seinen abgebrochenen Schneidezahn.
»Hast du sie denn geküsst?«
»Nee. Wurde nichts draus. Der Alte hat mich nicht gelassen. Na ja«, seufzte Wadja.
Stumm, wie sie war, wäre Nadja allein auf sich gestellt zum Dahinvegetieren und schnellen Tod verdammt gewesen. Aber Wadjas Redseligkeit reichte locker für zwei.

VI
Seine Geschichte entsprang zwei Flussarmen: einem hauptstädtischen und einem südrussischen, vorbei an Bergen und Steppe. Den ersten Arm entlang floss Wadja, eingestimmt auf den jeweiligen Gesprächspartner, in voller Fahrt einer ungewissen Mündung entgegen: Ob nun als Sohn des Wärters im Neujungfrauenkloster zur Welt gekommen oder aber von dem dortigen Diakon als Waise aufgenommen – seine Mutter war jedenfalls verstorben. Er hatte eine zwanglose Kindheit gehabt, herrlich waren die Weite des Flusses, das Angeln und die Floßfahrten, die Eidechsen auf den warmen Steinen am Friedhof, die Nachtigallen im Flieder und in den Linden am Teich, die Laubhütten auf den Sperlingsbergen oder unter den Trägern der Metrobrücke am Andreas-Kloster; der Dämmerduft der Abende, das scheinheilig heruntergeleierte Gehaspel des Diakons während der Salbung bei der Taufe, das rote Gesicht des Popen, der alle ohne Ausnahme am Schlafittchen auf den rechten Weg zog, vom Milizionär bis zum Restaurator. Bald saß er zum ersten Mal ein: Er ging schon auf die Berufsfachschule für Autokranführer (der mennigrote Schriftzug IWANOVEZ auf dem dicken gelben Kranausleger, ein Gewirr von Hebeln im Fahrerhäuschen, welchen sollte man da nehmen?!). In der Nähe des Klosters lungerten immer Devisenschieber und Ikonendealer herum – die zahllosen ausländischen Touristengruppen (braungebrannte, johlende Hutzelmännchen, klapperdürre Omas mit lilafarbenen Pusteblumen über Ästuarien aus runzligem Lächeln) lockten die einen wie die anderen hierher. Sie köderten ihn, fragten: Wovon träumst du? Und stellten ein Motorrad in Aussicht. Wadja fackelte nicht lang und schleppte Ikonen raus. Der Diakon (oder Wärter) versuchte nicht, den Stiefsohn herauszuhauen, und ließ ihn gehen mit Gott. Er bekam fünf Jahre, war zahm, nach dreien wieder frei und lebte dann jenseits der Hundertkilometergrenze: in der Ortschaft Peski bei Woskresensk, Hilfsarbeiter in einer Zementmühle, Zerleger auf der städtischen Mülldeponie, einmal hätten ihn fast die Ratten zerfetzt, er harrte auf einem Bulldozer aus, Lagerprüfer in einem Stahlbetonwerk, überall wurde er entlassen, zog von Wohnheim zu Wohnheim, wurde auch von dort verjagt. So ging es dahin. Im Winter Gelegenheitsjobs als Maurer: Schweineställe, Kuhställe, Zäune. Im Sommer in südlichen Gefilden: In Gagra fügte er sich ins Tagelöhnern. Satt wurde man: Chasch, Lawasch und Tschatscha*, Körbe voller Weintrauben, das Hochland, die Sonne, das Meer (das er fürchtete wie eine Axt). Die Pässe nahm man ihnen ab, Arbeit gab es gegen Futter, Schlafen in der Scheune, nachts ließen sie die Hunde los: kein Weglaufen, kein Rauskommen. Zum Ende der Saison wurden sie – drei junge Tagelöhner – einmal zu Tisch gebeten, die Banja war schon eingeheizt. Der Hausherr trank viel, sehr viel, und bot ihnen seine Frau an. Die bediente bei Tisch, schwarzes Kopftuch, dürr, nicht mehr ganz jung. Ihre Züge versteinerten, der Blick verschloss sich dem Unvorstellbaren, sie gab keinen Laut von sich. Als sie ausgetrunken hatten, lief Koljanytsch ihr verlegen hinterher – und der Hausherr folgte den beiden anderen in die Scheune. Mit Gewehr. Ließ seine Hosen runter und legte an. Schwankte, hob den Kopf vom Kolben, der Mund stand offen, darin wälzte sich mühselig die dicke Zunge. Nur knapp gelang die Flucht. Ein Glück, dass ihn die Hose fesselte, er schoss und traf nicht, zerfetzte das Scheunendach, die Tür flog aus den Angeln. Dann ab die Post, im Dunkeln, durch die Schluchten, weg von den Hunden, bei Tagesanbruch landeten sie am Meer und trampten weiter bis Noworossijsk. So verlor Wadja seinen Pass. Dazu noch die Wirren der Perestroika, Flüchtlinge aus allen Ecken des Landes*. Sich neue Papiere zu besorgen, kam ihm nicht mal in den Sinn. Nur wenn ihm jemand an den Kragen wollte[19 - j-m an den Kragen wollen (разг.) – пытаться взять за горло кого-либо, пытаться расправиться с кем-либо], war er fähig, etwas zu unternehmen und sich Gedanken zu machen. Und auch dann keine allzu großen.
Wie ein Köter, der, in Ungnade gefallen, vom Hof gejagt, wieder vor der heimischen Pforte aufschlägt, trieb es Wadja zurück in den Park vor dem Neujungfrauenkloster. Der Diakon (oder Wärter) war gestorben, seine Frau, Tante Olja, hatte schon das Zeitliche gesegnet, als Wadja noch hier lebte (»Gott hab sie selig!«, unterbrach Wadja feierlich seine Geschichte und bekreuzigte sich langsam und ausladend); ein neuer Pope war da, das Museumspersonal hatte gewechselt, größtenteils gebildete Leute, die mit Aktenmappen unterm Arm geschäftig auf den Wegen hin- und herliefen; Scharen von Nonnen werkelten jetzt überall herum, und die Touristen hatten an Zahl und Lautstärke zugelegt. Einige von ihnen kamen in den Genuss, in Wadjas runden, innigen Redestrom einzutauchen. Doch nicht alle hörten ihm bis zum Schluss zu, sobald ihnen klar wurde, dass er log, dass die Geschichte niemals enden würde.
Nun bettelt Wadja schon seit einem Jahr, länger sogar, mit zwei oder drei Kumpels zaghaft die Ausländer an, steht vor der sonntäglichen Frühmesse und an Feiertagen mit seiner Mütze am Tor, in einigem Abstand zu den doppelstöckigen Reisebussen. Auf das Klostergelände lässt man ihn nicht. Das hat der Leiter des neuen Klosterwachschutzes angeordnet. Das einzige Geschöpf, das sich hier noch an ihn als kleinen Jungen erinnert, ist Baba Warja, die Frau des verstorbenen Heizers, Onkel Serjosha. Sie hat Wadja nicht vergessen, nahm sich seiner etwa ein halbes Jahr an, mal brachte sie ihm Piroggen, mal Zwieback, mal ein Stück vom Osterkuchen, mal ein Einmachglas mit Suppe. Das Glas sammelte sie immer wieder ein, einmal zerschlugen sie es, die Sünde ward ihnen nicht verziehen. Dann wurde sie krank, und ihr Sohn holte sie zu sich nach Woronesh, ins Kernkraftwerk, wo er als Techniker arbeitete. So hat es Wadja auch Nadja und den Kumpels erzählt: Baba Warja sei in die Atomfabrik gefahren und lebe jetzt dort. Genau da, in der Atomfabrik, da fänden solche Menschen Platz, das wäre ja wohl das Mindeste.
Seine Pennerkollegen halten ihn für kirchlich gebildet, schon allein deshalb, weil er hinter den Klostermauern zur Welt gekommen ist. Alles, was auch nur entfernt mit dem Gegenstand der Religiosität zu tun hat, betrachten Obdachlose als heilig.
So vergehen ein Jahr, zwei Jahre – es ist Spätherbst, früh am Morgen, gegen acht Uhr. Ein Nebelschleier hängt über dem Kloster, über der zinnengesäumten Mauer erhebt sich das weiße Sonnenzelt. Ohrenbetäubend zanken sich die Spatzen. Die Menschen hasten durch den Park zur Metro.
Wadja hat sich auf die Bank gesetzt zu einem Jugendlichen, der auf jemanden wartet und ein Buch liest. Nach einiger Zeit hört der Jugendliche auf zu lesen. Er lauscht Wadja.
Auf der Nachbarbank hat sich ein Mann aus seinem Dämmerzustand hochgerappelt, ist zu ihnen herübergewankt und hat sich dazugesetzt, klein, schwach, aufgedunsen. Er streckt die dreckige Hand aus und hält sie auf. Wartet. Nickt, will etwas sagen. Die Hand zittert. Er lässt sie sinken, legt sie auf den Oberschenkel – den Unterarm ausgestreckt zu halten, dazu fehlt ihm die Kraft.
»Bruder«, sagt er zu dem Jungen, »meine Mutter ist gestorben. Hab kein Geld für die Beerdigung.«
Eine Träne läuft ihm über die schmutzige Wange und hinterlässt einen kleinen schmutzigen Fleck.
Der Junge kramt erschrocken ein paar Münzen aus der Tasche, zögert und gibt noch zwei Scheine aus dem Portemonnaie dazu.
Der Mann schläft mit dem Geld in der Hand ein. Seine Finger erschlaffen. Die Münzen klirren. Der Junge schielt hinüber, hebt sie aber nicht auf.
»Tja«, erläutert Wadja, »das ist Koljanytsch. Seine Mutter ist gestorben.«
»Moment mal.« Der junge Mann stutzt. »Was sitzt er dann hier? Wie kann das sein?«
Wadja zuckt mit den Schultern[20 - mit den Schultern zucken – пожать плечами].
»Wir saufen seit fünf Tagen. Der kommt gar nicht zu sich.«
»Moment mal. Ist das derselbe Koljanytsch, dem die Frau den Kopf abgesäbelt hat?«
Wadja lächelt erst zufrieden, dann lässt das Lächeln nach, sein Gesicht wird strenger.
»Ganz genau. Eben der. Hier hat er die Narbe.« Wadja fährt sich mit der Handkante quer über den Kehlkopf.
Der junge Mann steht auf und mustert Koljanytsch. Der döst, sein Kopf ist auf die Brust gesunken. Unter seinem Kinn schaut tatsächlich, gleich einer dicken Kordel, eine scheußliche blaurote Narbe hervor. Der junge Mann setzt sich wieder hin, steckt sich hastig eine Zigarette an und hält Wadja das Päckchen hin.
Von zwei Bänken, die auf die Wiese gerückt und deren Sitzflächen zusammengeschoben sind, erhebt sich eine Frau im Wolltuch von ihren Plastiktüten. Sie blickt sich blinzelnd um.
Wadja nimmt ein paar kleine Schlucke, versteckt seine Flasche unter der Jacke, zieht eine Zigarette aus dem Päckchen und beschmutzt dabei mit den Fingern die knochenmarkweißen Filter daneben. Der Junge steckt sein Buch in den Rucksack. Er wartet auf seine Freunde, die in der Nähe wohnen. Sie wollen heute weit raus ins Moskauer Umland, Pilze sammeln und im Wald schlafen.
»Warum trinkt ihr denn die ganze Zeit? Vielleicht solltet ihr das besser lassen?«, fragt er Wadja, allen Mut zusammennehmend.
Die Frau hinter der Bank spuckt sich auf den Handrücken, reibt sich die Augen. Greift nach einer Plastikflasche. Gießt sich etwas auf die Hand, reibt noch mal.
»Letzten Frühling, mein Freundchen, April war’s, da ist hier was passiert. Ich erzähl ganz ehrlich, wie’s war.«
Wadja holt einen Kamm raus, drückt sich mit einer Hand die Haare platt, kämmt sich, steckt ihn wieder ein, schaut sich um, nickt dem Jungen zu, holt tief Luft und fängt an zu erzählen.
»Wir haben damals ganz schön gesoffen. Ich, Pantja und Berkino, ein irrer Typ, der zu der Zeit wohl gerade gut bei Kasse war. Na, wir trinken also ungefähr den fünften Tag. Ich schau so vor mich hin – sitze hier so wie mit dir jetzt … Ja. Auch Koljanytsch saß dabei. Bloß, dass er damals geschlafen hat.«
(Er haut Koljanytsch in den Nacken. Koljanytsch hebt ruckartig seinen abwesenden Blick auf den Studenten. Brummt, nickt. Steckt das Geld unters Hemd, die restlichen Münzen rutschen ihm direkt wieder unten aus dem Hemd raus vor die Füße.)
»Es war Abend, die Glocken hatten schon geläutet, Leute gehen und gehen, fast alle sind schon weg. Und ich schau nur so – da senkt sich von dort, von da oben ein schwaches Licht herab … Die Muttergottes. Sie steht vor mir. Ich bin glatt erstarrt. Ganz weiß ist sie. Ich kann mich nicht rühren. Arme und Beine gelähmt. In der Brust ein Brennen. Ganz streng redet sie mit mir. Ist ja nun mal die Muttergottes … ›Jesus Christus schickt mich. Er will dich ermahnen: Wenn du nicht aufhörst zu trinken, wirst du im Februar sterben. Kapiert?‹«
An dieser Stelle runzelt Wadja die Stirn, kleine Tränen kullern ihm aus den Augen, er winkt ab, verzieht das Gesicht. Dann reißt er die Augen auf und wischt sich mit der Faust über die Wangen.
»Da hab ich bitterlich geweint, völlig kraftlos war ich, im Herzen schwach … Hab eine Weile geweint, mich dann vor sie hingekniet und gesagt: ›Vergib mir, Muttergottes‹.«
Wadja sinkt auf ein Knie und bekreuzigt sich.
»Vergib meiner sündigen Seele, nur richte doch Jesus bitte aus … Ich werde bestimmt nicht mit dem Trinken aufhören. Das ist mir ganz und gar unmöglich. Richte ihm das bitte aus, sei so gut.«
Der junge Mann sitzt mit offenem Mund da. Die Freunde stehen jetzt auf der anderen Straßenseite und warten auf Grün. Ein Auto nach dem anderen fährt um die Ecke. Der Junge ist völlig in die Geschichte versunken.
»Und dann ist sie verschwunden?«
»Auf und davon. Zum Teich ist sie gelaufen, nehm ich mal an, zum Ufer runter. Meine Beine waren wie gelähmt. So saß ich dann da, bis es dunkel war, bis Nadjucha mich fortgezerrt hat.«
»Was heißt, sie ist gelaufen? Ist sie nicht … aufgefahren?« Der Junge wiegt skeptisch den Kopf.
»Gelaufen ist sie, gelaufen … die Himmlische …« Wadja winkt ab und reibt sich das Auge trocken.
Der junge Mann zählt sorgfältig im Stillen die Monate durch und murmelt:
»Dezember …«
Seine Freunde rufen. Er greift sich den Rucksack und stürzt davon.

VII
Wadja kämmt sich gern. Während Nadja sich wäscht und mit dem Finger die Zähne abreibt (sie macht das ganz vorsichtig und verzieht dann plötzlich das Gesicht – der obere Eckzahn tut weh), sitzt er mit überschlagenen Beinen und ist mit einem Aluminiumkamm zugange, dem zwei Zinken fehlen. Lange, sorgfältig streicht er die dichten schwarzen Wellen nach oben und zur Seite, drückt sie mit der Handfläche an, neigt den Kopf, betrachtet etwas in der Puderdose. Dann hält er die Zinken gegen das Licht, pustet geräuschvoll die Schuppen weg, zerquetscht bedächtig und geschickt mit dem Fingernagel eine losflitzende Laus, die wie eine winzige Schildkröte aussieht. Dann steckt er sich eine Zigarette an. Pustet den Rauch aus dem Mundwinkel zur Stirn hoch, kneift die Augen zusammen, mal korrigiert er mit einer Feile den etwa streichholzlangen Nagel am kleinen Finger*, mal untersucht er pingelig den Kamm, klopft ihn aus, hält ihn sich längs vor die Augen, ob er auch nicht verbogen ist. Und kämmt sich nach kurzer Überlegung damit den Bart.
Überhaupt ist Wadja eine prächtige Erscheinung. Dadurch ist er zwar seiner Umgebung ausgeliefert, aber gleichzeitig auch geschätzt, je nach Situation. Und für die hat Wadja ein genaues Gespür und kann sie in eine für ihn vorteilhafte Richtung lenken. In den östlichen Kampfkünsten gibt es Techniken, bei denen man sich die Energie des gegnerischen Angriffs zunutze macht. Doch wenn die Realität versteinert ist, wenn sie durch nichts zu einem Angriff provoziert wird, dann hat ein schwacher, unansehnlicher Körper der Welt nichts entgegenzusetzen – und erstickt unter der starren, ihn langsam überrollenden Realität.
Wadjas Körper ist klein, drahtig und gekrönt von einem überproportional großen Kopf, der mehr als die halbe Schulterbreite einnimmt. Seine prächtige Mähne trägt er gut frisiert, und mit seinen Zügen, den ausdrucksstarken Winkeln der Nasenflügel, dem breiten Mund und dem besonderen Lächeln, das immer lebhaft mit seinen Augen zusammenspielt, ähnelt er einem berühmten Menschen, dessen Gesicht absolut jeder kennt; ohne dass man allerdings wüsste, wer es ist. Dabei ist die Ähnlichkeit frappierend, viele sind irritiert: von dem offenen Rätsel seiner Erscheinung, das niemand auf die Schnelle[21 - auf die Schnelle (разг.) – по-быстрому, на скорую руку] zu lösen vermag.
Erst Koroljow sollte später Wadjas geheimnisvolle Ähnlichkeit enträtseln. Die Entdeckung verblüffte ihn keineswegs, aber die Welt erschien ihm mit einem Mal durchschaubar. Wunder erstaunten Koroljow weniger als die schlichte Realität, denn er betrachtete das Wundersame als den Wesenskern der Welt, und darüber erstaunt zu sein, wäre ein Zeichen fehlenden Respekts …
Ebensowenig hatte er seinerzeit gestaunt, als er in der Metro einem Mann begegnete, der aussah wie Joseph Brodsky auf Fotos aus den 1960er Jahren. »Wahrscheinlich sein Sohn«, dachte sich Koroljow damals. »Oder doch nicht, sondern einfach nur einer, der ihm sehr ähnlich sieht. Ist ja auch egal. Gesichter sind, wie alles auf der Welt, flexibel klassifizierbar. Letzten Endes lernt der Mensch, insbesondere der einsame, die Wesen um sich herum nicht als Individuen wahrzunehmen, sondern als Typen. Ein Bettler sortiert die Passanten beispielsweise nicht nach Gesichtern, sondern nach Kategorien wie Großzügigkeit, Geiz, Mitgefühl oder Gleichgültigkeit …«

VIII
Der südliche Arm von Wadjas Biografie ist traurig. Ihmzufolge wurde er in einem Dorf bei Astrachan, in der Strelezkojer Steppe geboren. Stromleitungen summten über den menschenleeren Straßen, Häuser blickten blind durch verschlossene Fensterläden; gleich hinter dem Dorfrand wellten sich schwere Sandmassen, entrollte die Achtuba ihr Flussbett. Die Ufergebiete waren vom staubigen, harten Teppich der Schafweiden bedeckt, hier und dort knabberten einzelne Schafe, mal auch ganze Herden das unter ihren Lippen kaum nachgewachsene Gras, kräuselten sich kleine graue Inseln aus Kameldisteln. Kinder trieben mit Stäben verrostete Metallreifen am Ufer entlang, in den Vorgärten verstaubten bucklige Büsche aus Ringelblumen, Bögen der Sonnenhüte und rankende Weinreben. An einer Ausgrabungsstelle schwitzten Archäologen. Sie legten eine Zigarettenpause ein und hörten eine Lerche singen, die im fürs Auge unerträglichen Zenit Purzelbäume schlug[22 - Purzelbäume schlagen – кувыркаться].
Zum Wechsel der Jahreszeiten stimmte der Wind seine Leier an. Er trieb meterbreite Wogen stromaufwärts in den Wolganebenarm Aschuluk. Jenseits der Landstraße dampften orange Sandseen. Der Fährschlepper steckte manchmal eine Stunde lang im Flusslauf fest. Der Steuermann riss den Starthebel hin und her, hielt das Steuerrad mit dem Knie, rauchte gut und gerne eine halbe Schachtel weg, während die Maschine sich zentimeterweise durch die reißende Strömung arbeitete.
Im Mai kamen die Heringe von der Küste des Kaspischen Meers in den Aschuluk. Uferrand, Wasserkastanien, Riedgras waren voll ihrer schäumenden Milch. In Fässern und Plastiksäcken für Superphosphat-Dünger brachte Wadja den leicht gesalzenen Fettfisch nach Wolgograd, Tambow und Mitschurinsk.
Wie ein vom Orkan der Umbruchszeiten gejagtes Sandkorn stellte er sich eines Tages mit einem Kumpel an die Landstraße, und sie stoppten den Sattelzug eines Exportunternehmens, der mit einer Ladung von Chochloma-Souvenirs* in den Iran unterwegs war.
In Derbent sprangen sie ab. Zuerst verlegten sie auf einem Friedhof »Bruchstein«: verkleideten die Einfriedungen reicher Grabmäler, die Friedhofsmauer, den Sockel der Friedhofswerkstatt, wo schwarzer Marmor geschnitten, geätzt und geschliffen wurde. Den Bruch holten sie vom Meer, wo eine uralte Mauer ins Wasser führte. Bis zur Hüfte oder Brust in der Brandung, trugen sie diese ab. Der Seegang, mächtig und zärtlich, warf sie immer wieder um, während sie die im Wasser leichten Steine hinaustrugen; erst kurz vor dem Ufer nahmen sie sie hoch und klammerten sich daran fest, wenn die Wellen aufprallten, in denen der Kies zischte, pochte und klapperte.
Danach nahm der Friedhofsdirektor sie mit auf seine Datscha in die Berge – zu Sauermilch und hoher, eisiger Morgendämmerung, zu blauen Stoffbahnen aus Schnee, zu unersättlichem Atem: Sie umzäunten die Schafweide mit Pflöcken, schütteten den Kellerboden mit Estrich aus, gruben einen zweiten Keller mit einem unterirdischen Gang zur Hinterseite des Gemüsegartens. Am Ende der Arbeitssaison – sie wollten sich schon nach Hause aufmachen – setzte man sie eines Nachts auf Esel, stellte ihnen für zwei Tage Arbeit einen Batzen Geld in Aussicht[23 - j-m etwas (Akk) in Aussicht stellen – обещать кому-либо что-либо, обнадёживать кого-либо чем-либо] und brachte sie weg.
Und zwar tief in die Berge. Sie kamen erst am Nachmittag des übernächsten Tages an und hatten vom Höhenunterschied verlegte Ohren. So landeten sie in der Sklaverei, in einem gottverlassenen Aul.
Sie schliefen in der Scheune bei den Ziegen. Tagsüber bauten sie das Haus um, es war groß, plump, hatte fast keine Fenster. Sie setzten Anbauten dran, deckten das Dach ab, zogen den Dachfirst höher, legten Dachziegel, errichteten einen Bogengang ums Haus und bauten darauf eine überdachte Galerie …
Bei Sonnenuntergang, wenn ein Stück die Straße hinunter der Ruf des Muezzins verklang, legten sie die Arbeit nieder, setzten sich und warteten, dass man ihnen das Essen brachte. Ihr neuer Chef – ein unrasierter, einäugiger Alter in Pelzmütze und Jackett, an dem drei Ordensbänder hingen – sprach nie mit ihnen, er brachte nur die Baupläne: säuberlich gezeichnet, auf Millimeterpapier, mit grüner Mine.
Manchmal, wenn der Alte mit strengem Blick die aufgefächerten Baupläne durchsah, verglich er sie verstohlen mit einem Kinderbuch, in dem Wadja einmal einen Blick auf ein blaues Schloss erhaschte. Auf einer ganzen Doppelseite war dort in allen Einzelheiten ein riesiges Märchenschloss gemalt, ein wildes Durcheinander aus kleinen Hängebrücken, Türmchen, Mansarden, Mezzaninen, Flügeln und Plätzen, auf denen kristallene Orangerien standen, sich Beete blähten und geschnitzte Taubenschläge weiß leuchteten … Winzige Menschlein mit spitzen Mützchen schlenderten auf den kleinen Brücken auf und ab, jäteten Unkraut in Gemüsebeeten, hüteten kugelrunde Schafe mit sechs Beinen, fischten, hackten Feldraine, flochten Zäune …
Wadja verstand nichts von technischen Zeichnungen und verließ sich auf seinen Kumpel. Serjoga war auf der Baufachschule gewesen, hatte sogar Prüfungen gemacht. Aber auch er verstand nicht viel von Plänen, und so kam es, dass sie einfach ihrer Fantasie freien Lauf ließen und so bauten, wie es sich ergab.
Der Alte hasste sie, behandelte sie aber leidlich. Fast ein Gnom, dürr, mit Hakennase und rotem, sehnigen Hals; die Mundwinkel zog er bösartig bis zu den Ohren, wobei zwei Reihen Goldzähne zum Vorschein kamen[24 - zum Vorschein kommen – появиться, обнаружиться]. Die Tage verbrachte er bei seinen Bienenstöcken. Abends, auf dem Rückweg, mit einer Schüssel voll Wabenhonig, in eine Wespenwolke gehüllt, lief er an der Baustelle vorbei und krächzte beim Anblick seiner Arbeiter fürchterlich, plärrte etwas und spuckte aus. Nachsichtig war er zu ihnen vor allem aus Vernunftgründen: damit sie sich nicht zu Tode schufteten, damit Wadjas Eiterblase am Finger schneller heilte …
Einmal kam die Nachbarin zu ihnen, eine Frau mit unglaublich vielen Kindern. Sie war zu Tode erschöpft und sammelte in einem fort ihre Bengel von der Straße auf. Es hatte immer so ausgesehen, als würde sie die Russen nicht bemerken. Doch einmal kam sie mit einem Backblech voller Maisgrütze in den Hof. Sie stellte es vor sie hin, richtete sich auf und sagte: »Gestern war ich in der Stadt, und da hatte ich den ganzen Tag solche Sehnsucht nach meinen Kindern, hab immer gedacht, wie es ihnen ohne mich wohl geht, was sie wohl essen. Und da habe ich beschlossen, euch das hier zu bringen. Ihr seid doch hier auch mutterlose Kinder.«
Der Alte sah es und sagte nichts.
Seiner Enkelin, einem hübschen Mädchen von etwa zehn Jahren, machte es Spaß, die Gefangenen zu beobachten. Sie schenkte ihnen mal einen Fetzen Mull, mal eine Papirossa, die sie irgendwo gemopst hatte, mal ein paar Brocken unreifer Honigwaben mit säuerlichem Bienenbrot, mal sogar ein ganzes Zeitungsblatt voller Käsekrümel. Einmal, zum Ersten Mai, brachte sie ihnen eine ihrer Spielsachen – ein kleines Strohpferdchen mit einer roten Schleife um den Hals …
Unterm Dach hatte der Alte einen Käfig mit zwei Falken, an deren Füßen Glöckchen hingen. Einmal am Tag holte er sich ein Huhn vom Hof, erschlug es kreuzweise mit zwei Axthieben, legte es in eine Schüssel und stieg die Treppe zum Käfig hinauf. Er stellte den Vögeln die Schüssel hin, wartete, bis sie sich sattgefressen hatten, legte Flaum, Federn und Knochen zurück in die Schüssel und zwängte die Falken einen nach dem andern durch das kleine Türchen in die Freiheit. Die Falken flogen eine Weile herum, saßen kurz auf dem Dach oder auf dem Zaun, dann kamen sie zurück und wollten Nachschlag …
Die Frau des Alten brüllte die Gefangenen jeden Morgen an: von wegen, sie würden ihre Ziegen melken! Sie widersprachen ihr nicht. In Wirklichkeit waren es die Schäferhunde, zwei gewaltige Biester, die die Ziegen aussaugten. Der eine biss der Ziege in den Hals, und während sie weinte, bearbeitete der andere das pralle Euter, das wie eine Glocke an ihr baumelte.
Der Sohn des Alten war gebildet, sprach gut Russisch. Die Enkelin des Alten hatte erzählt, ihr Papa sei Leiter des Kulturhauses in einem der Dörfer unten. Wenn er seinen Vater besuchen kam, schimpfte er auf die Gefangenen. Sagte, sie gehörten erschlagen, weil sie kein Haus bauen würden, sondern aufeinandergetürmte Bienenstöcke.
»Das soll ein Haus sein?!«, brüllte er. »Antwortet gefälligst! Das ist Irrsinn, die Kopfgeburt von Idioten! Wir sind doch hier nicht in Barcelona! Vater, was machst du bloß? Schmeiß sie raus!«
In der Scheune verstreuten die Ziegen ihre Köttel, pissten alles voll und gingen manchmal ohne jeden Anlass[25 - ohne Anlass – без повода, без причины] aufeinander los, man musste sie bei den Hörnern packen, zu Boden werfen, mit den Füßen in die bebende Flanke treten: ihnen Benehmen beibringen. Die resolute Alte versorgte die Gefangenen mit Knoblauchlinsensuppe. Der Alte gab reichlich selbst angebauten Tabak aus und einmal pro Woche eine Streichholzschachtel voll Haschisch.
Der Rausch stumpfte ab und ließ die Zeit schneller vergehen. An Flucht dachten sie, wenn überhaupt, nur als eine anstrengende Unannehmlichkeit.

Nach einem Jahr führte er sie vor das Dorf, gab jedem eine Streichholzschachtel und einen Beutel mit alten Zeitungen und Brot. Er zeigte auf den nächsten Berg und krächzte etwas.
Weit kamen sie nicht, schleppten sich mit Müh und Not[26 - mit Müh und Not – насилу, с большим трудом] zurück. Da führte der Alte sie mitten in der Nacht irgendwohin.
Der Mond bog langsam ihren ausgeklügelten Weg zurecht. Sie kamen an einen Wiesenhang. Vor ihnen bäumten sich tosend waldige Bergsilhouetten auf. Der Alte rief etwas, rannte den Hügel hinunter und verschwand im Wald. Da legten sie sich in den Tau und schliefen bis zum Morgengrauen.
Um Siedlungen machten sie einen Bogen. Ernährten sich von Kastanien und Nüssen. Wenn sie Wildschweine hörten, harrten sie auf einem Baum aus.
Eine Woche später knallten und rissen abends Schüsse durch den Himmel.
Lange spähten sie – was war das?
Plötzlich schoss ein Hubschrauber unter einem Steilhang hervor. Sie erstickten fast, taumelten vor Schreck, die Druckwelle überrollte sie.
Die Maschine stand still, flog auf sie zu.
Sie stürzten den Abhang hinunter, sprangen zur Seite und sahen sich um.
Die Flugblätter knallten, darüber ein nebelgraues Kräuseln, der Wind schob in Wogen die Luft weg, der Druck nahm einem den Atem.
Ein Maschinengewehrlauf fuhr herum.
Den Kumpel erwischte es. Wadja fiel nach ihm um. So war er nach Tschetschenien geraten. Man registrierte ihn als befreiten Gefangenen. Wadja trägt immer noch in Folie den Zeitungsfetzen bei sich, worin die Befreiung dreier russischer Bürger vermeldet wird, darunter auch Beljajew, Wadim Sergejewitsch, geb. 1972 im Dorf Strelezkoje, Gebiet Astrachan.
Mit diesem Papier bereiste Wadja das ganze Land, angefangen in Mineralnyje Wody. Dort erklärte er Touristen am Bahnhof, er wäre hier zur Kur, bisschen Heilwasser trinken, mit einem Ferienscheck vom Rehabilitationsprogramm für Armeeangehörige, um sechs Uhr früh aus dem Zug gestiegen, aufs Klo gegangen, und plötzlich – paff! – mit dem Schlagring eins auf den Hinterkopf; er wär wach geworden – alles weg: Brieftasche, Jacke, Schuhe; jetzt würde er in ausrangierten Waggons herumlungern, die Bullen kennen kein Erbarmen, schlimm ist das.
Nun denn, die Touristen schmieren den Schaffner, stecken ihnen noch ein paar Kröten zu, führen Wanja zum Zugrestaurant, spendieren Speis und Trank und stellen verlegen Fragen über seine Gefangenschaft. Wadja trinkt, isst was hinterher, wie es sich gehört, und berichtet mit Bedacht.
So reiste er kreuz und quer durchs Land, tauchte ein ins Leben der Endbahnhöfe, schlief und hauste in dazu umfunktionierten Eisenbahnwaggons voller Menschen, für die der Weg zum Zuhause geworden war – bis er Nadja begegnete.
Nadja tauchte in Toksowo* auf, wo man ihn aus dem Zug geworfen hatte. Der Zug war gerade erst aus dem Bahnhof gerollt, Wadja klopfte sich kurz den Dreck ab und lief zurück, einen Schlafplatz suchen.
Der Bahnhofsvorsteher hetzte die Bullen auf ihn: »Soso, du hast also deinen Zug verpasst? Ich verpass dir auch gleich eine. Kapiert?«
Er bekam leichte Prügel, am nächsten Morgen lief er dann durch die verlassene Stadt, die ganz krumm und schief war, vorbei an alten Datschen mit durchgerosteten Dächern, warf einen Blick hinter die Zäune, drehte sich immer wieder um und prägte sich den Rückweg zum Bahnhof ein. Über eine gebrochene Zaunlatte kletterte er in einen verwilderten Garten, kroch auf den Knien herum und sammelte honigfarben schimmernde Antonowka-Äpfel.
Die Sonne stand am Himmel, verschwamm in einem Nebelschleier, der sich von der Erde losgerissen hatte.
Die Apfelbäume standen bis zur Brust im Dunst. Am anderen Ende des Gartens stapfte ein altes weißes Pferd schlaftrunken auf einen dumpf zu Boden gefallenen Apfel zu. Zerkaute ihn krachend und wieherte.
Wadja schauderte, blickte um sich und machte sich erneut über das Fallobst her.
So aß er sich an den Äpfeln satt. Biss an einer weichen, angedetschten Stelle hinein und labte sich an dem Saft, am stumpfsauren Speichel. Dann roch er einfach nur daran, sog immer wieder den Duft ein, der sich nicht erschöpfte, und der Apfel erschien ihm unendlich kostbar.
Diesen Apfel aß er nicht auf, sondern steckte ihn in die Tasche. Er würde ihn später im Bahnhof auf die Fensterbank legen, im Warteraum. Wadja hatte so eine Angewohnheit: An einem hübschen Plätzchen etwas zu essen zu hinterlassen – das war seine Art zu teilen. Mit wem? Ob mit Gott oder mit den Menschen – er wusste es nicht, aber er teilte, so gehörte es sich.
Da tauchte Nadja auf. Der Apfelbaum war ihr Revier. Jeden Morgen kam sie hierher, sammelte die besten Früchte auf und trug sie zum Markt.
Nadja kam angerannt und schubste ihn. Er kippte zur Seite. Dann kniete sie sich ins dichte, feuchte Gras und sammelte auf allen Vieren[27 - auf allen Vieren – на четвереньках] flink ihre Früchte ein, wischte mit dem Handrücken die Nacktschnecken ab und stapelte die Äpfel zu kleinen Haufen.
Wadja konnte nicht mithalten, er setzte sich zu einem der Häufchen und suchte sich die weicheren Äpfel aus, das waren ihm die liebsten. Nadja kam angekrabbelt und klopfte ihm auf die Schulter.
»Schnorrer! Ein Schnorrer bist du.« Sie lachte.
In Sankt Petersburg verkauften sie zwei Beutel Äpfel.
Dann ging es mit Vorortzügen nach Moskau.

Nadja

IX
Nadja war beinahe stumm. Es fiel ihr derart schwer, ihr Inneres auszudrücken, dass sie vor lauter Qual den Kiefer immer stärker zusammenpresste und manchmal plötzlich mit den Händen losfuchtelte: Vielleicht wollte sie etwas zeigen, vielleicht dem Gesprächspartner etwas einbimsen[28 - j-m etwas einbimsen (разг.) — вдалбливать кому-либо что-либо, заставлять кого-либо выучить что-либо], was für sie selbst so klar und wichtig war. Es kam vor, dass Wadja dabei wirklich eine abkriegte, und das tat dann richtig weh. Nadja, nur noch mehr außer sich, lief ein Stück, atmete schwer, trat von einem Bein aufs andere, als würde sie es eilig haben wegzukommen, und blieb dann plötzlich stehen, fuchtelte mit den Armen und bewegte schnell gestikulierend die Finger.
Was Wadjas Lebensweg bestimmt und unwillkürlich Nadjas Herz erobert hatte, war seine Liebe zu Wladimir Wyssozki* und Viktor Zoi*. Fast alle Lieder des Ersten (Wadja nannte ihn kumpelhaft Semjonytsch) kannte er seit seiner Kindheit, von den Aufnahmen, die er, einen tragbaren Kassettenrekorder der Marke Wesna auf der Schulter, mit den anderen Jungs gehört hatte. Die Musik von Zoi hatte Wadjas Berufsschulzeit aufgehellt.
Die Lieder von Wyssozki sang er nicht, er brummte sie. Brummte sie in der Gefangenschaft und auch, als er schon mit Nadja ging. Insbesondere mit ihr. Er tat es selten, genierte sich. Im Park oder auf dem Bahnhof entfernte er sich immer ein Stück, hinter die Büsche, ans äußerste Ende des Bahnsteigs, wo er dann, als wollte er Geister beschwören, einfach losbrummte, ohne bestimmte Tonfolge, aber dann sang er sich ein, sein voller Bariton gewann an Kraft und Tiefe, und heraus kam weniger eine Melodie als ein rezitatives Muster, das mit dem bekannten Lied gar nichts zu tun hatte, es aber auf einmal von einer anderen Seite zeigte, auf ganz andere Art seine durchdringende Dramatik offenbarte, als würde die Bedeutung der Worte bloßgelegt, die nunmehr ihres melodischen Schmiermittels beraubt waren.
Es war erstaunlich, wie aus Wadjas unbeholfener Interpretation eine regelrechte Neuinszenierung dieses Liedes wurde. Nadja wusste das zu würdigen und lauschte mit offenem Mund.
Danach klopfte sie ihm auf den Rücken und sagte:
»Du Künstler!«
Doch er ließ sie nicht gleich an sich heran, auch sang er niemals, wenn sie ihn darum bat – da winkte er ab, wurde wütend, schnauzte sie an und ging für sein Gebrumme ein Stück von ihr weg, weil er sich schämte oder weil es für ihn eine Art heiliger Akt war. Und erst später, wenn er sich in das meditative Singen der großen Dichterworte versenkt hatte, wenn er seine Wachsamkeit eingebüßt und sich mit halbgeschlossenen Augen hingesetzt hatte – erst dann schlich sie sich zu ihm hin und erstarrte hingerissen. »Das Segel! Das Segel ist gerissen!«, sang er beispielsweise, »Parus! Porvali parus!«, wobei er nahezu jede Silbe einzeln hervorstieß, mit überraschenden Eskapaden, und es war unbegreiflich, woher er die Luft nahm.

X
Die Lieder von Viktor Zoi hingegen sang er nie, nicht ein einziges Mal. Aber sie gingen oft zur Zoi-Mauer am Alten Arbat* und hörten sie sich an. An dieser mit Gedenkminiaturen vollgekritzelten Backsteinmauer versammelte sich die umherziehende Jugend aus nahezu allen Ecken des Landes. Die jungen Leute waren freundlich, manche von ihnen sogar beseelt. Es bestand immer die Chance, dass sie einem etwas zu trinken ausgaben – solange man nicht frech wurde, sondern sich nützlich machte und freundschaftlich verhielt.
Im Sommer ging es an der Mauer lustig zu: Aus dem ganzen Land zogen die Leute Richtung Süden, ans Meer, und Moskau war der Umschlagplatz. In der Ferienzeit trieb sich die Zoi-Gemeinde größtenteils auf der Krim herum, wo sie auf den Tatarenmärkten zu Füßen der Urlauber auf der Gitarre klimperten und im Takt dazu Metallbecher mit Münzen schwenkten. Welcher seelische Schneesturm diese jungen Leute von einer Stadt in die andere trieb – per Anhalter von Ufa nach Petersburg, von Petersburg nach Moskau, von Moskau nach Nowosibirsk –, war unklar. Wadja dachte gar nicht darüber nach. So wie man nicht über seine Gliedmaßen als einzelne Teile nachdenkt. In seiner Vorstellung war das ganze Land unterwegs, schwärmte aus, streunte umher – und nur Moskau schwoll an in seiner Immobilität, durch etwas Mächtiges, das im feindlichen Gegensatz zur Natur stand, über die er zwar auch nichts wusste, aber aus irgendeinem Grund war es für ihn stimmiger und daher angenehmer über sie nachzudenken als über die Menschen.
Es gab nicht wenige junge Leute, die für Wochen, gar Monate mit Gitarre und Portwein am Arbat hängenblieben und die Nächte in einer der zahlreichen leeren Wohnungen im Stadtzentrum verbrachten, in den Häusern, die instand gesetzt werden sollten. Damals standen ganze Straßenzüge nahezu leer – die Pjatnizkaja, die Ostoshenka, der Zwetnoi- Boulevard mit seinen Nebenstraßen. Die Stadt konnte einfach kein Geld für die Sanierung auftreiben. Die ehemaligen Bewohner hatten Möbel und Hausrat großenteils zurückgelassen. Manchmal war auch das Türschloss noch intakt[29 - intakt sein – быть в исправности (работать исправно)], und darin steckte der Schlüssel zu einer Zukunft, die gerade zusammenbrach.

XI
Nadja und Wadja hatten zunächst im ehemaligen Wohnheim des Innenministeriums in der Nähe vom Zwetnoi-Boulevard ein Plätzchen gefunden. Es war ein langgezogenes Gebäude aus dem 19. Jahrhundert, das über die ganze Länge hier und da in Wellen durchhing, fast wie im Hohlkreuz. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es das Madrid gewesen, ein billiges Hotel, und verfügte deshalb über ein tristes Korridorsystem. Ein elend langer fensterloser Tunnel wand sich in kleineren und größeren Kurven über mehr als hundert Meter, beleuchtet lediglich von drei trüben Glühbirnen, von denen eine so gut wie kein Licht gab, da sie hinter einer Biegung lag. Nadja fürchtete sich vor dieser Ecke und zerrte Wadja jedes Mal mit, wenn sie auf die Toilette musste. An einigen Stellen lugten im Licht eines Streichholzes Wandmalereien zwischen den abblätternden Farbschichten hervor, wie Fetzen blauen Himmels durch Wolken. Eine im Lubok-Stil* gemalte Spanierin mit großen Augen und einem Fächer war da zu sehen. Ganz in der Nähe war das Vorderteil eines Stiers freigelegt, man sah seinen zur Seite geneigten Kopf mit dem rasenden bordeauxroten Auge. Beim Inspizieren der Korridorwände brannte Nadja eine ganze Schachtel Streichhölzer ab. Mit einem kleinen Holzkeil holte sie die Spanierin unter dem Putz hervor und entdeckte runde rote Schuhe mit dicken Absätzen und blütenweiße Rüschen, die unter einem düsteren lilafarbenen Rock hervorschauten.
In vielen Zimmern lagen Berge von Bauschutt, über die man nur schwer ans Fenster gelangte (man musste sich in geduckter Haltung dicht unter der Decke entlangdrücken); die beiden brachten es tatsächlich fertig, auf der breiten Fensterbank Kopf an Fuß und Fuß an Kopf zu schlafen.
Ein buntes Völkchen hauste in dieser Ruine. Jeder lebte sein eigenes Leben, und im öligen Schummerlicht des Korridors, in dem sie misstrauisch aneinander vorbeischlichen, wirkten sie wie Gespenster. Manchmal erschrak Nadja vor einer Gestalt, die sich von der Wand löste, oder vor einer starren, die sich nicht bewegte – oder als plötzlich die nächste Tür gewaltsam aufflog, ein Schrei ertönte und von dort, die Arme unkontrolliert hochreißend und die Tür, die Gerümpel und einen nackten Körper offenbarte, zuschlagend, ein akkurat gekleideter junger Kerl mit weißen Pupillen und verstörtem Gesicht herausschoss …
Dann zogen sie an den Petrowski-Boulevard.
Von den Kommunenkünstlern mit den vor Glück wild funkelnden Augen, auf deren Etage Nadja und Wadja hausten, bekamen sie den Spitznamen »Elefantis«. Sie hatten keine Ahnung, wie es dazu gekommen war. Offenbar hingen sie in den Augen der mit reger Fantasie gesegneten Künstler träge herum wie niedliche Dickhäuter.
Die Decke war an den Stellen, wo der Putz herunterkam, mit Tarnnetzen abgehängt. Nadja ging allen bescheiden aus dem Weg und setzte sich stets in die dunkelste Ecke. Saß da tagelang, unbemerkt wie ein stilles Mäuschen, verdeckte mit der Hand die glänzenden Augen. Und lächelte mal verlegen oder errötete glühend in plötzlicher Scham.
Putzbrocken fielen in das durchhängende Netz. Das dünne junge Mädchen im langen schwarzen Kleid, das mit einem Bildband in der Hand auf der Fensterbank saß, zuckte zusammen. Nadja betrachtete hingerissen ihre fließende Figur, die auf die Schenkel gelegten Arme, und träumte davon, was die Seiten dieses für sie unsichtbaren Buches wohl bargen – stürzte dann plötzlich zum Sofa, fegte mit der Hand die Putzbröckchen herunter und setzte sich wieder in die Ecke. Dann knarzten wieder die Seiten des dicken Glanzpapiers.
Ein anderes Mal kam plötzlich ein Mädchen ins Zimmer gerauscht, packte mit der einen Hand den Maler Benja am Arm, mit der anderen wühlte sie nervös in der Handtasche, die ihr von den Knien gerutscht war, suchte nach Zigaretten und sah Nadja scheel von der Seite an.
Doch Benja beruhigte sie:
»Schon gut, die gehören zu uns, die sind okay.« Worauf das Mädchen vielsagend schnaubte, ein Streichholz anriss und hervorstieß: »Kuibyschew ist auf Meth!« und sich sofort schnaufend in dichte Rauchschwaden hüllte.
Benja, ein rothaariger Bursche mit Killergesicht, schüttelte den Kopf und ging ins Nebenzimmer, um weiter seine Collagen zu kleben: Wie rasend marschierte er auf und ab, hastete an der Wand entlang und hielt hier und da einen Schnipsel an, um den Kontrast zu prüfen. Er schnitt sie aus farbigem Papier und aus Zeitschriftenabbildungen zurecht, aus Etiketten, Stoffstücken, Federn von Pinguinen und Eiderenten, aus Birkenrinde, Pappe und Wespennestern. Auf seinen großflächigen, schillernden Collagen tummelten sich Raketen und Kosmonauten, Häuser und Kirchen, Traktoren und Türme, Felder und Himmel, Fische und Menschen, Blumen und Dämonen.
Nadja liebte es, Benja zu beobachten, dessen Beschäftigung sie so gut nachvollziehen konnte. Sie erinnerte sich noch genau, wie ihre Banknachbarin früher mit der Schere geklappert und Samtpapier zerschnitten hatte …

XII
Wadja hing nicht gerne bei den Künstlern herum. Er kam gegen Abend und traf Nadja beim Tee an, mit dem Benja sie stets bewirtete. Auch für Wadja fiel von Zeit zu Zeit[30 - von Zeit zu Zeit – время от времени] Tee und Zwieback ab. Der wunderliche Benja stellte ihm eine Tasse hin, beugte sich gewaltig zu dem gedrungenen, großköpfigen Wadja hinab, schaute ihm in die undurchdringlichen Augen und fragte drohend:
»Was ist? Bist du auch gut zu deinem Mädchen? Ich warne dich! Mach hier keinen Ärger.«
Nadja wand sich, er hatte so eine laute Stimme, doch Wadja tat, als hätte er ihn nicht bemerkt, als würde dieser Benja für ihn nicht existieren. Wie ein kleiner Bronze- Buddha saß er da mit seinem hohen, welligen Haarschopf, machte einen Buckel und schlürfte mit seinen dicken Lippen pfeifend den Tee.
Eine der wichtigsten Figuren in dieser halblegalen Kreativgemeinschaft war ein Musiker, ein Gitarrist. Die Seiten zupfend, patrouillierte er mit der Gitarre durch die riesige Wohnung, schleifte dabei das Kabel hinter sich her, das ihn mit den weiter entfernt stehenden Boxen verband, die im Takt mit dem Tonabnehmer klirrten und schepperten.
Außerdem lebte dort noch ein unglaublicher Typ, der Nadja zu Tode ängstigte. Wadja hingegen empfand ihm gegenüber eine schwer erklärliche Vertrautheit. Er war ein kleiner, schüchterner Mann mit fahlem, spärlichem Haar und harten Gesichtszügen. Mit einem Auge schielte er schrecklich, und wenn er ging, schwankte er unsicher auf seinen krummen Beinen. Um die Stirn hatte er einen Stoffstreifen gebunden, auf dem, sorgfältig mit Kugelschreiber gemalt, ein verzweigtes Schriftzeichen prangte.
Das eben interessierte Wadja. Zwei Wochen hielt er an sich, dann konnte er nicht mehr. Als Adlerauge (so nannten sie den Mann) an der Stelle vorbeiging, wo Wadja hockte, zog er respektvoll die Brauen hoch und sagte:
»Hör mal, mein Freund, ich frag mich schon die ganze Zeit: Was leuchtet denn da auf deiner Stirn?«
Adlerauge hockte sich folgsam zu Wadja, verschränkte die Beine im Lotussitz, tippte sich mit dem Finger an die Stirn und sagte heiser:
»Das ist der Buchstabe der Elemente. Es steht für Yin und Yang.«
Wadja riss die Augen auf. Adlerauge rührte sich nicht und fügte dann vielsagend hinzu:
»Sehr kompliziert.«
»Erzähl schon, rück raus mit der Sprache.« Wadja nickte ihm zu und legte die Hand ans Ohr.
»Also Folgendes. In jedem Punkt des Universums gibt es Yin und Yang. Weiß und Schwarz. Und die kopulieren. Schau her.« Adlerauge machte mit den Ellbogen ein paar Wellenbewegungen und nickte. »Und so machen sie es an jedem Punkt der Sphäre unseres Daseins. Da. Und dort. Und hier auch. Im Weltall. Überall. Das Weiße – das Yin – befruchtet das Schwarze – das Yang. Und umgekehrt. Das Glück hängt davon ab, wie oft sie es tun.«
Wadja schob Adlerauges Finger beiseite, der die Sicht auf die Hieroglyphe nahm.
»Das heißt, die kopulieren da so richtig?«, fragte Wadja misstrauisch und versuchte zu erfassen, welches bei seinem Gesprächspartner das richtige Auge war.
»Ja. Aber das Leben, das Glück hängt von der Frequenz ab. Wie schnell sie es machen.«
Adlerauge wandte seinen Blick dem Musiker zu, der mit der Gitarre in der Hand in den Korridor gestürzt kam.
»Red weiter, mein Freund, ich höre«, bemühte sich Wadja höflich.
»Die Frequenz muss folgende sein: eins geteilt durch h quer, das reduzierte Planck’sche Wirkungsquantum.« Adlerauge senkte die Stimme, beschrieb mit der Hand eine gleichmäßige Zickzacklinie und durchkreuzte diese mit der Handkante. »Das ist eine sehr hohe Frequenz.« Er hob vielsagend den Finger.
Wadja strich sich zerknirscht mit der Hand über die Haare und sagte gedehnt:
»Verstehe, Freundchen. Na, ich geh dann mal. Pass auf dich auf, mein Freund. Machs gut.«
Wadja schlug sich aufs Knie und stand auf.
Der Gitarrist setzte sich schweigend zu Adlerauge, traktierte mit leidender Miene das Griffbrett und nickte mit geneigtem Kopf zum Zimmer mit den Boxen hinüber, die bei seinen klirrenden Passagen mitjaulten.

XIII
Wenn Nadja lange allein war, nahm ihr Gesicht nach und nach einen dümmlichen Ausdruck an – ihr Blick wurde starr. Und wenn sie sich mit Mühe an etwas zu erinnern versuchte, wurde sie blass und sah bestürzt drein, oder sie wurde rot und ihr Blick gequält, wie bei jemandem, der einen starken Schmerz unterdrückt. Alleine versuchte Nadja so schnell wie möglich einzuschlafen. War sie sich selbst überlassen, plagte sie eine elende Beschwernis, was sich in einer unsäglichen Unruhe äußerte, zu drängend, um innerlich mit ihr fertigzuwerden. Wenn es mit dem Einschlafen nicht klappte, versuchte sie zu lesen. Sie las Silbe für Silbe alles, was ihr unter die Finger kam – Etiketten, Quittungen. Sie las verbissen, atmete schwer, bewegte lautlos die Lippen, beinahe ohne innezuhalten; sogar Zeitung las sie. Sie riss die Augen weit auf, blinzelte, drehte den Kopf, wandte eine Zeit lang den Blick ab und glich die Wörter mit ihrem Verstand ab.

Oktober*

XIV
Bei den Künstlern blieben sie bis zum Herbst, und als es kalt wurde, fanden sie im Presnja-Viertel einen warmen Dachboden. Der war niedrig, der Boden mit feinem Kies bestreut; man musste auf allen Vieren zwischen den mit Glaswolle umwickelten Heizungsrohren hindurchkriechen, inmitten umhertrippelnder, dumpf gurrender, flügelschlagender Tauben, die einem in der unbequemen Enge immer wieder heftig flatternd gegen die Hand schlugen, gegen Ellbogen, Bauch oder Knie. Auf dem Dachboden wurde vergessenes Gerümpel aufbewahrt: Holzschiffchen, Kreisel, Abakusse, ein Regal, auf dem vertäute Zeitschriftenpacken und von der Feuchtigkeit aufgequollene Bildbände lagen. Doch es war warm, und durch das Dachfenster konnte Nadja den ganzen Tag auf den Fluss schauen, auf die Gebäude der Trjochgorka-Fabrik*, auf die Höfe, die mit ihren Mauern wie Theaterränge die Anhöhe emporkletterten. Zu diesem Zweck hatte sie die Scheibe mit Zeitungspapier abgerieben, bis sie schimmerte wie Bleiglas.
Die Höfe und der Park beim Gebäude des Obersten Sowjets, einem großen weißen Haus, waren erfüllt von mattem zerstreutem Sonnenlicht, gelben Blättern und leicht bitterem Dunst. Die Tauben girrten, leierten, besprangen einander, hasteten umher oder schliefen, den Kopf unter den Flügeln. Jenseits der Brücke war im diesigen Morgenlicht die Flussbiegung zu sehen; auf der silbrig glänzenden Wasseroberfläche blitzten hier und da scharfe Kanten auf, flogen empor und erfüllten die Luft mit sattem Glanz. An der Uferstraße, unterhalb des pyramidenförmigen Hochhauses*, zitterten die Linden und streuten bunte Blätterschleppen auf die plötzlich gekräuselte Wasseroberfläche des Flusses.
Von den Bildbänden wählte Nadja einen über Matisse. Sie blätterte darin herum und stieß dabei auf das Offene Fenster. Tagelang betrachtete sie ständig dieses Bild. Den dargestellten Blick aus dem Fenster auf das Meer und die Segelboote stellte sie vor sich auf wie eine Ikone. Für sie war der Bildband so heilig wie ein Gotteshaus.
Anfang Oktober passierte etwas: Panzer fuhren vor dem Weißen Haus* auf, Männer mit Maschinenpistolen rannten umher, an der Uferstraße standen Rettungswagen aufgereiht, eine Menschenmenge strömte zur Brücke.
Wadja hatte die ganze Nacht und den Morgen auf dem Kasaner Bahnhof verbracht und war nun auf dem Weg zurück zu Nadja. Die maue Zeit hatte er an der Gepäckaufbewahrung herumgehangen und mit einer Sackkarre auf Kunden gewartet. Die Karre mietete er bei einem Gepäckträger, seinem Kumpel Skorytsch, um sich etwas dazuzuverdienen. Skorytsch hatte ihm erzählt, die tadschikische Mafia würde sich das Gepäckträgergeschäft auf den drei Bahnhöfen allmählich unter den Nagel reißen. Die wären kein rempelnder Haufen wie unsere Idioten, die sich wie Welpen um die Milch ihrer Mutter kloppen, sondern würden den Leuten im Halbkreis geschickt auf den Leib rücken und sich das Gepäck greifen, bevor die noch wussten, wie ihnen geschah. Hatten sie einen Passagier, war einer von ihnen dran, immer schön der Reihe nach. Und das Entgelt steckten sie nicht ein, sondern gaben es alle in einen gemeinsamen Pott. Davon wurden die Löhne bezahlt, der Rest kam in die Notkasse. Jungs, denen die Eltern noch kein Geld in die Hand gaben, bekamen nur ein paar Münzen für Kleinkram. Der Anführer zahlte den Lohn einmal die Woche persönlich an den Vater oder die Mutter des Jungen aus. So jedenfalls hatte es Skorytsch erzählt, und nun war Wadja auf dem Weg zurück vom Bahnhof, eine unklare Erregung packte ihn, eine Bitterkeit und zugleich die fatale Gewissheit, dass sich an dieser sinnlosen Hoffnungslosigkeit, an dieser Scheißegalhaltung gegenüber dem Leben, in der sich die russische Nation suhlte, niemals etwas ändern würde.
Skorytsch hatte, wie es so seine Art war, noch viel herumräsoniert in dieser Nacht. Er war ein alter, spindeldürr-drahtiger Mann, stets mit einem verschmitzten Kniff in den Augen. Alle seine Finger waren beringt mit Tätowierungen. Unter der Ablage seines Gepäckschalters stand eine Spiralkochplatte, auf der er sich Tschifir* braute und Schwarzbrotscheiben röstete, bis sie ganz verkohlt waren. Er biss ab, kaute und knackte, verzog den zahnlosen, eingefallenen Mund und schlürfte einen Schluck Tschifir hinterher.
Skorytsch liebte das Herumräsonieren in abgehackten Phrasen:
»Und ich zu Sojka: Was denn? Bin ich vielleicht ein Jude, dass ich alles nach Hause schlepp, oder was?! He? Da glotzt du nur, Nutte! Genau … glotz nur!«
Oder: »Nee, Junge, was ist schon ein Russe? Nix. Fliegendreck! Ein Russe kann mit leerem Magen nicht arbeiten. Erstens. Und mit vollem Magen will er nicht. Zweitens. Und du sagst: Unser Land …! Keine Ahnung hast du!« Skorytsch klopfte mit dem Röstbrot auf die Ablage und schlug dabei die verkohlte Rinde ab. »Du bist noch ein Küken. Ein echtes Küken.«
Die Panzer schossen, aus den Fenstern des Weißen Hauses stieg Qualm auf, überall sah man die orangen Wassertanks der Sprengwagen, die als Barrikaden aufgestellt waren.
Immer wieder knatterten MPs, und dann schwappte das dichte Menschengewühl wie die Fettschicht auf der Suppe zu den Hofeinfahrten des großen Eckhauses, zum Fluss, auf die Uferstraße.
Wadja geriet in einen Taumel, in Euphorie. In all ihrer Abstraktheit hatten Kampfhandlungen etwas Spektakuläres.
Die Panik verflog schnell, ebbte ab. Die in der Masse eingezwängten Menschen liefen zurück zur Brücke. Sie spähten, reckten die Hälse, stellten sich auf Zehenspitzen.
Die Wellenbewegungen der Menge zeigten, dass es irgendwo eine unsichtbare Quelle der Panik gab. Inmitten der Menschen wurde Wadja wie alle anderen von nackter Angst gepackt; dass man die Quelle nicht sah, war beklemmend, und eine grausame Leichtigkeit hing über dem Platz, dem Fluss und der Stadt.
Die Panzer gaben beim Wenden Gas, umhüllten sich mit graublauen Wolken und schwenkten die Geschütztürme. Von den flammenden Fenstern des Weißen Hauses stiegen schwarze Rauchsäulen auf. Geduckte Soldaten in olivfarbenen, Raumanzügen gleichenden Uniformen arbeiteten sich Stück für Stück zu den Seiteneingängen vor.

XV
Die Züge der Metro fuhren nur bis zur Haltestelle Puschkinskaja. Wadja lief die Bronnaja und Spiridowka entlang bis zum Gartenring*, wo er zwei ältere Ausländer einholte. Sie sahen sich um. Ein hilfloses, verängstigtes Lächeln lag auf ihren Gesichtern. Sie hatten einen Hund bei sich, einen Pudel. Der eine, ein Dicker im Mantel mit einer Damenuhr am behaarten Handgelenk, trug auf der Schulter eine Videokamera.
Hinter zwei dicht nebeneinander stehenden Sprengwagen hatten sich fünf Soldaten mit Stahlhelmen und Schutzwesten verschanzt und horchten gemeinsam auf die Befehle aus ihren Funkgeräten.
Der schwarze Pudel scharwenzelte zwischen den Beinen der Ausländer herum. Er trippelte, schabte über den Asphalt, nervös klackernd wie auf Zehenspitzen[31 - auf den Zehenspitzen – на цыпочках], und schaute sich immer wieder um.
Plötzlich kamen die Soldaten in Bewegung, liefen hinter dem Sprengwagen hervor, ließen sich auf die Knie fallen und feuerten mit ihren Maschinenpistolen auf die oberen Etagen des Hochhauses an der Ecke zum Arbat.
Wadja warf den Kopf in den Nacken und sah, wie die Fensterscheiben der oberen Etagen barsten, wie da oben Ellbogen, Köpfe vorbeihuschten; etwas blitzte, blinkte, Sonnenreflexe rieselten herab … Unendlich langsam fiel eine abgerissene schwarze Kunststoffverkleidung hinunter, segelte als funkelndes, schwingendes Parallelogramm zu Boden.
Mit einem Mal verstummten die Schüsse, und die MP-Schützen schlüpften einer nach dem anderen geduckt unter die Hinterachse des Sprengwagens. Der Letzte rutschte verbissen auf den Knien hinterher, das Gewehr an die Brust gepresst, und kippte um. Als hätte er keine Beine.
Irgendwo knallte es noch einmal – da preschte der Pudel auf die Fahrbahn, trippelte im Zickzack[32 - im Zickzack – зигзагом], blieb stehen, lief weiter, lief wieder zurück.
Der ältere Ausländer, mit einer dünnrandigen Brille und einem Seidenschal um den Hals, brummelte unentschlossen vor sich hin, setzte an und stürmte dann plötzlich dem Hund hinterher: lief quer über den Gartenring, streckte den Arm aus, pfiff, duckte sich, schaute hastig nach oben, nach allen Seiten, rannte zurück, aufgeschreckt von einem Schützenpanzerwagen, der vom Straßenrand auf ihn zurollte, und lief dann doch weiter. Fast hatte er ihn erreicht, da schaute der Hund sich um, zuckte zusammen, setzte an und wollte gerade in die Arme seines Herrchens stürzen, als sich das Geknalle für kurze Zeit wieder verstärkte; plötzlich flog der Pudel in die Luft, überschlug sich, streckte die Pfoten von sich, da flog etwas zur Seite, er hüpfte noch einmal hoch, auf der Stelle, auf drei Beinen – und landete auf dem Rücken. Der Ausländer ließ sich abrupt zu Boden fallen, schlingerte bäuchlings über den Asphalt, kroch schnell vorwärts, erstarrte, kam auf alle Viere, krabbelte los, warf dabei die Beine hoch und erreichte in Schlangenlinien wieder den Bürgersteig. Sein schmutzverschmiertes Gesicht war verzerrt, auf der Wange glühte eine breite Schürfwunde. Er atmete schwer und sagte kein Wort.
Drei behelmte Soldaten donnerten auf dem Bürgersteig vorbei. Zwei von ihnen zogen ein Dreibein hinter sich her, mit einer Gegengewichtsscheibe und einer Rotationsvorrichtung, die wie ein Teleskop aussah. Der Dritte bog sich tapsend unter einem großkalibrigen Maschinengewehr. Als sie die Brüstung einer Fußgängerunterführung erreicht hatten, stellten sie das Geschütz auf und begannen es auszurichten.
Der Dicke filmte immer noch, drehte an der Linse. Der andere drückte sich an eine Hausfassade und trat unentschlossen von einem Bein aufs andere. Sie hatten Angst, sich von den Soldaten wegzubewegen, aber auch Angst zu bleiben, selbst wenn das interessanter war.
Mit einem Mal kam von hinten ein Soldat angepoltert. Im Laufen kommandierte er:
»Alle in die Unterführung! Gleich beginnt der Angriff!«
Die Ausländer stürzten die Treppe hinab, Wadja hinterher.
Oben, hinter ihnen, krachte, knallte, donnerte es plötzlich, Druck legte sich auf die Ohren. Durch die ganze Unterführung hallte ein Tönen und Dröhnen, Staub rieselte herab.
Die Ausländer blieben unten, Wadja aber ging auf die Straße hinaus und schlug, ohne sich umzusehen, den Weg zum Fluss ein, zur Trjochgorka.
Die hohe klare Luft, das langsame, zerstreute Licht, voll silbriger Schwebeteilchen, floss andächtig über Moskau hinweg.
Immer wieder schossen laut heulende Rettungsautos unter der Brücke hervor auf die Uferstraße.
Menschen kamen aus dem Weißen Haus gerannt, sie liefen mit erhobenen Armen. Krankentragen wurden gebracht. An der Treppe hinab zum Fluss durchsuchten Soldaten die sich Ergebenden. Nach mehreren Schlägen auf den Hals und den Hintern, in die Rippen und den Magen stießen sie sie die Stufen zur Uferstraße hinunter.
Nadja hatte sich an die Tauben gewöhnt. Sie landeten auf ihr, schliefen auf ihr wie kleine Schiffchen, die Füße eingezogen. Als die Tauben unruhig wurden, schreckte sie hoch.
Die Luke öffnete sich ein wenig, ein Kopf tauchte auf. Die Tauben stoben auf, segelten herunter. Eine Taube landete auf der Luke, ließ Dreck herabplumpsen. Und flog wieder auf.
Eine Frau steckte ihren Oberkörper durch die Luke, stellte lautlos einen kleinen Koffer ab und stemmte sich hoch.
Ein kurzer Bob, Jeans, Lederjacke. Unter den Haaren war das weiße Spiralkabel eines Kopfhörers zu sehen.
Das von den Ritzen und schiefen Dachbalken gespaltene Licht zerlegte den Raum des Dachbodens in einzelne Scheiben.
Ein Lichtstreifen lief quer über Nadjas Brust, über ihre gekreuzten Arme.
Vorsichtig, jede Bewegung vermeidend, ließ sie den Blick an sich hinabwandern, legte die Arme neben sich, reckte das Kinn in die Höhe.
Und schaute mit weit aufgesperrten Augen an die Decke, nach oben. Wie tot.
Die Frau setzte ihr Gewehr zusammen, prüfte die Visiereinstellung, entsicherte die Waffe. Dann bemerkte sie Nadja.
Nach kurzem Nachdenken legte sie den Finger an die Lippen und öffnete mit dem Gewehrlauf die Fensterklappe.

XVI
Wadja bekam zunächst einen Schreck und lief auf der anderen Straßenseite am Haus vorbei, ging dann aber wieder zurück. Vor der Tür drängelte sich eine Gruppe Soldaten. Ein schnauzbärtiger Zwergmajor rüstete eifrig einen Elitesoldatenriesen aus. Sorgfältig, wie man ein Kind zum Winterspaziergang rüstet. Er zurrte ihm die Schutzweste fest, zerrte am Helmriemen, prüfte Granaten und Messer, nahm die Pistole aus dem Holster, öffnete das Magazin, schob es wieder hinein und reichte dem Soldaten die Waffe, der sie sich in die Hosentasche steckte. Der Major besah sich noch einmal alles. Dann schlug er ihm von unten gegen die Brust.
Der Elitesoldat salutierte und ging ins Haus.
Wadja kam näher, brummelte leise etwas zu den Soldaten, stürzte dann die Treppe rauf, wurde zurückgerissen, runtergetreten.
Er setzte sich auf die Bordsteinkante, griff sich mit den Händen an den Kopf, stand auf, lief eine Runde. Setzte sich wieder, schlug sich auf den Hals, stand auf, boxte mit der Faust in die Luft. Rannte los, stürzte ins Haus, sie stellten ihm ein Bein und schmissen ihn mit aufgeschlagenem Gesicht wieder hinaus. Oben knallte ein Schuss.
Und noch einer.
Ein Soldat mit einer MP vor der Brust kam mit großen Schritten auf Wadja zu, verjagte ihn von der Haustür, jagte ihn bis ans Ende des Häuserblocks, Wadja sah sich immer wieder um und lief weiter, wenn er ihm zu nah kam. Ringsum stand ein Haufen Gaffer.
An der Brücke schwenkten drei Panzer herum, änderten die Feuerstellung und stießen dabei kleine Rauchwolken aus. Sie stellten sich mit großem Abstand auf, eröffneten das Feuer. Dem scharfen Dröhnen des Schusses folgte das Klirren der auf den Asphalt geschleuderten Hülse.
Die Menge sirrte, ächzte, stürzte immer wieder los. Dem Weißen Haus schienen die Schüsse nichts anhaben zu können.
Irgendwann wurde Wadja von der Menge übermannt, fortgetragen, er musste mit, musste laufen, um nicht über den Haufen gerannt, nicht totgetrampelt zu werden. Das irrsinnige Gerenne und die alarmierten Gesichter verbreiteten in der Menge Angst.
Wieder donnerte ein Schuss, wieder klirrte eine Hülse und hüpfte blitzend auf der Brücke.
Die Angst hinderte Wadja daran, an Nadja zu denken. An der Auffahrt zum Weißen Haus spülte es ihn vor eine Hofeinfahrt, die von einem Sprengwagen verstellt war. Ein Soldat mit verängstigtem, schweißnassem Gesicht, das sich beinahe im Helm verlor, half den Menschen über die Rampe an der hinteren Stoßstange.
Wadja ging durch die Hinterhöfe zurück.

Eine Bahre wurde aus dem Haus getragen.
Sie stellten sie ab. Legten ein Gewehr und einen kleinen Koffer daneben.
Wadja kam näher. Die Soldaten rauchten. Der verschwitzte Elitesoldatenhüne hockte sich mit aufgeknöpfter Schutzweste neben die Bahre. Er zog an der Zigarette und schob das Wachstuch ein wenig zurück. Blies den Rauch aus. Spuckte seitlich aus. Zog das Tuch wieder hoch.
Der Zwergmajor hielt seinen Helm im Arm wie eine Schüssel. Er kurbelte an seinem Funkgerät, betätigte den Kippschalter. Hielt es ans Ohr.
Wadja hörte:
»Flieder, bitte kommen. Hier Weide. Mache Meldung. Einen haben wir erwischt. Einen Weißstrumpf*. Ja, eine Frau. Jawohl, keine Verluste. Ja. Ja. Im Gluboki Pereulok*, Tscherednitschenko … Jawohl.«
Ein Soldat führte Nadja die Treppe herunter und aus dem Haus.
Sie erkannte Wadja nicht. Langsam, wie im Schlaf, die Hand an den Hals gelegt, ließ sie den Blick über die Soldaten schweifen und stakste davon.
Wadja rannte ihr nach. Ging neben ihr her, rauchte in die hohle Faust.
Die Passanten drehten sich um, wenn sie Nadjas rundes, totes Gesicht sahen, die Schlichtheit ihres Leides.
Am Abend kehrten sie zurück. Betrunkene Soldaten wankten durch die Straßen. Von der tödlichen Gefahr erregt, zerstörten sie alles, was ihnen in den Weg kam. So ließen sie ihre Wut aus, die Wut auf sich selbst, über die eigene tierische Angst in diesen Tagen.
In der Nähe, am Filmmuseum, plünderten OMON-Soldaten* eine Trinkbude.
Einer von ihnen stellte ein paar Flaschen Wodka der Marke Wildes Tier auf dem Gehweg ab und fiel trunken taumelnd über sie her. Zwei andere pfiffen und schrien, er solle damit aufhören.
Nadja bekam eine Ohrfeige ab.
Wadja wehrte sich kaum, er duckte sich, wich den Schlägen halbherzig aus, murmelte:
»Schlagt drauf, Jungs, schlagt nur, aber erschlagt mich nicht, sachte, seid so gut.«
Der OMON-Soldat kämpfte wie eine Mühle – langsam, weit ausholend schwang er seine Fäuste und Beine. Es tat nicht weh. Irgendwann plumpste er auf Wadja wie ein schwerer Sack und fing an, ihn zu würgen. Seine weißen, leeren Augen sahen nichts.
Außer Atem gekommen[33 - außer Atem kommen – запыхаться] ließ er von Wadja ab, griff sich die klirrenden Wodkaflaschen und wankte seinen Leuten hinterher.
Nadja, die Unterlippe eifrig vorgereckt, half Wadja auf, führte ihn auf den Dachboden. Sie legte ihn hin, schmierte Taubendreck auf seine Schürfwunden und Prellungen.
Dann sah sie um sich. Sprang auf. Rieb verbissen die Blutspuren von der Wand am Dachfenster, mit Kies, Sand und Taubendreck, und zerkratzte sich dabei die Hände.
In der Nacht kamen die verschreckten Tauben zurück.
Gegen Morgen wurde es frostig, und an der Wand, zu der sich Nadja gedreht hatte, bildete sich ein kleiner Reiffleck.
Als sie aufwachte, tastete sie auf dem Bauch nach Matisse und schaute lange auf den nadeligen Stern, der in der schwelenden Morgendämmerung erglüht war.

XVII
Weder damals noch später unterschieden sie bei diesen Ereignissen Recht und Unrecht. Sie standen auf der Seite des Leides.
Überhaupt drang alles, was mit ihnen und um sie herum geschah, nicht bis in ihr Inneres vor, war etwas ihnen Fremdes, Aufgezwungenes. Alles Schlechte löste aus irgendeinem Grund bei ihnen Schuldgefühle aus. Das betraf in erster Linie Nadja. Wadja rebellierte von Zeit zu Zeit und schlug aus. Doch jedes Mal fühlte er sich am nächsten Morgen von Scham zerdrückt.
Wadja liebte die abstrakte Idee einer vom Volksgeist angezettelten Revolte. Koroljow hörte Wadja aufmerksam zu, hing derweil lächelnd irgendeinem eigenen besonderen Gedanken nach. Wadja fragte sich nicht, wer an dem Aufstand teilnehmen und wer ihn anführen würde und warum das Militär ihn eigentlich nicht sofort niederschlagen würde. Solche Details wusste Wadja ja selbst nicht. Er malte die Revolte aus mit Segmenten von Ungesagtem und Verweisen auf Unbekanntes. Besonders lange erzählte er von der Odyssee eines meuternden, mit mächtigem Geschütz ausgestatteten und uneinnehmbaren Schiffes, das unterwegs war, um – von der Peripherie zum Zentrum – im Menschen den gerechten Zorn zu entfachen.
Genauso sprach er auch über Ufos – ein weiteres Thema, das als mächtiges Nichts seine Fantasie peinigte. Neben vielen Fragen, die das Schweigen vermehrten, gab es bei Wadja auch einige Thesen:
a) Unser Staat verfügt über eine Mega-Geheimwaffe von derartiger Schlagkraft, dass, nachdem die Welt von ihr erfahren hat, überall das fette Leben Einzug halten wird. b) Bei der Revolte ist der Moment zu nutzen, wenn die Geschäfte geplündert werden (Mitzunehmen sind nur lange haltbare Lebensmittel wie Grieß, Salz, Konserven, Öl). c) Mit den Vorräten möge man sich in die Wälder von Brjansk aufmachen, bei Liwny, und nach den Orten suchen, an denen die Partisanen im Krieg ihre Stellungen hatten. Man möge die einstigen Lager und Erdhütten beziehen und dort auf die Zukunft warten. d) Die endgültige Zukunft war für Wadja untrennbar mit einer außerirdischen, vielleicht gar himmlischen, jedenfalls nicht näher definierten Großmacht verbunden, die sich mit den Führungsriegen der Revolte vereinigen würde, die zu diesem Zeitpunkt Begleiterscheinungen wie Finsternis und Gewalt bereits überwunden hätten.
Koroljow, dem klar war, dass er mit seinen aufgeklärten Gedanken kaum weiterkam als Wadja mit seinen barbarischen, antwortete folgendermaßen:
»Und ich sag dir, ein äußerer Aufstand bringt nichts. Der Aufstand muss im Inneren sein, nach innen gerichtet, und so durchschlagend, dass sich die Gedärme geradebiegen. Nur dann haben wir die Chance, zu unseren eigenen Kindern zu werden, zu Kindern unserer Idee: Wenn wir uns trauen, andere zu werden.

Die Straße

XVIII
Von da an hatten sie die Presnja in ihr Herz geschlossen. Dieses Moskauer Stadtviertel erwies sich als segensreicher Ort. Die Straßen wandelten sich zwar immer mehr zum Oberdeck eines Luxusliners (überall eröffneten teure Geschäfte und Restaurants, entlang der Uferstraße schossen Casinos, Bars, Lasterhöhlen aus dem Boden – da zeigte sich der von den staatlichen Behörden in dieses Viertel gelockte fette Prunk), dennoch gab es, tief drinnen, ein geräumiges Unterdeck für die dritte Klasse, eine Ladefläche, einen Kesselraum.
Schlafplätze fanden sich fast überall.
Sie schliefen im Planetarium, das wegen Umbau geschlossenen war. In der Kuppel klafften Löcher, durch die funkelnder Schnee herabrieselte. Im kelchförmigen Auditorium türmten sich die herausgerissenen Stuhlreihen. Über dem Podium schwebte der stromlose, lädierte Sternenhimmel, der einem gigantischen Tannenzapfen ähnelte. Mäuse raschelten in den schneeverwehten Ecken zwischen vergessenen Nebelfleckkarten.
Oder sie schliefen in ausrangierten Postzügen, die am Weißrussischen Bahnhof auf den Entladegleisen herumstanden. Ein wunderbarer Ort. Sie übernahmen das Heizen der Samoware in den Personenzügen, sammelten vor der Lagerhalle Kohlestückchen auf und brachten diese dann auf einem klapprigen Wägelchen zu den Schaffnern in die Waggons – für einen Laib Brot, für bahneigenen Weißzucker, für ein Kilo Kartoffeln.
Oder sie schliefen im Heizraum des Museums der Revolution von 1905*. Einer der Museumswächter, der nach einem komplizierten Dienstplan zur Schicht antrat[34 - zur Schicht antreten – заступить на работу, заступить на смену], dessen Berechnung Koljanytsch selbstlos übernahm, war ihnen zugetan wie ehrbaren Museumsbesuchern.
Diese Nächte waren interessant und gut für Nadja. Wenn der Alte wieder Dienst hatte, kam Koljanytsch sie suchen, denn er wusste, dass der ein anständiges Publikum brauchte.
Fiks, so hieß der Wachmann, sah aus wie ein Tragejoch und verfügte über schauspielerisches Talent. Nachdem er seine Ration runtergekippt hatte, wartete er ungeduldig, bis auch seine Gäste in Fahrt kamen[35 - in Fahrt kommen (разг.) – войти в раж, разойтись], dann ließ er sie die Schuhe ausziehen und scheuchte sie zur Führung.
Zahnlos vor sich hin nuschelnd führte er sie durch die Museumsräume, immer wieder erfasst von brummelnder Verzückung. Wie ein Kind, das versucht, die Redeweise der Erwachsenen nachzuahmen, entbrannte er selbstvergessen im revolutionären Eifer einer Museumsführerin, die sie nicht kannten.
Schlapp von Hitze und Alkohol standen sie da und hörten dem schmuddeligen Alten in seinen karierten Pantoffeln ergeben zu. Der schwache Koljanytsch döste oft ein. Wadja versetzte ihm eine Kopfnuss[36 - j-m eine Kopfnuss versetzen (разг.) – дать кому-либо подзатыльник], woraufhin er einen Schritt vorwärts stolperte, aber danach hielt er sich wieder rund fünf Minuten lang aufrecht.
Dass sie hier bei dem verrückten Alten standen, war ihr Tribut für den warmen, sauberen Schlafplatz vor der Geräuschkulisse aus Hurrarufen, Schüssen, Salven und den klappernden Hufen der Kosakenhundertschaft, die vom Diorama der brennenden Presnja* kamen und dem Alten wie Engelsstimmen in den Ohren klangen.
»Fix, fix!«, sagte der Wachmann und winkte sie weiter, wenn er zum nächsten Teil der Ausstellung übergehen wollte.

XIX
Im Georgischen Viertel* standen zu dieser Zeit noch kleine, hundert Jahre alte Villen, Bürgerhäuser aus Holz mit steilen Außentreppchen. Einige von ihnen wurden als Aktenarchive oder Ersatzteillager der Wohnungsverwaltung genutzt, die restlichen standen leer. Eines dieser leeren Häuser befand sich in der Malaja Grusinskaja und war nur deshalb verschont geblieben, weil es von einem Hund bewacht wurde.
Irgendein Beamtenmensch von der Bezirksverwaltung hatte dieses Haus fürs Erste für sich beansprucht und im Hof eine gigantische Hundehütte aufgestellt, aus der, wie man bei ihrem Anblick meinen sollte, jeden Moment ein Bär mit glühenden Pflastersteinen in den Pranken herausspringen konnte.
Tatsächlich kam daraus ein Rottweiler hervorgeschossen und warf sich mit seinen ganzen vier Pud gegen den Maschendrahtzaun. Die Lefzen des Hundes besabberten das Zinkgeflecht, die Luft dröhnte, klirrte, bebte.
Nadja hatte vor Viechern keine Angst, und der Hund leckte ihr die Hände, während Wadja sich ängstlich vorbeischlich, die Außentreppe hochstieg und nach dem Klingeldraht tastete; auf das blecherne Klirren hin flog die Tür auf, und ein scheuer Schatten ließ sie mit dem Wind und einem Schwung wirbelnden Schneegestöbers hinein. Sie stapften die kalte Treppe hinauf in ein kaltes Zimmer, wo einige kaputte Stühle oder Kisten, die sie in einen kleinen Bollerofen warfen, eine halbe Stunde später den Luftklotz auftauten, die Fingerzweiglein, das Geäst der Arme, den verschachtelten Käfig aus ungeschickten Umschlingungen.
Aber dann wurde der Hund vergiftet und ihr Platz entdeckt.
Zuerst kämpfte Wadja gegen die Eindringlinge: Sie erwiesen sich jedoch als stärker. Doch bald darauf brannte das Haus sowieso ab. Und Koljanytsch mit ihm, der hatte es nicht mehr rausgeschafft; seine Kumpels kriegten ihn nicht wach, überall Rauch und Dunkel, die Flammen kriechen schon über die Wände, wie sollen sie ihn denn tragen?
Das war Ende November gewesen. Hoch über der Presnja glühte an diesem Morgen ein himbeerfarbener Sonnenaufgang. Und dann begann es zu schneien. Wie eine Ohnmacht.
Das Feuer wurde schon gelöscht, als sie ihr Haus verließen und die Straße zum Weißrussischen Bahnhof hinaufgetrottet kamen. Dort wartete am Blumenmarkt Arbeit auf sie: Abfälle aussortieren, nach draußen schaffen, auf einen Karren laden und zum Müllplatz am Frachtbahnhof bringen.
Der Schnee fiel in den Krater des verkohlten, qualmenden Hauses.

Die Feuerwehrleute rauchten. Nur einer hockte mit dem Schlauch an die Brust gepresst da und führte den Wasserstrahl hin und her, spritzte die Mauern ab. Wadja kramte eine Papirossa hervor und ging zu ihnen hin.
»Ist wer verbrannt?«, fragte er und ließ sich Feuer geben.
»Einen Ver-verkohlten gibt’s. Einen v-v-von euch«, stotterte ein dreckverschmierter Feuerwehrmann.
Wadja nickte und ging weiter. Nadja betrachtete gerade die Schneeflocken, die in ihrer Armbeuge gelandet waren. Sie hob den Arm, drehte ihn hin und her, um den Augen verschiedene Blickwinkel zu bieten, und freute sich an den glitzernden Fünkchen.
Sie hatte heute schlecht geschlafen. Hatte sich im Schlaf von einer Seite auf die andere geworfen, er hatte ihren Ellbogen an die Schläfe bekommen. Aber daran war er ja gewöhnt. Schon früher hatte es ihn nicht gestört, nur erschreckt. Jetzt aber war es eigentlich gar nicht mehr schlimm, kurz, er hatte sich daran gewöhnt – so dachte Wadja bei sich, und der Gedanke erfüllte ihn mit Zufriedenheit.
Die Menge der Gaffer zerstreute sich allmählich, aber es kamen immer wieder Neue: Ihre Gesichter bebten. Irgendetwas stimmte mit seinen Augen nicht, merkte Wadja, er sah plötzlich schlechter, und dann kippte alles jäh ins Weiße, die Augen fühlten sich seltsam an, schmerzten, und eins nach dem anderen verschwammen die Gesichter der Passanten.
Der Wasserstrahl schlug los, zischte, zerschnitt die Luft, brach verbrannte Scheite aus den Fensteröffnungen und Rahmen. Ringsum glich ein Gesicht dem anderen: Alle, die in die Feuersglut sahen, hatten denselben, gleichsam verkohlten Gesichtsausdruck. Ihre Lippen bewegten sich; sie liefen nicht weiter, sondern rückten zu einem Halbkreis zusammen, drängelten. Irgendwo ertönte Wehklagen, eine Frau schluchzte, die Menschen setzten sich wieder in Bewegung, nickten dabei. Wadja machte einen Schritt; da erschien im Reigen der Gesichter und Augen am Himmel, der als Dreieck wegkippte, über der Fläche der qualmenden Mauer Tante Oljas Gesicht und glitt vorbei. Sie sah ihn bekümmert an, mit einem traurigen, verstörten Lächeln, und löste sich dann in der Menge auf. Da verfiel Wadja in Laufschritt. Nadja kam ihm gerade noch hinterher und hängte sich bei ihm ein.

XX
Sie mieden die Straße so gut es ging, ganz umgehen konnten sie sie aber nicht: Die Straße war ihre Ernährerin. Von den großen Kellergemeinschaften hielten sie sich allerdings fern. Dort musste man sich wohl oder übel anpassen: Ab einer bestimmten Anzahl Menschen (wie viele, das hing von ihren jeweiligen Eigenschaften ab) verfestigte sich immer die Gewalt der Macht. Wadja aber liebte die Freiheit, für sich und für andere. Er liebte sie nicht intuitiv, nicht einfach so, und eben diese erarbeitete Freiheit, die für Nadja unerreichbar war, schätzte sie an Wadja – und er war für sie die letzte Stütze im Leben[37 - j-m die letzte Stütze im Leben sein – быть кому-либо последней опорой (поддержкой) в жизни].
In jeder Gemeinschaftsbehausung fanden sich zwangsläufig ein oder mehrere Bosse, die einen Tribut von den Tageseinnahmen forderten. Das geschah am Ende des Tages, wenn sich alle um den gemeinsamen Pott versammelten und jeder darin versenkte, was er am Tag erbeutet hatte.
Wadja und Nadja konnten kaum etwas beisteuern. Sie bettelten nur selten, wenn sie Geld für eine Reise oder für Medikamente brauchten. Oder Wadja für Hochprozentigen, wenns hart auf hart kam (Nadja trank nicht und schimpfte dann mit Wadja, aber sie half ihm trotzdem). Also dachte sich Wadja wieder Märchen aus, für die er immer Zuhörer fand.
In den Gemeinschaftskellern lebte es sich nicht schlecht: Es gab Sofas, Klappbetten, Teppiche, die Wände waren mit Zeitungen und alten Plakaten beklebt. Aber die Bosse und das Ungeziefer vergällten ihnen die Wärme der Gemeinschaft. Für die meisten war das einzige Ziel des Tages, sich am Abend zu betrinken – oft bis zur Bewusstlosigkeit. Einmal wurde Nadja bei einer ihrer Übernachtungen dort von einem klackernden Geräusch direkt neben ihrem Ohr geweckt. Sie öffnete die Augen. Vor ihr saß eine riesenhafte Ratte: glattglänzend, größer als eine Katze, ohne Augen. Die Ratte putzte sich. Dann setzte sie sich in Bewegung, schabte und klackte mit den Krallen über den Betonboden und zog dabei die Hinterbeine nach. Ganz wie Tjorka vom Sawjolowo- Bahnhof, der fette Invalide ohne Beine, der keinen Rollstuhl hatte.
In der Presnja, besonders in den Georgischen Straßen und im Tischinski-Viertel*, gab es genügend ergiebige Müllplätze. Dort ließen sich gute Anziehsachen finden, manche hatten nur kleine Flecken oder aufgeplatzte Nähte, andere waren sogar noch ganz neu. Mit Kleidung waren sie also versorgt. Einmal entdeckte Wadja in der Tasche eines erbeuteten Jacketts ein schweres Zigarettenetui und eine Sonnenbrille.
Nadja hatte ihn nicht gleich erkannt. Sie klopfte ihm auf die Schulter und sagte lachend:
»Du Künstler!«
Unter den Obdachlosen galt es als das große Los[38 - das große Los – джек-пот, главный приз лотереи, главный выигрыш], wenn man in einer Mülltonne oder an einer Bushaltestelle von Taschendieben weggeworfene Dokumente fand. Dann konnte man auf einen Finderlohn des Besitzers hoffen, falls dieser sich noch keine neuen Papiere besorgt hatte.
Und einmal fand Nadja einen Sonnenschirm. Sie spazierte damit herum, als hielte sie einen Luftballon an einer Schnur: Sie hob den Ellbogen und schaute immer wieder von der Seite auf das luftige Seidenkonstrukt. Und Wadja sah großtuerisch zu ihr hin.

Die Mutter*

XXI
Vor ihrem Tod war die Mutter aufgelebt. Früher hatte sie immer nur geschimpft. Jetzt gab sie Ratschläge. Seit der Lähmung konnte sie schlecht sprechen, sie nuschelte mit tauber Zunge, und Nadja, die sie nicht immer gleich verstand, lachte manchmal und erklärte dann der Mutter, was falsch war und warum.
»Es ist Oktober, lauf nicht mit offener Jacke herum. Sei nicht so eitel! Bind dir was um den Kopf!«
»Benutz deinen Grips. Lass dir nichts einreden.«
Die Mutter gab eine knappe Anweisung, dann verstummte sie und dachte sich die nächste aus.
»Vergiss nicht: Gute Männer gibt es nicht. Halte dich an die, die nicht böse sind.«
Die Mutter war krank geworden, kaum dass sie ihr neues Zimmer bezogen hatten. Sie waren nach Pskow gezogen, weil dort ihre einzige Verwandte lebte, Mutters Cousine zweiten Grades. Wie sich herausstellte, war die Tante aber selbst in Not: Bei ihrer Scheidung war der Besitz geteilt worden, und so konnte sie ihnen keine Hilfe sein.
Nadja und ihre Mutter waren mit leeren Taschen aus Aserbaidschan gekommen: Ihre Wohnung in einem Vorort von Baku war nichts wert gewesen. Die Gesundheit der Mutter hatte in dieser schweren Zeit sehr gelitten – anfangs hatten sie die Nächte mal im Arbeiterwohnheim verbracht, mal am Bahnhof oder im Kloster, das gerade renoviert wurde. Die Tante kam und weinte sich bei ihnen aus: Sie hatte keine Kinder bekommen, und nach acht Jahren des Wartens war ihr Mann nun unerbittlich.
Die Mutter klapperte die Schulen und Kindergärten ab, aber ohne polizeiliche Anmeldung[39 - die polizeiliche Anmeldung (юр.) – прописка, ргистрация в полиции по месту жительства] bekam sie nirgendwo eine Arbeit. Sie wollte schon zurück nach Aserbaidschan. Da herrschte zwar auch Finsternis, aber die eigene, vertraute, man könnte sogar sagen: sonnige. Und da war das Meer. Am Meer ist alles leichter.
Dann startete das Sozialamt endlich ein Programm für Flüchtlinge, und sie zogen in eine Kommunalwohnung.
Obwohl Nadja eine Ausbildung am Technikum gemacht hatte, wollte sie niemand. Ihr Gesicht, das noch die Spuren der Schwachsinnigkeit trug, die die Mutter mit unmenschlicher Kraftanstrengung besiegt hatte, sicherte ihr bereits an der Türschwelle den Ruf der Bekloppten.
In der Wohnung lebten noch zwei weitere Parteien. Direkt neben ihnen hauste eine leise, pingelige Oma mit Papageien, die oft durch die ganze Wohnung flatterten, und einem Raben, der aus ihrem Zimmer stolziert kam, Jaschka hieß und so groß war wie ein Huhn. Die Alte erschien regelmäßig bei ihnen zu Kontrollbesuchen:
»Pardon, sind meine Vögel vielleicht bei Ihnen?«
Der Rabe konnte sprechen. Er hüpfte in der Küche aufs Fensterbrett, pickte auf die Geranie ein und krächzte: »Seid bereit! Immer bereit!«
Das andere Zimmer bewohnten zwei Alte, die täglich laut darüber stritten, ob ihr Sohn sie heute besuchen würde oder nicht. Manchmal hatten ihre Dispute wahre Sprengkraft. War in ihrem Zimmer wieder Ruhe eingekehrt, rollten polternd leere Flaschen über den Fußboden.
Die Mutter erlitt einen Schlaganfall[40 - einen Schlaganfall erleiden (мед.) – перенести (апоплексический) удар], sie war ein halbes Jahr ans Bett gefesselt und verschied.
Vor ihrem Tod wurde sie unruhig. Sie rief ihre Cousine zu sich (Nadja war heulend, mit offener Jacke durch den Schnee gerannt, um sie zu holen), küsste ihr langsam die Hände und bat sie, sich um ihre Tochter zu kümmern.
Die Cousine jammerte, weinte und ging schnell wieder. Die Mutter trocknete sich die Tränen und gab ihrer Tochter zwei Tage lang Anweisungen:
»Lass dich nicht gehen! Dann gehts nur bergab.«
»Rechne! Rechnen ist wichtig. Weißt du noch, was ich dir mal über Pythagoras vorgelesen habe? Er hat auch die ganze Zeit gerechnet.«
»Sei vorsichtig mit dem Gas. Wenn du rausgehst, schau immer nach. Und lass nie Petroleum im Zimmer.«
Mutter starb lange. In Wellen. Wimmerte. Warf ständig die Bettdecke weg. Nadja verstand das alles nicht. Sie hob die Decke auf, deckte die Mutter zu. Und nochmal. Der große, schlaffe Körper der Mutter wurde von Krämpfen geschüttelt. Wieder hob Nadja die Decke auf.
Als sie still wurde, stülpten sich die Lippen vor und erschlafften.
Aus den starren Augen flossen Tränen.
Nadja hat ihre Mutter nie geküsst.

XXII
Sie hatten in der Presnja ein paar regelmäßige Beschäftigungen. Unter anderem sahen sie bei der provisorischen Gedenkstätte für die Toten des Oktoberaufstandes nach dem Rechten[41 - nach dem Rechten sehen – следить за порядком].
Das kam so. Einmal im Frühling, am Totensamstag, hatten sie sich seit dem frühen Morgen auf dem Wagankowo-Friedhof herumgetrieben. Wadja war von Zeit zu Zeit zum Armenischen Friedhof auf der anderen Straßenseite gelaufen, in der Hoffnung, auch dort irgendeinen Handlangerdienst zu ergattern. Gegen Mittag brach Nadja ein paar Birkenzweige und schlich sich damit zu den verlassenen Gräbern. Sie fegte mit den Zweigen das Laub vom Vorjahr weg, riss das vertrocknete Unkraut aus, ging, mit verschämtem Gesicht leise vor sich hin flüsternd, zu den üppig geschmückten Gräbern und holte von dort Pralinen, Gebäck, Eier und künstliche Blumen.
Da wurde die Friedhofswärterin auf sie aufmerksam.
»He, was machst du da, elendes Weib?«, schrie die Frau sie über den Grabzaun an.
Nadja war vor Schreck ganz aufgeregt und machte tiefe Verbeugungen.
Die Frau arbeitete noch nicht lange dort als Wärterin und machte so ein Geschrei, damit die Wachleute es hörten, damit sie sahen, wie gewissenhaft sie arbeitete.
Aber als sie ernsthaft in Fahrt kam, wandte Nadja sich zu ihr um und brüllte:
»Sachla*, Schluss jetzt! Sachla!« Wenn Nadja aufgeregt war, rutschten ihr immer aserbaidschanische Wörter heraus.
Dann kam einer der Wachleute, ein kräftiger junger Mann in Militär-Camouflage, rief die verschreckte Nadja zu sich, ging zusammen mit ihr zu Wadja, gab ihm Zange, Schaufel, eine Rolle Stahldraht und ging mit ihnen zum Weißen Haus.
Im Park hinter dem rechten Gebäudeflügel, bei den Ausgängen, an denen die meisten Menschen von Scharfschützen getötet worden waren, standen Tafeln mit roten Wimpeln, voller Fotos, dazu kurze Texte, wie und wo derjenige umgekommen war, außerdem unansehnliche Zäune, die mal ein bemaltes Eisenkreuz, mal ein geschnitztes Holzkreuz mit Dach umgaben. Daneben verstaubte Kränze, Tafeln mit Informationen über die Oktoberereignisse, Gedenkfotos, Namenslisten und Biografien der Toten. Alles zusammen erinnerte an einen kleinen Dorffriedhof.
Wadja grub die Beete um, Nadja harkte das Gras, lockerte die Erde auf. Männer mit Trauerbinden am Arm und Frauen in schwarzen Kleidern sprachen leise miteinander, raschelten mit Plastiktüten und machten sich an den Tafeln zu schaffen.
Von da an gingen sie hin und wieder dorthin, um nach dem Rechten zu schauen, etwas auszubessern, herzurichten, zu befestigen. Nadja machte ringsum sauber, klebte die Fotos fest. Wadja richtete die improvisierten Mahnmale her, nagelte Folien an, zog mit schwarzer Farbpaste die Buchstaben auf den Listen nach, die übers Jahr verblichen waren.
Einmal hatte Wadja eine Idee, er holte sich Bretter von einer Baustelle, zimmerte Holzböcke, wickelte ein Stacheldrahtgeflecht darum, steckte ein paar Rohre hinein, befestigte noch Aluminiumfetzen daran – und kroch dann den ganzen Tag auf den Knien drumherum, band Fetzen einer roten Fahne an den Stacheldraht, spießte Alufolie auf und steckte einige abgeknickte rote Nelken in das Konstrukt, die er sich bei den befreundeten Blumenhändlerinnen am Weißrussischen Bahnhof zusammengesammelt hatte.

XXIII
Nadja konnte sich nur an unbedeutende Dinge gut erinnern. Sie wusste beispielsweise noch genau – sie brauchte nur die Augen zu schließen – wie das Brillenetui ihrer Mutter innen gerochen hatte: Es war der gleiche herrliche Geruch nach gegerbtem Wildleder wie in dem Sportgeschäft in ihrer frühesten Kindheit, in einer Kleinstadt am Kaspischen Meer. Sie waren in der sengenden Hitze zum Uferpark gelaufen (aufreizender Jodduft des blutheißen Meeres, schwerer Harzgeruch der von der Sonne aufgeheizten Zypressen). Nach der glühenden Straße, auf der der Asphalt klebrig-zäh unter den Sohlen nachgegeben hatte, war das Geschäft eine selige Wohltat, angefangen mit der Kühle und eben diesem erregenden Geruch. Später spazierten sie gebannt durch die beiden betörenden Verkaufsräume voller Sportartikel: Da gab es einen Billardtisch, eine Tischtennisplatte, einen Boxsack, einen Korb voller Seilknäuel und schließlich eine Box mit steil abfallenden Seiten und bordeauxrotem Samtbezug, an dem, wie bei einer Vogelscheuche, Tuchärmel herabhingen (wie die Ärmelschoner eines Buchhalters ohne Kopf), die an den Bündchen von einem Gummiband zusammengehalten wurden. Es war eine Box, in der man blind Filme bearbeiten konnte. Besonders faszinierend waren die Backgammonspiele, Schachbretter und Federballsets in den Regalen. Wunderschöne gefiederte Korken, die sich als weißer Bogen beflügelter Fantasie zwischen schallenden Schlägern drehten, erbebten und beim Aufprall seufzten, ganz sanft, wie rauschende Federn beim Auffliegen in den Himmel. Nadja erinnerte sich noch daran, wie die Mutter ihre Versunkenheit von hinten an der Schulter gepackt und vom Einschlummern weggeführt hatte, zum hinteren Ausgang Richtung Meer.
Vor allem aber wusste sie noch, was sie so hineingezogen hatte in das Innere dieses Wildledergeruchs, langsam und unausweichlich wie eine Sonnenfinsternis: Es war eine Sonne, die da lockte, ein herrlicher, lederner, wie die Antarktis weißer und geheimnisvoller, im Parkettglanz erstrahlender Volleyball.

XXIV
Schlimm war, dass sie nicht wusste, wo der Mensch aufhörte. Sie ahnte, dass das eigentlich gar nicht so schlimm war, dass es doch dann egal war, wer man war. Dass sie die Grenze nicht bemerken würde. Besser gesagt, wenn sie sie überschritten hätte, wäre es ihr längst egal. Aber genau da lag die Angst, weil man vollkommen wehrlos war – da half kein Schlagen oder Beißen. Oder vielleicht war die Angst doch ein bisschen woanders. Aber wem sollte man sagen, was sich nicht ausdrücken ließ? Wadja hörte ihr zu, verstand sie aber nicht. Verstand nicht, wie es schlimmer werden sollte als ohnehin schon. Und sie wusste es auch nicht.
Sie brauchte das Reden: dass man ihr etwas erzählte, sie nach etwas fragte. Ihr ganzes Leben lang hatte die Mutter mit ihr geredet. Immerzu. Hatte vorgelesen, gesprochen, erzählt, diskutiert. Hatte sie dazu gebracht, Bücher zu lesen. Nadja fiel das alles schwer. Sie konnte kaum antworten. Die Qual, sich auszudrücken, saß in ihr wie ein sengender, wunder Klumpen. Die Wörter existierten gleichsam getrennt von ihr. Sie behagten ihr nicht, weil sie nie dem ähnelten, was sie eigentlich waren.
Schlimm war, dass sie die Grenze nicht bemerkte. Wadja redete mit ihr. Er redete, hörte aber nicht zu – und wollte auch eigentlich gar nicht, dass sie redete. Er sang auch manchmal. Aber das reichte nicht. Es brauchte das systematische Vorgehen, mit dem die Mutter sie immer wieder aus dem Nichtsein herausgezerrt hatte.
Darin hatte das Leben der Mutter bestanden. Immer nach außen gerichtet: wie sie sprach und sich ausdrückte, wie sie mit der Tochter über alles und jeden redete. Über die Verwandten, übers Essen, über die Prüfungen, dass man schauen muss, wo man bleibt, und was für Menschen es gibt – gute, schlechte, gleichgültige. Sie wusste noch, was die Mutter ihr einmal gesagt hatte – sonst wusste sie fast nichts mehr:
»Mach einen Bogen um dünne Menschen[42 - einen Bogen um j-n machen – обходить, избегать кого-либо]. Sie sind so dünn, weil sie wegen etwas traurig sind. Und das kann sich auf ihr Verhältnis zu dir auswirken.«
Mit viel Büffeln und zweimal Schmiergeld schafften sie und ihre Mutter die Aufnahmeprüfung am Technikum. Dort wurde sie ausgelacht, aber sie war gar nicht so schlecht. Die Lehrer zuckten die Achseln. Die Schüler, die zum Teil nicht einmal gut Russisch konnten, lachten trotzdem weiter, neckten sich nun aber gegenseitig: Die sei zwar bekloppt, habe aber bessere Noten als manch anderer.
Niemand wusste, dass sie alles, was sie lernte, am nächsten Tag vergessen hatte. Und dass sie für die Prüfungen noch einmal von vorne anfangen musste.
Ihr ganzes Leben bestand aus Lernen, aus der Jagd nach der Norm, nach dem Leben. Und sie nahm ihr Los an, ergeben und mit mechanischer Arglosigkeit.

XXV
Langsam vergaß Nadja ihre Mutter. Als die Mutter gestorben war, stand Nadja einfach auf und ging. Sie erinnerte sich nur noch an den Bahnhof. Wie sie den Bahnsteig auf und ab gelaufen war und gewimmert hatte. Sie hatte nichts sagen können, hörte nur immer sich selbst, ihr schreckliches Wimmern, und wurde allmählich taub.
Ein Milizionär kam, nahm sie am Arm, versuchte sie wegzuführen, fragte etwas … sie wimmerte.
Danach erinnerte sie sich an nichts mehr, an überhaupt nichts. Nicht an die Beerdigung, nicht an die Tante. Das Gedächtnis gab ihr erst viel später und stückchenweise die Vergangenheit zurück.
Alles begann mit den Äpfeln. Wie sie sie im Garten einsammelt, durch das nasse Gras kriecht, wie sie auf einem Apfel eine riesige Nacktschnecke entdeckt: schwarz glänzend, mit kleinen Fühlern, picklig wie eine Zunge.
Sie steckt die Schnecke in den Mund. Spürt den erstarrten, kalten Körper. Nimmt sie wieder heraus. Die Schnecke macht sich lang, zeigt die Fühlerchen. Aus irgendeinem Grund findet sie das lustig, lachend lässt sie sich ins Gras fallen, wird von einem Weinkrampf zerschmettert.
Alles begann damit, wie sie gierig, verzückt, schmatzend die Äpfel isst. Wie ein Pferd vorbeiläuft, zu ihr herüberschielt: Die Mähne wogt, Widerrist, Rücken, Kruppe fließen dahin. Wie der Huf aufstampft, wie unter dem schaukelnden Schweif Batzen dampfender Äpfel herauskommen und zerfallen.
Wie sie auf dem Markt in Toksowo Äpfel verkauft. Wie sie einen großen Apfel vom Stapel nimmt. Ihn in der hohlen Hand wiegt. Ihn anhebt und umdreht: Sie führt den Arm hin und her und schaut, leise lächelnd, darüber hinweg die Kunden an.
Woraufhin sie ihn langsam zum Mund führt, die Augen schließt und tief einatmet.

XXVI
Jetzt stumpfte sie ab, das wusste sie, weil sie den Verstand getrennt von sich wahrnahm. So wie jemand, bei dem die Koordination der Nervenenden verloren geht und der dann seine Glieder immer mehr als Fremdkörper empfindet.
Diese Geistesstörung hatte Farbe, Form und Stimme. Sie war ein großer grauer Vogel, von einem Stock zum Krüppel geschlagen. Der Vogel landete auf einem kräftigen Ast, der aus der rechten Schläfe wuchs, seufzte heiser und zog den zerschmetterten Flügel ein.
Das Denken fiel ihr immer schwerer. Der Vogel landete immer häufiger auf dem Ast, und sein Schatten im Augenwinkel wurde immer größer. Manchmal tat Nadja das Denken weh. Wenn es ihr ein ums andere Mal nicht gelingen wollte, eine Zahlenreihe zusammenzuzählen, biss sie sich ins Handgelenk, schlug sich auf die Hand, heulte tränenlos.
Aber sie beruhigte sich wieder, und dann trat Gleichgültigkeit in ihr Gesicht, schwere Teilnahmslosigkeit.
Die Schwachsinnigkeit durchdrang Nadja wie eine Starre. Dann kam es ihr vor, als wäre sie ein Strauch. Ein kleiner Strauch, versteinert im immerwährenden, dumpfen Schmerz. Als hätte sich die Welt rundum in Wind verwandelt, einen sanften oder kräftigen Wind, und nur er allein konnte den Strauch berühren, an ihm zupfen, ihn loslassen, biegen, umknicken.
Doch manchmal ging es besser. Dann füllte sie Seite um Seite mit Rechenreihen. Fürs Rechnen sammelte sie in den Geschäften die Kassenbons auf: Unten auf dem Bon stand die Lösung. Sie holte sich eine ganze Handvoll und addierte alle Einkäufe. Bedächtig, mit herausgestreckter Zunge, am Stift kauend. Schrieb die Lösungen auf und setzte zum Schluss ihren Namen darunter: Nadja. Nicht, dass sie Angst gehabt hätte, ihn zu vergessen, aber so war es leichter, sich mit diesen Zahlen in Beziehung zu setzen: dass wirklich sie dies getan hatte und kein anderer. Es passierte ihr auf Schritt und Tritt, dass sie vergaß, dass dieses Ding hier etwas mit ihr zu tun hatte. Dass sie das hier geschrieben hatte. Dass sie diese Anziehpuppe mit einem Messer ausgeschnitten hatte. Nadja. So hieß die Puppe. Hier stand es, auf dem kleinen Knie. Das war das Schwerste – Namen zu geben. Nadja kannte nur einen Namen: Mama.
Sie wusste nicht, wie weit sie sich schon entfernt hatte, dennoch fasste sie neuen Mut[43 - neuen Mut fassen – приободриться].
Aber die bezwungene Angst, die nun tiefer im Verborgenen steckte, wurde immer stärker.

XXVII
Einmal, als sie gerade alle gesammelten Kassenbons durchgerechnet hatte, erinnerte sie sich an etwas Besonderes. Sie war mit der Mutter in eine andere Stadt gefahren, um Mutters Freundin zu besuchen. Die Freundin war nicht zu Hause, also spazierten sie durch die Stadt, liefen durch den Uferpark und am Strand entlang, dann wieder zurück, aber immer noch machte niemand auf.
In der Nähe gab es ein Internat, und sie setzten sich auf eine Bank im Schulhof. Kinder liefen herum. Sie spielten ein Spiel. Nadja kannte es nicht. Die Kinder bestimmten einen, der dran war[44 - j-d ist dran (разг.) – подошла чья-либо очередь, чей-либо черёд]. Sie sammelten Zweige im Hof zusammen. Legten ein kleines Brett schräg auf einen Ziegelstein. An dem einen Ende des Brettes häuften sie die Zweige auf. Ein Kind trat auf das Brett, und während der, der dran war, die rundum verstreuten Ästchen einsammelte, rannten die anderen in alle Richtungen davon. Als der Junge endlich alle Stöckchen wieder auf das Brett gelegt hatte, ging er los, um die anderen abzuschlagen. Allerdings konnte derjenige, hinter dem er her war, zum Brett rennen, drauftreten und wieder weglaufen, und dann musste er aufs Neue alle Stöckchen einsammeln. Kurz, das Spiel war für den, der dran war, die reinste Folter: Er musste das Holzbrett nach allen Seiten verteidigen. Nadja tat er leid – ein dicker, keuchender Junge, dessen Lippen sich beim Rennen vorwölbten, die Backen schlackerten, das Gesicht war verzerrt, als würde er weinen – ihr tat der Kopf weh.
Über dem Schulhof stieg Staub auf und legte sich langsam zu ihren Füßen nieder. Oben, in der Krone einer Akazie, gurrte eine Turteltaube. Ein Borkenkäfer, lackiert und gesprenkelt wie ein Stückchen Sternenhimmel, plumpste vom Baum herunter und zappelte jetzt heftig und kitzelig in Nadjas Hand.
Zwei Mädchen rannten dem Dicken davon und versteckten sich neben ihnen. Sie schnauften und greinten, kamen mal hinter der Bank hervor, liefen dann kreischend wieder zurück. Eines der Mädchen sah mehrmals zu Nadja hin, achtete dann aber, vom Spiel gebannt, wieder auf den Jungen.
Die Mutter sagte:
»Diese Kinder haben keine Eltern. Niemand achtet darauf, dass sie nach dem Unterricht die Schulkleidung ausziehen, sie tragen sie auch beim Spielen.«
»Mama, wo sind denn ihre Eltern?«
In diesem Moment kam das Mädchen hinter der Bank hervor und sah Nadja direkt ins Gesicht.
»Du bist bekloppt, stimmts?«
Der Dicke kam angerannt, schlug dem Mädchen auf die Schulter, das andere Mädchen kreischte auf, genau über Nadjas Ohr.
Alle stürmten davon.
Nadja verließ mit der Mutter den Schulhof. Es war an der Zeit, nachzusehen, ob Tante Alja nicht zurück war.
Am Tor stand ein kleiner Junge in der prallen Sonne. Er weinte und wischte sich mit den kleinen Fäusten die Tränen ab.
Die Mutter fragte ihn:
»Kindchen, warum weinst du denn?«
Der Junge sah sie an und heulte noch lauter.
Die Mutter hockte sich vor ihn.
»Willst du mir nicht sagen, warum du weinst?«
Er sagte schluchzend:
»Gestern sollte mich meine Mama besuchen kommen. Ich warte auf sie. Sie hat versprochen, dass sie mir Buntstifte kauft.«
Die Mutter stand auf und nahm den Jungen bei der Hand.
»Komm, mein Junge, wir gehen. Deine Mama hat mir gesagt, dass ich dir Buntstifte kaufen soll. Komm.«
Sie gingen zusammen zur Buchhandlung.
Im Laden waren die Fenster mit schweren Samtgardinen verhangen, deshalb war es kühl. Es roch nach Buchrücken, Holzleim und Gouachefarben. Ein greller, satter Lichtstreifen voller herumwirbelnder Staubteilchen bahnte sich seinen Weg durch die Vorhänge, lief keilförmig über den Boden, warf eine Linie quer über das Gesicht des Jungen.
Er starrte stur vor sich auf den Boden.
Die Mutter erstand in der Schreibwarenabteilung drei Filzstifte, eine Packung Buntstifte, ein Lineal, einen Radiergummi und ein Malbuch.
Nadja sah die ganze Zeit den Jungen an.
Draußen kaufte die Mutter beiden ein Glas Sprudelwasser mit einer doppelten Portion Sirup.
Die Zähne des Jungen schlugen ans Glas. Hin und wieder schüttelte ihn ein Seufzer.
Sie brachten ihn zurück.
Er lief über den Schulhof – klein, schmächtig, verheult.
Die Stifte trug er behutsam auf dem Malbuch.
Einmal blickte sich der Junge um.
Nadja sah sein vom Weinen verzerrtes Gesicht.

Zoologischer Garten

XXVIII
Nadja setzte sich manchmal einfach nur auf einen Stuhl oder auf die bloße Kante – brav, würdevoll, aufrecht, legte die Hände auf die Knie, von Zeit zu Zeit seufzte sie, schaute nach oben, lächelte ein wenig, mit strahlenden Augen, rutschte, ruckelte wieder und wieder auf dem Stuhl herum, holte tief Luft und war von stiller, erwartungsvoller Freude durchdrungen. So saß sie manchmal stundenlang da, die weit geöffneten Augen auf ein unsichtbares Glück gerichtet.
Nadja war nicht von der feigen Sorte, aber ungeschickt. Machte vieles nicht so, wie sie wollte, und wenn sie etwas sagte, dann war es irgendwie komisch oder nicht das Richtige. So liebte sie auch Wadja – unbeholfen: Sagen kann sie nichts, stattdessen bespringt sie ihn, fällt im Spiel über ihn her, spielt, kitzelt: Liebt, lacht und fängt dann plötzlich an zu weinen, weint aus Scham, brummt, lächelt, wimmert, streichelt Wadja – und hat auch Mitleid mit ihm.
Eine Zeit lang träumte Nadja davon, wie sie ein Zimmer mieten, dass sie einen eigenen Haushalt, eine elektrische Herdplatte haben würden; dass sie sich ein Kätzchen zulegen und ihm aus dem abgeschnittenen Boden einer Milchpackung zu fressen geben würde. Die Krönung des Alltags bestand für Nadja im Besitz einer elektrischen Herdplatte.
In Pskow hatten Mama und sie eine besessen: Zwei Schamottesteine mit einer geschlängelten Rille, durch die sich die Heizspirale wand. Über der Platte, ganz verzückt von dem durchsichtigen Glühen, wärmte sich Nadja die Hände und röstete Brot. An frischem Brot würgte die Mutter, an geröstetem zu lutschen, fiel ihr leichter.
Wadja wollte nichts von einem Zimmer wissen, ihm war unklar, warum man für einen leeren Raum Geld zahlen sollte. Er war vollauf zufrieden mit trocken Brot (ihre Verpflegung bestand vornehmlich aus Brot und Kondensmilch) und einem Nachtlager auf Dachböden oder in verlassenen Waggons.
Zwar gab es immer weniger zugängliche Treppenhäuser, aber bis zum Winter würden sie schon etwas finden: Die Presnja war groß, es gab das Strelbischtschenski-Viertel, die alten Arbeiterbaracken am Schmitowski Projezd. Und schlussendlich die warme Toilette auf dem Georgischen Platz, zu deren Aufseherin, Sejnab, Wadja einen besonders guten Draht hatte[45 - einen guten Draht zu j-m haben – быть в хороших отношениях с кем-либо, хорошо относиться к кому-либо]. Dort lungerte er gern herum, goss sich im Dienstkabuff Heißwasser ein, manchmal auch Kaffee, und hockte unter der Heizung im Warmen (kleine, gut beheizte Räume wurden von den Obdachlosen immer geschätzt).
Nur krank werden durfte man nicht. Krankheit verdammte einen zum Tod; die Straße duldet keine Kranken – man wird verlassen, vergessen.
Trotzdem sparte Nadja heimlich, und damit Wadja ihr das Geld nicht abnahm, trug sie es nicht bei sich, sondern versteckte es. An einem unzugänglichen Ort, bei der Bärin. Dorthin brachte sie auch den Kunstband von Matisse.

XXIX
Ihr Leben in der Presnja war in vielerlei Hinsicht mit dem Zoo verbunden. Angefangen hatte es damit, dass Nadja eines Sonntags bei Sonnenaufgang vom Dachboden heruntergestiegen und zum Platz des Aufstandes geschlendert war.
Sie verpasste keinen Sonntagmorgen. Führte ständig einen Kalender, trug auf einem Block Reihen mit Buchstaben und Zahlen ein.
Sie klammerte sich an die Kalendermarken wie ans Leben, und wenn sie einen Tag verpasste – oder nicht sicher war, ob sie einen verpasst hatte oder nicht – war es für sie eine wahre Pein, so sehr quälte sie die Ungewissheit. Die Bindung an die Tage war für sie eine Grundfeste im Leben. Den Sonntag sehnte sie herbei, an ihn dachte sie während der leeren und endlosen Woche.
Nur am frühen Sonntagmorgen zeigte Moskau sein wahres Wesen. Bei Sonnenaufgang ging Nadja in den Pawlik- Morosow-Park, schlenderte über die Wiesen, sammelte eifrig Müll, legte ihn neben die überquellenden Mülleimer. Sie trat hinaus auf die Krasnaja Presnja; die weite Straße eröffnete sich vor ihr als riesenhaftes Parallelepiped von rosa Luft; die Häuser – Reihen gerippter Fassaden, wie der raue Rand einer Muschel – stützten die schwebende luftige Weite. Die helle Pyramide des Hochhauses* ließ die Ferne gewaltig nahekommen. Der Asphalt erholte sich von den tagsüber dahinjagenden, drängelnden Autos. Ein Sprengwagen kroch am Straßenrand entlang und wirbelte mit seinem spritzenden Schnurrhaar Staub und kleinen Müll auf.
Nadja nahm die Abkürzung durch die Höfe, überquerte den Wolkow Pereulok und setzte sich auf eine Bank. Ein hoher Betonzaun umgrenzte eine felsige Insel. Gekrönt wurde sie von einem Berg, der mit zapfenförmigen Lehmhütten, Bienenstöcken und schwarz gähnenden Höhlen übersät war, mit Pfählen und dazwischen gespanntem Tauwerk: Stricken, Hängebrücken, Motorradreifen und an Rohrstücken aufgehängten Tarzanseilen.
Langsam erwachten die Makaken. Sie krochen aus den Hütten, setzten sich an den Eingang, putzten und kratzten sich, erstarrten. Das verschlafene, breite Gepräge ihrer Körper empfing dankbar die ersten Sonnenstrahlen.
Unten in den Gehegen erwachten die Orang-Utans. Langgezogene jaulende Uh-uh-uhs erfüllten die Umgebung.
In den oberen Etagen wurden die Lüftungsfenster zugeschlagen.
Der Pfau schrie, Hyänen gackerten, Gänse schnatterten, Schwäne knarzten, Raubvögel kreischten, Singvögel schmetterten.
Der morgendliche Lärm weckte Nadjas Fantasie. Der kakophone Vielklang durchdrang die durchsichtigen Freudenballons. Sie wiegte den Kopf und seufzte …
Als sie eine Weile gesessen hatte, stand sie unentschlossen auf, lief langsam los, durchquerte die Grünanlage, schaute lächelnd mal auf ihre Füße, mal nach oben, auf das Band des schaukelnden Himmels, schaute die Häuser an, die Fenster, in jedem hätte sie gerne mal gewohnt. Nicht lange, nur ein bisschen, mal ehrfürchtig hineingehen, sich das Leben betrachten, eine Parzelle seiner Heiligkeit – oder vielleicht nicht einmal hineingehen, sondern nur kurz vorbeischauen, mit angehaltenem Atem, wieder hinausgehen, ausatmen, weiterziehen … Und sie ging, glitt am schwankenden Strom der Schaufenster entlang, ein vorbeifahrender Bus berührte plötzlich als Druckwelle die wankende, tiefe Spiegelung, brachte die Ordnung der Straßenwerdung durcheinander: Himmel, Äste fielen nieder, die Straße wogte, stülpte sich auf zu einem Asphaltsee, Bordsteine, Parkumzäunungen zerschlugen, Autos kippten – und Nadja schauderte (plötzlich drehte sich ihr der Kopf und entschwand langsam und unmerklich: wen soll man bitten, schneller zu machen, hilf uns, Tod, langsamer Schritt) und lief dann, wieder eingerenkt, zurückgeschreckt, weiter, lief vergnügt, warum auch immer, wie Wadja, wenn er dem Hausmeister antwortete: »Wir sind Straßenmenschen, Mann. Straßenmenschen, klar?«
Und wieder strebte ihr Atem als Rinnsal aufwärts, in das leere, blendende Blau; wie sehr wünschte sie sich, dass dieses ungreifbare Ausströmen aufhören und sie mit einer leichten Umkehrbewegung erfüllen würde. Sie wusste nicht, wohin sie floss und was da spurlos in ihr verschwand, dafür gab es keinen Namen, nur ein kaltes Ästlein durchzog sie – von der Schulter durch die Brust zur offenen Hand. Langsam zog sie den Faden der Stadt durch sich hindurch, durch die Augen, bis nichts mehr übrig war.
Einmal setzte sich lärmend ein großer grauer Vogel auf einen Baum. Einer seiner Flügel hing herunter. Der Vogel saß da und schaukelte, dann streckte er den langen Hals in die Höhe, blähte den Kropf, nickte – sein furchtbarer Schrei ließ Nadja aufspringen. Wieder nickte der Vogel, blähte den Hals, brüllte und heulte. Als er genug geschrien hatte, flog er hinunter und klopfte mit dem Flügel auf die Erde.
Nadja nahm ihn in den Arm und trug ihn zum Eingang des Zoos. Der Milizionär holte einen Mann mit Brille und Regenumhang. Der ähnelte einer schmuddeligen rostigen Maschine. Sein Brillenbügel war mit Draht umwickelt. Er zog dem Vogel vorsichtig am Flügel. Der Vogel riss sich los, verschwand unter dem Umhang, der Mann half ihm raus und schnarrte mit schreckverzerrtem Gesicht:
»Was guckst du so? Bring die Gans zu Matwejew!«

XXX
Seit Nadja die Rohrdommel hergebracht hatte, war der Zoo ihr Reich.
Der Veterinär Matwejew hatte sie bei den Raubtieren herzlich willkommen geheißen. Ein grimmiger, dicker Trinker, der seinen Hass auf die Menschen durch die Liebe zu den Tieren wettmachte. Von allen Tierpflegern konnte nur er sich im Beisein der Mutter dem Nashornjungen nähern, um es zu untersuchen. Nur er konnte rund um die Uhr bei der Schimpansin wachen, die eine schwierige Schwangerschaft durchmachte. Nadja war er aus irgendeinem Grund zugetan[46 - j-m zugetan sein (высок.) — быть расположенным к кому-либо, быть преданным кому-либо].
Im Zoo zog sie orange Arbeitskleidung an und brachte Futterrüben zu den Gehegen. Sie schob einen kleinen Wagen von Futtertrog zu Futtertrog, packte das lange, kräftige Grünzeug und schleuderte die knorrigen rosa Köpfe hinüber. Gnus, Bisons, Yaks, Wisente, langschnauzige Kulane trotteten verschlafen zu den Trögen, schubsten sich gegenseitig mit ihren grässlichen Mäulern, knirschten und knarzten das saftige Grünzeug. Für die Kropfgazellen musste man die Rüben mit einem Handbeil zerteilen. Nadja schaffte das nicht. Sie konnte sich einfach nicht entscheiden, in welcher Hand sie das Beil halten sollte, und wurde starr vor Anspannung.
Wenn sie mit der Fütterung der Paarhufer fertig war, eilte Nadja zur Bärin. Die lief durch die graue Ödnis des leeren, weiten Geheges und zog die linke Hintertatze nach. Die Bärin war vollkommen kahl und sah aus wie eine nackte alte Frau. Sie war grau wie ein Stein. In der glatten Betonebene sah man sie nicht sofort. Auf Anweisung der Direktion wurde dem Publikum der Blick auf das Gehege durch Sperrholzplatten verwehrt. Das abstoßende, armselige Bild der Bärin war nicht für die Besucher bestimmt. Aus irgendeinem Grund hatte Matwejew verboten, sie einzuschläfern. Dem Direktor gesagt, eher würde er eigenhändig das gesamte Personal einschläfern.
Jeden zweiten Tag gab der Doktor Nadja für die Bärin eine Handvoll Undevit und Vitamin C. Sie zählte die Tabletten sorgfältig nach und notierte sich die Zahl auf der Handfläche.
Nadja hatte von sich aus begonnen, zu der Bärin zu gehen, niemand hatte sie darum gebeten. Es waren hungrige Zeiten, und die Raubtiere im Zoo wurden mit eingeweichtem Soja gefüttert; es gab die Idee, zur Fütterung mit Hundekadavern überzugehen. Streunende Hunde gab es – wegen des Hungers – in rauen Mengen. Die Obdachlosen scheuten sie wie das Feuer. Die herrenlosen Hunde wüteten, da die Müllplätze in der Stadt leer waren. Es gab Gerüchte von Rudeln, die in verfallenen Lagerhallen im Südhafen hausten. Diese Meuten umringten Menschen auf der Straße, drängten sie in die Ecke. Einige Besitzer hatten sich von ihren Rassezöglingen losgesagt. Zuweilen konnte man in den Rudeln bis zur Unkenntlichkeit abgemagerte Rottweiler, Moskauer Wachhunde, sogar Bernhardiner entdecken. Die Abdeckerei auf der Junnatow-Straße, aus der es nach giftigem Chlor roch, hatte dem Zoo angeboten, Hundefleisch zu liefern. Matwejew hatte das Angebot abgelehnt.
Die Bärin aß kein Fleisch. Ohne Schmeicheleien trottete sie auf Nadja zu und schaute ihr in die Augen. Sie hatte keine Zähne, schlürfte und leckte mit vorgestreckten Lippen lustlos das Soja-Gemisch, das Nadja ihr mit einem Holzklötzchen zermalmte.
Wegen des Geldmangels war der Zoo verwaist. Einen Großteil der Tiere hatte man auf Tierzuchtfarmen im Moskauer Umland untergebracht und auf Grasfutter gesetzt. Besucher gab es fast keine – der Anblick leerer Gehege machte keinen Spaß. Nur am Wochenende trafen sich Jugendliche vom Stadtrand im Zoo, setzten sich auf die Bänke und tranken Bier.
Die kahle Bärin streifte durch das Betonbecken. Die herabhängenden Falten, die runzelige Haut, der schmale Kopf, die runden, ledernen Ohren weckten Mitleid, doch der Ekel überwog. Als die Bärin vollends geschwächt war, scheuchte Nadja sie nachts in den hinteren Teil des Geheges, auf einen Zwischenboden, der mit Heu ausgelegt war. Warf ihren Mantel über sie und legte sich daneben. Die Bärin ruckelte herum, näher zu ihr hin. So wärmten sie einander.
Morgens schob Nadja ein Brett zur Seite und schaute nach ihren Ersparnissen. Zählte sie nach, steckte sie wieder zurück und saß dann noch lange verlegen mit rotem Kopf da.
Nachts war es im Zoo unheimlich. Die Bärin schnarchte immer wieder laut auf, wälzte ihren großen schlaffen Körper von einer Seite auf die andere, ihr stinkender Atem streifte über Nadjas Hals. Es war, als würden überall Amphibien aus den Terrarien herumkriechen. Nadja hatte gesehen, wie eng zusammengedrängt die Schlangen lebten – in Pappkartons mit Glühbirnen. Klar, dass sie ins Freie krochen, wenn es dunkel war. Schakale heulten, Yaks keuchten und stießen Dampfwolken aus, die den Nebel, der ihnen bis zu den Knien stand, in Wallung brachten. Zebras rannten trappelnd von einer Ecke in die andere und donnerten gegen die Stangen der Einzäunung. Enten rackerten wie bekloppt am Wasser. Otter spritzten herum. Walrosse schnauften. In den Futtertrögen raschelten und schmatzten Hamster – Hamster gab es im Zoo überall, Ratten gar nicht.
Bei ihrer letzten Übernachtung im Zoo überfiel Nadja in der Morgendämmerung Schüttelfrost. Sie öffnete die Augen. Es war still. Durch die Ritzen glomm dämmernd der graue Himmel.
Sie schlug den Mantel zurück und schaute sich um. Den ganzen ungestalten kahlen Körper entblößt, lag die Bärin mit starren feuchten Äuglein ausgestreckt auf dem Rücken.
Die Lippen waren nach oben gereckt, als suchten sie den Futternapf. Mit der Zeit erschlafften sie und öffneten sich zu einem Lächeln.
Matwejew zerlegte die Bärin als Futter für die Wölfe und Hyänen.
Der Tierpfleger Poliwanow – der Mann mit der kaputten Brille – verteilte das Bärenfleisch.
Nadja lief von Gehege zu Gehege. Sie schwenkte irgendwie seltsam den Arm, wiegte sich vor und zurück, und ihre Lippen tanzten, geräuschlos, als würde sie von etwas kosten – nicht die Luft, aber irgendetwas darin, weit weg.
Der Asiatische Wildhund rührte das Bärenfleisch nicht an.
Also warf Poliwanow die Portion zu den Geiern rüber.
Als Nadja sich daranmachte, die Knochen aufzulesen, gingen die Hyänen auf sie los.
Matwejew verband ihr den Knöchel und sammelte die restlichen Knochen selbst auf.
Den stinkenden Sack mit den Knochen schleppte sie auf den Dachboden im Strelbischtschenski Pereulok. Wadja sprang auf, wirbelte herum, stieß den Sack durch die Luke, so dass er auf den obersten Treppenabsatz polterte. Nadja stand verheult da, packte ihn an der Schulter, zog ihn runter und stampfte mit dem Fuß auf.
»Biste jetzt völlig übergeschnappt oder was?« Wadja versetzte ihr einen Hieb gegen die Brust.
Nadja schlug kraftlos zurück, blökte los.
Wadja schubste sie vom Dachboden hinunter. Stieg selbst hinterher. Zündete sich eine Zigarette an, lud sich den polternden Sack auf den Rücken und schleppte ihn, Rauch durch die Nase ausatmend, schnell zur Mantulinskaja, in den Park. Nadja lief ihm schaukelnd hinterher. Dann ging sie schneller, holte ihn ein und berührte den Sack.
Im Park wartete Wadja, bis ein paar Spaziergänger vorbeigegangen waren, dann warf er den Sack in den Teich.
Das Geld, das im Gehege versteckt war, hatte Nadja vergessen. Aber Matisse hatte sie noch.

Der König

XXXI
Wie war Koroljow zum lebenden Leichnam geworden? Zu Schul- und Unizeiten war er mit beglückender Inbrunst[47 - mit Inbrunst – страстно, всей душой] offen gewesen für die Welt der Gedanken und Gedankengebäude. Die Welt der Menschen fand er lange zu einfach, sie brauchte nichts außer Güte und Ehrlichkeit. Diese Kategorien hatte er stets großzügig für axiomatisch befunden, sie brauchten nicht erforscht zu werden.
Koroljow glaubte aufrichtig, dass das Leben es gut mit ihm gemeint hatte. Im Kinderheim lebte er mit netten Kindern zusammen, und in der Schule hatte er redliche Lehrer. Auch die Erzieher behandelten ihn nachsichtig: wie ein verrücktes, aber begabtes Kind.
Das Dorf Jablonowo bei Kolomna. Im Kinderheim vierundachtzig Kinder. Daher eine behagliche und aufmerksame Betreuung. Die Erinnerung an die Schule ist verbunden mit Physik und Mathematik und mit Wanderungen, auf dem Fluss und zu Fuß in den Wald (mit Paddelbooten durch das benachbarte Gebiet Kaluga, durch Gegenden, wo einst Partisanen gelagert hatten: der Suchtrupp Kassiopeia, waldige Ufer an der Ugra, Sümpfe, Dickicht, weiße, poröse Knochen, kräftige Unterkiefer, in der Handfläche kalte Zahnkronen aus Stahl, eingestürzte Erdhütten, Schützengräben, eine 53-K auf intaktem Fahrgestell, Haubitzengranaten, Ausschmelzen von TNT, Explosion, Ignatz’ abgerissene Hand, ein Tiger-Panzer der Faschisten, bis zum Turm versunken im Morast, Beerdigung der Hand am Ufer, neben dem kleinen Hügel pflanzten sie eine Weide, biegsam, wohlgeformt wie eine Hand, wie Finger).
Koroljow lebte von Rechenaufgaben. In der siebten Klasse entdeckte er in der Zeitschrift Der junge Techniker die Aufgaben für die Aufnahmeprüfungen an der Fernschule des Moskauer Instituts für Physik und Technik und war fortan nicht mehr zu halten. Vor dem Einschlafen las er zwei oder drei Aufgaben – und morgens, noch im Bett, schrieb er die Lösungen auf. In der achten Klasse bot man ihm nach der regionalen Mathematik-Olympiade an, sich am besten Spezialinternat für Physik und Mathematik im Land zu bewerben. Er bewarb sich und wurde genommen. So stand er nun im Ruf[48 - im Ruf stehen – иметь репутацию, считаться] als König.
Für Koroljow waren Erinnerungen das Größte, er lebte von diesem starken reinen Feuer, mit dem ihn seine Kindheit erfüllte. Ein paar Jahre fuhr er in den Ferien und zum Tag des Lehrers in beide Internate. Mit der Zeit erlosch das Feuer. Im Grundschulinternat fühlte er sich schon nicht mehr wie zu Hause, fuhr aber regelmäßig hin, bis es aufgelöst wurde. Dann besuchte er nur noch seine Klassenlehrerin in Kolomna. Im Winter des dritten Studienjahres starb Maria Alexejewna. Ihre Verwandten hatten ihm kein Telegramm geschickt. Erst einen Monat später kam er dorthin, ging auf den Friedhof, setzte sich auf einen Schneehaufen ans Grab. Auf der Umzäunung ließ sich eine Dohle nieder. So saßen sie bis zur Dämmerung und schauten auf das mit Kreuzen vollgestellte, vergitterte Weiß.

XXXII
Koroljows andere Klasse war trotz aller heißen Freundschaftlichkeit mit der Zeit auseinandergefallen, als hätte es sie nie gegeben. Viele lebten übers Land oder die Welt verstreut, die übrigen hatte das Leben sonstwohin verschleppt. Genau das Gleiche war mit seinen Kommilitonen passiert. Sie hatte das Meer des Lebens noch gewaltiger auseinandergetrieben. Die einen vegetierten wie er dahin, andere waren reich geworden, nur wenige hatten in der Wissenschaft bleiben können, ja, und auch das nur um den Preis der Emigration.
Die Erinnerungen an Schule und Unizeiten hatten Koroljow lange genährt. Mit der Zeit ließ die farbliche Intensität der Schulzeit nach, dafür entstand eine distanzierte Faszination, die ihm erlaubte, in kleine Kavernen abzutauchen und geheimnisvolle Kratzer aufzuspüren auf diesem von der Welt gegossenen Gipsabdruck des eigenen Lebens. Genau so ist man nach dem Abschied von einem geliebten Gesicht nicht mehr imstande, sich daran zu erinnern, und dann sind es einzelne Striche, Details und Momentaufnahmen, das feine Profil, das Zittern des Kinns, die Spitzenrüsche, das Taschentuch, das aus dem Ärmel schaut – viele Krümel aus kleinen, unbedeutenden Zügen sind es, die die Großzügigkeit der ganzheitlichen Erscheinung ersetzen.
Wie ein Fährtensucher sich in das Verhaltensrelief der Spuren eines erlegten Tieres vertieft, wie ein Segelflieger seinen Blick auf die glühende, ihn zusammen mit heißen Luftströmungen emporhebende Vulkanlandschaft heftet, so erinnerte sich Koroljow beim Zurückdenken an die Schule weder an seine Kindheit noch an den Alltag noch an den Wunsch, Eltern zu haben, der seine Freunde so gequält und verzehrt hatte. Er versank kontemplativ in die Wanderungen und die Wissenschaft, es hatte ihn zur Erkenntnis gezogen wie andere Kinder zu den Schatten ihrer Eltern, demütig folgte er dem Streben hin zu den Geheimnissen des Verstandes und der Welt.
Aus dem Alltag waren ihm nur einige zufällige Dinge in Erinnerung. Ein abgebrochener Heizkörper, der wie durch ein Wunder die, die auf ihm saßen, nicht verbrüht hatte. Aluminiumlöffel, die gewunden waren wie Archimedische Schrauben, heiß, gerade aus der Spüle – man musste sie an der Essensausgabe sofort ins Glas stecken, die Milchhaut vom Kakao durchstoßen, so blieben sie warm. Mäuseschwänze zwischen Knochen und Adern in der kaliumpermanganatfarbenen Wurstration (ein ornamental-tektonisches Geflecht, wie man es im Papier mit Fasern und eingetrockneten Säften aus Holzadern findet). Polternde Spatzenhochzeiten, die vor dem Fenster das Morgengrauen ankündigten. Und der ekelhafte Geruch von angebrannter Milch im Speisesaal, der ihm das Frühstück vergällte.
Im letzten Schuljahr war Koroljow gezwungen einer Mode zu folgen, zu der Überlegungen zum Thema Spiritualität gehörten, und so machte er sich mit der Bibel vertraut. Schon bald löste er die Fragen um Religion mithilfe folgender Überlegung, die er während eines romantischen Flirts zum Einsatz brachte[49 - zum Einsatz bringen – применить, ввести в действие] (Mondnacht, Kunzewo, die Gegend bei Stalins Datscha, kleine Pfade, der erste, riesenhohe Zaun, weit weg hinter den Bäumen blitzt die Landstraße als Strichellinie aus Scheinwerfern auf, weiße Ruhebänke, auf denen die flammende Wissenschaft der Liebe betrieben wird, trockene Finger streifen am Gürtel entlang, rutschen nach oben, treffen auf zarte Geschmeidigkeit):
»Vielleicht erfinde ich das Fahrrad – aber der theoretischen Physik zufolge ist klar, dass die Möglichkeit einer die Realität voraussagenden Theorie per se ein Gottesbeweis ist, denn die Frage nach dem Aufbau des Weltgebäudes wird formuliert als Suche nach einer Art Homöomorphismus …«
An dieser Stelle wurde ihm endgültig mit einem wissbegierigen Kuss der Mund gestopft – und danach räsonierte Koroljow nie wieder über Religion. Nie wieder.

XXXIII
Die Erinnerungen brachen selten als Lawine über ihn herein. Der Reihe nach durchforstete er die Sinne, ließ sie versuchsweise hinab in den Brunnen der Erinnerung, in dem Granulate von Vertrautem schimmerten.
Das Erste in der Schule war der Geschmacks- und Geruchssinn. Da war der Geruch der Paste im Kugelschreiber, die katastrophal ausgelaufene Mine – die Finger werden an der Hose der Schuluniform abgewischt, die genauso blau ist wie die verschmierten Handflächen, wie die Winterdämmerung in der fünften Stunde. Dann noch der Metallgeruch der Kugel, bis zur Weißglut gejagt von einem unendlichen Diktat im Stile Scheherazades, bei dem eifrig mitgeschrieben wurde, die Nase schon fast auf der Tischplatte: Je tiefer er sich herabbeugte, desto deutlicher nahm er diese Geruchsnuance wahr. So jagten sie, die Wahlfach-Sklaven, beim Knistern der bis zum nervösen Zucken abgehetzten Lampe nicht die besten von Paustowskis Werken Seite um Seite durch, bis die Hand schmerzte und verkrampfte. Von wegen »Wir schreiben, wir schreiben, jetzt sind unsere Finger müd«* – kaum hatte er es geschafft, den Kuli einmal herunterzuschlagen wie ein Fieberthermometer, da kritzelte er schon hastig weiter im Fangenspiel mit der von wollüstiger Deklamation fortgetragenen Lehrerin.
Dann der widerwärtige Gestank des feuchten Lappens, mit dem Syntaxanalysen oder niederstürzende Strahlensatz- Möwen an der Tafel verwischt wurden – zusammen mit eben diesem Gestank.
Dann der geheimnisvolle, anziehende Geschmack von zerbissener Kreide: Unter dem Mikroskop verwandelt sich das gebrochene Schüppchen, das gegen die schlaffe Glasmalerei einer beißenden, glitschigen Zwiebel eingetauscht wird, in ein fantastisches Mosaik aus Planktonmuscheln des frühen Paläozoikums. Das abgestorbene, blendende Weiß einer in der Faust zerdrückten Ebene aus Sedimentgestein: wie Nussschalen verstreute Nullen einer Datierung.
Dann die frühreifen Ausmaße, von denen die Hälfte der Mädchen befallen wurde und denen ein Pantagruel’sches Einheitensystem zugrunde lag. In der Klasse herrschte ein Massenmatriarchat, das nicht so sehr auf ritterlicher Unterwürfigkeit als vielmehr auf physischer Dominanz beruhte.
In den Pausen dann das unbeschreiblich leckere Zusammenspiel aus süßem Sandgebäck und Tomatensaft. Der Ranzen roch immer nach Holzleim, mit dem die Lehrbuchrücken geklebt waren, und nach dem zerquetschten Apfel, den man als Nachmittagsimbiss bekommen hatte.
Außer den Äpfeln gab es in der großen Pause den Geschmack von Fruchtkefir aus einem Riesenfass mit einer zinnoberroten Hieroglyphe als Inventarnummer. Der Gernegroß Saweli trank elf Becher, nachdem er in der Zeitschrift Wissen ist Macht gelesen hatte, dass Sauermilchprodukte Alkohol enthalten.
Dann der Geruch von Holzspänen, die zauberhaft auf die Werkbank niederrieseln wie Pinocchios seidig-durchsichtige Löckchen: Unter dem Hobel singt die Kiefer. Der Geruch des heißen, kurz aufrauchenden Kurvenschnitts im Sperrholz, das unter der auf Hochtouren laufenden Laubsäge nachdunkelt. Der betörende Gestank des Treibstoffs, der in den Tank des leinengesteuerten Modellflugzeugs gegossen wird. Das angesengte Pfeifen des nach einer halben Umdrehung anspringenden Motors, anrollen, abheben, Schraube, Fassrolle, Senkrechtflug, Kurve Richtung Pappel, Millimeterarbeit unter dem Ast hindurch, Kehre, kühner Anflug zum Looping – ausweglos und endlos –, dann Sturzflug in den Boden: der Geruch vom Klebstoff der Längsträger.
Der süß-salzige Geschmack im Mund, wenn man eins auf die Nase bekam[50 - eins auf die Nase bekommen (разг.) – получить удар в нос] und mit geschwollener Lippe den Rotz hochzog: Die Prügeleien fanden bei den Garagen statt, hinter dem Zaun, neben dem durchgerosteten Pobeda. Aus derselben Ecke – der Geschmack der bei einem Treueschwur zerkauten Erde.
Der Herbst riecht wehmütig nach Antonowka-Äpfeln und Blättern, die die Kinder während des Sportunterrichts im Stadtpark zusammenraffen: Husch-husch, die einen beim Fangenspiel, die anderen beim Verstecken. Rita nimmt Anlauf, springt und zieht ihn mit auf einen Haufen flammender Ahornblätter, der an der einen Seite bereits ein wenig raucht: Sich darin zu wälzen ist heiß und weich und unglaublich süß, doch plötzlich ein Blitz auf den Lippen – und Verstummen, und die Jacke ist angesengt, und Scham, und Erschütterung, und dann, im Umkleideraum, ein unfassbares, unbekanntes Getöse in der Brust wegen des perlenen Flecks auf der Unterhose, der unbegreiflicherweise nach dem Kuss aufgetaucht war. (Komischerweise stand ihm beim Widerschein dieses Flecks und bei Perlmuttknöpfen am Hemd immer der »Tran der Uferlaternen«* vor Augen.)
Dann der fade, taubmachende Geschmack des Schnees am Fausthandschuh: auf der Schlittschuhbahn oder beim Endspurt des Fünf-Kilometer-Langlaufs. Die Loipe verlief rund um eine Gaspumpanlage, die durch eine Rohrleitung die Rülpser aus dem Erdinnern von Urengoi nach Uschgorod jagte. Die ganze Schulzeit über heulte in der Anlage ununterbrochen eine schwermütige Trauersirene. Im Sommer war dieses Geräusch eine gute Orientierungshilfe, wenn jemand Pilze oder Beeren sammeln gegangen war und sich verirrt hatte. In der Anlage hatte es einmal einen Zwischenfall gegeben, bei dem zig Hektar Wald abgebrannt waren. Um die trostlose Brandstätte zogen sie nun ihre monotonen Kreise. Mitten in dem verschneiten Zauberwald schürte dieser riesige Aschekrater eine untergründige Angst. Unbemerkte Geister totgeborener Hoffnungen, frühgeborene Ideen, die sich ins Leben drängten, streunten zum wehmütigen Geheul der Turbinen durch die dichten Staketen der verbrannten Stämme. Damals wusste Koroljow nicht, dass die Sache in der Grenzstadt Uschgorod noch nicht erledigt war, dass die donnernde Ladung der Anlage weiter durch die Rohre raste – nach Warschau, Prag, Berlin, Belgrad, Dubrownik, Triest, Venedig – und sich als gelb-blaue Seerosen an den Herdringen in Wohnungen und Palazzi ausbreitete und über Töpfen, Schmorpfannen und Kaffeekochern duftende Dämpfe entließ, die sich auflösten über der Lagune, über den Kanälen und Plätzen des »aufgeblähten Croissants«*, der »ertrunkenen Schönen«*. Der Zivilisation.

XXXIV
Die Bö des großen Umbruchs trübte Koroljows Jugendjahre. Das schmutzige Hellblau ihrer Wände zog sich über ihm zusammen wie der düstere Himmel über einem leeren Rettungsboot.
Manche Erinnerungen brannten. So wie die Handflächen, wenn man im Tarzanflug am Seil von der Turnhallendecke hinabschießt.
Das Klirren eines zerbrochenen Kreidestücks.
Das Poltern der Schulbänke.
Das Dröhnen der Klingel.
Das Feuerwerk.
Das Feuerwerk wurde auf einem unbebauten Gelände abgeschossen, in den Flussniederungen des Setun, wo es eine spezielle Betonbrüstung für Salvenwerfer gab. Sie rannten dicht an die Brüstung. Sahen das Zeichen des Kommandanten. Schauten hoch, dem jaulenden, senkrecht emporschießenden Stängel hinterher, an dem nach kurzer Pause strahlende Astern erblühten, die wie das Fangnetz eines Gladiators ein leuchtendes Spinnennetz in den weiten Himmel warfen. Direkt nach dem Aufblitzen musste man sich hinhocken und die Hände auf den Hinterkopf legen, damit man keine Papphülsen abbekam. In der Nähe bauten sie sich im Frühling oberhalb des Setun Baumhäuser – Laubhütten auf Bretterbohlen, die sie an den Ästen geeigneter Weiden befestigten. Dort alberten sie herum, setzten sich angekokelte halbrunde Saluthülsen als Kippas auf, büffelten Landawschitz Band eins*, knackten die Aufgaben für die Aufnahmeprüfung an der Fakultät für Mechanik und Mathematik, plagten sich mit stereometrischen Übungen aus dem Lehrbuch für Physik und Technik, spielten Préférence, rauchten, lasen Salinger, übten sich an einer Art Gravizap* oder starrten einfach nur in den riesenhohen, leeren Himmel, der sie anlockte wie die Zukunft oder eine entblößte Jungfer.
Oft dachte Koroljow über Folgendes nach: Seine Kommilitonen waren alle ungefähr Jahrgang 1970. Dank der historischen Umstände hatten sie das Denken in einer Zeit gelernt, als es fast nichts zu denken gab, oder besser gesagt, als man keine Zeit dafür hatte: Die Flutklappen des Gefangenenschleppers standen offen, die Mannschaft war von Bord gegangen und hatte kein Rettungsboot dagelassen. Menschen, die um 1970 geboren sind, unterscheiden sich von denen, die man unter normalen Umständen Altersgenossen nennen würde. Nach Dreißig verflüchtigt sich der Unterschied zwar langsam, doch noch ein paar Jahre zuvor waren Menschen Jahrgang 1967 oder 1973 entweder »noch nicht wie sie« oder »nicht mehr so wie sie«. In der Jugend nimmt man ungeheuer beschleunigt Eindrücke und Gedanken auf, die Zeit vergeht langsamer, da sie vor Leben trieft, als befände man sich in größter Gefahr. Daher, so überlegte Koroljow, hatten sie sich zwischen 18 und 20 auf dem Kamm eines Tsunamis befunden, von dem man jetzt weiß, was er umgestürzt hat. Ihre Entwicklung vollzog sich parallel zu dieser turbulenten Zeit, sie waren das erste Gelalle der Epoche – und obwohl sie den Umwälzungen keine Beachtung schenkten, warfen sie doch unwillkürlich einen Blick darauf, betrieben Selbstreflexion und konnten, im Unterschied zu den anderen, das in der Ferne erkennbare Ufer – waren es Felsen, war es das Paradies? – und den tristen, unerreichbaren Horizont freier überblicken. Mit anderen Worten, sie hatten einen einmaligen Bewegungsvektor: entlang der Welle. Ob sie wollten oder nicht, sie projizierten die Entwicklungen und die Zerstörung der Umgebung auf ihre eigene Entwicklung. Insofern konnte man damals durchaus sagen, dass ihre Lebensjahre im gleichen Tempo dahingaloppierten wie die Inflation. Gerade weil die Epoche, die sie hervorgebracht hatte, ihrem Wesen nach destruktiv war, hätte er früher nie gedacht, dass von seiner Generation jemals etwas Bemerkenswertes zu erwarten sei. Koroljow dachte, dass er im besten Fall ein guter Beobachter sei und seine Bestimmung offensichtlich einzig in einer genauen phänologischen Selbstanalyse liege. Doch insgesamt erwies sich die Schaffenskraft dann als genauso stark wie die Selbstzerstörung. Die Freiheit hatte sie entschädigt. Wenn er sich jetzt umschaute und Bilder, Taten und Strömungen betrachtete, so wurde Koroljow klar, dass ein erheblicher Teil des wenigen Guten im Land das Werk seiner Generation war.
Daher würgte ihn die Leere wie ein Krampf und stieß ihm bitter auf.
Rundherum sah er nur Angst. Sah sie mit eigenen Augen, überall. Dachte zunächst, dass dies seiner Einsamkeit geschuldet sei, dass sich der unbewusste Teil seiner Seele einfach langweile und im Aussichtslosen Schmerz suche. Doch bald merkte er, dass das alles nicht so einfach war.
Trotz der völligen Sicherheit, trotz der totalen Abwesenheit äußerer Bedrohung, trotz der endgültigen Unmöglichkeit des Weltuntergangs, der die ältere Generation auf Trab gehalten und der jetzt futsch war, hatte sich überall Angst ausgebreitet. Nackt stand die tägliche Angst in den Augen der Menschen, rundum erstarrte die Angst zu Sülze, sie zitterte wie eine wabbelige, zähe, luftleere Masse. Die Menschen – schon abgestumpft gegen die Verelendung, gegen die qualvolle alltägliche Vergeblichkeit – fürchteten sich, man wusste nicht wovor, aber sie taten es heftig und voller Unruhe. Es regierte das Angsterhaltungsgesetz. Sie fürchteten keine entfernten Instanzen, keine abstrakten Machtstrukturen, sondern den konkreten Alltag, konkrete Verkehrspolizisten, konkrete Niedertracht, konkrete Demütigungen und Übergriffe. Aber es war nicht einfach nur Furcht. Durch diese irdischen Ängste drang ein gewaltiger Strom unfassbaren Grauens. Vor einem war Leere, unter den Füßen war Leere, jeglicher Glaube an die Zukunft ist in der Gesellschaft – und erst recht bei den Mächtigen – längst flöten gegangen. Nur noch Gott schert sich um dieses Land. Und bei allen Versuchen, sich an Ihn zu wenden, stürzen die Menschen in die Leere des Aberglaubens.

Wadja

XXXV
Er liebte sie zwar, behandelte sie aber absichtlich grob. Er war überzeugt, dass es nicht in die Tüte kam, seine Frau zu verpimpeln!
Ob ihrer Wortkargheit nannte er sie liebevoll Stummchen.
Manchmal ging er mit ihr Hand in Hand.
Oder er sagte, scherzhaft seinen Gefühlen Ausdruck gebend:
»Blöd, dass du bekloppt bist, sonst würd ich dich glatt heiraten.«
Zwar war er grob und bisweilen grausam zu ihr (das eine wie das andere in Maßen), konnte aber nicht ohne sie. Wobei ihre Hilflosigkeit sein seelisches Wohlbefinden noch steigerte. Für ihn war es, als gäbe ihm der physische Defekt seines Kindes das Vergnügen eines kleinen Zubrots.
Aber er hatte auch keine Angst, sie zu verlieren. Er war nämlich zu dem Schluss gekommen: Weib oder kein Weib, das ist Glückssache. Glück wiederum ist Schicksal – und das Schicksal ist ’ne Sau, die als Kotelett in der Pfanne landet, wie Skorytsch zu sagen pflegte.
Im Großen und Ganzen[51 - im Großen und Ganzen – в общем и целом, в основном] hatte Wadja vor gar nichts Angst. Seine Furchtlosigkeit war nicht Folge von Schlamperei, sondern von Erfahrung: Er wusste genau, dass man Verstümmelung fürchten musste, aber nicht den Tod. Das Einzige, wovor er Angst hatte, war ausgedachtes Zeug. Wadja hatte Angst vor den Träumen von einem Vater, den er gar nicht hatte.
In diesen Träumen passierte beinahe nichts, ja, es gab auch keinen Vater. Der trat dort weder als Figur noch als Handlung in Erscheinung. Die Relevanz des Vaters war größer als seine physische Anwesenheit: Er war die Quelle.
Die Träume handelten alle vom Unterwegssein und begannen am Straßenrand. Wadja sah den Vater nicht, bekam aber von ihm irgendwie, wie einen Brotkanten, einen Klumpen Schwermut gereicht und die Aufforderung, diesen Ort zu verlassen und sich aufzumachen. An diesem Platz am Wegesrand, eine mit Ziegelsteinen eingefasste, tiefe Feuerstelle mit Holzgestänge und eine Bank aus einem Brett und zwei Holzblöcken, die hinter den Büschen nicht zu sehen und von der windigen Weite des Feldes durch ein kleines Waldstück abgetrennt waren, hatte der Vater einst gelagert. Bevor Wadja sich auf den Weg machte, besah er sich den Platz und packte Gegenstände ein, an die er sich aus seiner Kindheit erinnerte. Die Suche nach wertvollen Gegenständen war noch das Erträglichste an dem Traum. Wadja lief umher, begutachtete den Müll am Straßenrand, hob hin und wieder etwas auf und betrachtete es. Mal war es ein Fächer aus vier verrosteten Belka-Taschenmessern, an denen sprechende Fischköpfe festgetrocknet waren, sie waren unglücklich, hatten perlmutterne Wangen und flüsterten: »Wind, Wind, Wind …« Mal kramte er aus dem Wust von Laub plötzlich ein gleichzeitig heiles und zerbrochenes, doch irgendwie nicht auseinanderfallendes Porzellanmädchen hervor. In ihrer hohlen Ferse rollte klirrend eine Schrotkugel, mit der er aus einem Luftdruckgewehr das Figürchen zerschossen hatte. Mal war es ein Plüschbär mit abgerissener Nase, der ein hicksendes Gejaul von sich gab. Bei diesem jämmerlichen Gejaul begann die vom Vater überreichte Schwermut zu würgen, in die Augen traten Tränen. Mal kam aus einer alten Waschmaschine (so eine mit einem sternförmigen Schaufel-Agitator aus Hartgummi und knarzenden Schleuderwalzen) ein altes japanisches Radio zum Vorschein. Säurepulver ausgelaufener Batterien rieselte heraus, den Sender stellte man mit einem Drehknopf ein, der sich sanft unter der Daumenkuppe dahinbewegte. Foxtrott und Dixieland spritzten heraus, sprangen ins Ohr, und er legte das Gerät vorsichtig auf den Boden des Rucksacks. Das letzte Fundstück war immer eine zerlegbare Holzflöte. Er nahm sie aus einem kaputten Kasten, die Teile ließen sich mit einem Schnappverschluss zusammensetzen – Wadja blies versuchsweise hinein und ging dann im Kombinieren der Töne vollkommen auf. Seine Improvisation dauerte lange, er spielte voller Hingabe, der Klang flog auf wie ein beseelter Gedanke und wurde zur Fortsetzung seines Fleischs, bis er plötzlich stutzte, wie flüssig die Musik aus ihm herauskam, obwohl er doch im Wachen gar nicht spielen konnte. Sogleich verlor er die Zauberkraft und überblies fies: Ein enormes Dröhnen schlug aus dem Schalltrichter, ohrenbetäubend, beängstigend, es durchdrang und erschütterte das Innere, verlegte die Ohren. Und nun folgte Wadja völlig ertaubt der Aufforderung, sich auf den Weg zu machen.
Der Rucksack war voll und ragte hinter seinem Rücken auf. Ein Rucksack voller Leben, all seinen stroboskopischen Momenten, seiner ganzen Dinglichkeit, Scheinbarkeit, Qual, Dummheit, Bosheit, Leere, Wärme – dieser ganze myriadische Kosmos aus Müll türmte sich hinter seinen Schultern, zog sich als Schleppe, schepperte, klapperte, sang und schlurrte dahin. Er lief damit am Straßenrand entlang, voller Bedauern passierte er Haltestellen, weil ihm klar war, dass ihn mit einer solchen Last kein Bus mitnehmen würde. Lkws warfen holpernd zerschlagene Ziegelsteine vom Anhänger ab, jagten höllisch vorbei und lösten Druckwellen aus. Der Rucksack vergrößerte die Segelfläche, und Wadja wurde zur Seite geblasen wie eine Feder.
Gelegentlich tauchten am Straßenrand Berge auf. Der Pfad wurde immer steiler, er wunderte sich schon, wie leicht er mit einer solchen Last auf dem steilen Weg fertigwurde. Da stemmte sich ihm der Abhang plötzlich fast in die Brust, und er schwenkte, auf der Suche nach einem Ausweg, auf die Fahrbahn um, die nicht ganz so jäh anstieg, sondern ein sanftgeneigtes Bett in den Hügel schnitt.
Die Träume endeten alle gleich.
Wadja stieg den Steilhang hinab zur Straße, die jetzt als Fluss weiterlief, sich dann zu einem Meer ausweitete, der hohe Rucksack warf ihn auf einem Hubbel plötzlich nach hinten, er landete im Wasser und schwamm langsam an der Klippe entlang, die immer höher im Himmel entschwand.
Oben auf der Klippe stand der Vater und beobachtete, wie sein Sohn schwimmen lernte. Wadja gab sich große Mühe zu schwimmen, obwohl ertrinken einfacher gewesen wäre. Jeder neue Zug war ihm eine Last – bald jedoch fror das Meer zu, nun schwamm er nicht mehr, sondern brach sich durch das immer dicker werdende Eis, schaffte mit Mühe, sich einen Weg freizustoßen. Er wollte, dass der Vater ihn am Rucksack packte, am Schlafittchen, so gut er konnte, ihn emporschwang, einfing, rettete.
Aber dem Vater gefiel nicht, wie sein Sohn schwamm, und da verließ er Wadja.
Er winkte einfach und trat von der Klippe weg, dann schritt er, riesig und unsichtbar, über das kahle Feld in den silbernen Wald. Es war Spätherbst, der bei jedem Schritt glitzernde Reif bedeckte das vertrocknete Gras, die Stämme und Äste.
Geschickt wie ein Tier erklomm der Vater eine Kiefer, bis zum Wipfel, band ein Seil fest, steckte die Füße durch die Schlinge und stürzte sich hinunter.
Und Wadja blieb unten, eingefroren in das weiße, funkelnde Eis, das sich schon in stacheligen Eisblöcken aufs Ufer zubewegte und den Horizont aufbäumen ließ.
Hinter dem Wald ging die Sonne unter und ließ langsam ihre Strahlenbündel durch die Baumstämme blicken.
Die Leiche des Vaters drehte sich ein wenig hin und her, bog sich, rauschte, schälte mit der Wange durchsichtige Schuppen vom Stamm.
Eine glänzende Krähe kreiste aufmerksam über dem Feld, segelte dicht über dem gefrorenen Acker, besann sich plötzlich, trudelte im Zickzack hinüber zum Wald und setzte sich auf das aufgeklappte Kinn.
Reglos starrte sie auf den dunkelnden Horizont.
Und plötzlich hackte sie, eins ums andere, die Augen aus.

R. W. S. N.
 – Revolution, wir schlafen nie

XXXVI
»Redste jetzt oder nicht?«
»Ja.«
»Schubs doch nicht, hör auf.«
»Du lieber, lieber Keerl …«
»Ich hau dich, Nadja!«
»Hör auf, du bist doch lieb.«
»Wie kommste denn drauf, dass ich lieb bin, Dummerle? Wie heißen se noch … die Tannen da bei dir? Zypressen?«
»Ja. Meer. Zypressen. Ein Flugzeug stand auf der Straße. Uuuuhhhh.«
»Nun hör doch auf zu schubsen. Was hampelste so rum?«
»Laaasss miiich. Wann schenkste mir Glasperlchen?«
»Was willste mit Glasperlchen? Verstreust doch alles, verliersts.«
»Nee, ich werd was mit nähen. Und schenk mir doch Knöpfe.«
»Jetzt lieg doch endlich still, du …«
»Ich werd damit nähen. Ich kauf ein Kissen und näh sie drauf …«
»Von wegen nähen. Ich werd dir was husten, mit deinen Kissen. Red endlich! Erzähl schon!«
»Das Meer … Am Ufer läufste lang, weit und breit …«
»Gleich setzts was, dumme Gans!«
»Am Ufer läufste lang, das Meer singt, Fische liegen da. Riiieesenfische. Sooolche Haauufen! Stiinken wie die Pessst. So Fische habt ihr gar nicht.«
»Nu erzähl schon. Was biste so geknickt?«
»Wie, geknickt? Was meinste, Waadeeenka?«
»Was heulste denn? Flennst rum, na? Warum denn? … Siehste, flennst doch schon wieder! Ist doch alles kein Problem – eins, zwei sind Knöpfe gekauft. Glasperlchen, na die muss man wohl suchen. Aber Knöpfe – hier haste. Komm schon, Dummchen …«
»Wadja, du Lieber, warum? …«

XXXVII
Wadja machte ein Auge auf und kniff es wieder zu. Ein Lichtstrahl schlich an seiner Schläfe entlang und streifte die Wimpern. Im Halbkreis des staubigen, in Sonnenspalten zergliederten Fensters erhob sich der Morgen. Das Fenster ähnelte einem Schaufelrad, das sich mit seinen Platten raschelnd durchs Laub wühlte, und wurde eins mit dem Halbschlaf, tauchte über dem Hauseingang auf, kam über dem Hof, über der Grünanlage ins Rollen und kehrte dann langsam zurück.
Nadja räkelte sich im Schlaf, brabbelte etwas, heftig und aufgebracht, war dann wieder still.
Ohne seine Körperhaltung zu ändern, tastete er nach den Zigaretten. Der Rauch wallte auf, lockte sich, rankte in die Höhe und legte sich als Gaze über die Luke zum Treppenhaus.
Die Asche fiel auf Nadjas Schuh und kullerte unter den Schnürsenkel. Er befeuchtete den Finger, berührte sie, nahm sie auf.
Er blickte Nadja immer an, wenn sie schlief. Wenn sie wach war, wollte er sie nicht so anschauen.
Jetzt versank er in Gedanken: Warum sind Tote schöner als Lebende? Weshalb sind ihre Gesichter, wenn sie nicht mehr durch das Mienenspiel von Wünschen, Ängsten, Freude, Gleichgültigkeit oder Zorn verzerrt sind, so viel klüger, bedeutender, schöner, dass man sie zuweilen gar nicht wiedererkennt? Liegt im Tod etwa die Wahrheit?
Nein, er wusste ganz sicher: Das Leben war wenigstens etwas, jedenfalls mehr als das Loch in einem Gebäckkringel.
Vielleicht verschwinden wichtige Säfte aus Wangen, Muskeln, Stirn und Kinn? Oder wie das Meer bei Windstille besser als bei Seegang, so spiegelt das tote Gesicht den inneren Himmel besser wider?
Wadja kniff die Augen zu, zwang sich dann aber, sie wieder zu öffnen. Er konnte sich Nadja nicht tot vorstellen. Statt ihrer lag vor seinen Augen kein Dummchen, sondern eine fremde Schönheit.
Er schaute aus dem Fenster. Versuchte weiter nachzudenken.
Blöd, dass er sie beschimpft. Blöd, dass er sie anschreit. Und völlig sinnlos, dass er sich deswegen Vorwürfe macht. Dadurch schreit er sie nur noch mehr an.
Wadja hatte keinen Vergleich, doch ihm schien, dass das Nachdenken bei ihm ganz gut klappte. Er glaubte, das lag nicht nur an seinem Kopf, sondern auch an der Geschicklichkeit seines ganzen eher kleinen Körpers und der großen Hände, die er wie versuchsweise an die Stirn hob und zur Schläfe führte. Es war schwer auszudrücken – bemüht, noch ein bisschen weiterzudenken, bewegte er versuchsweise die Lippen, als würde er mithelfen, einen daran festklebenden, schwerelosen Fussel auf die Zunge zu saugen. Das Denken begann für ihn immer mit etwas, das gerade zur Hand war, und entwickelte sich über den Zusammenklang des Körpervolumens mit seiner direkten Umgebung, über eine gewisse Reichweitenstrahlung, die dem Körper erlaubte, sich auf Gebiete auszudehnen, die derart entfernt waren, dass dort, am Rand, Rückströmungen der Zeit erfasst wurden. Wadja war der Meinung, dass sich Raum und Zeit nur hier – um Arme, Augen, Beine herum – aneinander rieben. Weiter davon entfernt drückten sie sich vor ihrem Joch, schlugen Kapriolen, die mal in die Kindheit, mal zu den Toten führen konnten.
Den Morgen widmete Wadja stets dem Raumzuwachs. Das Denken, das sich wie eine funkelnde, fließende Blase bewegte, betrachtete er mit Ehrfurcht, als auserlesenes Vergnügen. So nannte er das Denken insgeheim auch: Traum.
Ihm gefiel das Wort an sich, doch sein landläufiger Wesenskern war schwer zu greifen. In seiner Kindheit hatte er oft den Film über einen Motorradrennfahrer gesehen, der auf Silbertraum an den Start ging. Dieses Motorrad raste dann durch eine Kristallkugel und blähte sie durch das wüste Kreiseln auf wie der orkanartige Atem eines Glasbläsers.
Er wunderte sich, wie wenig das, was er dachte, den Worten ähnelte, mit denen er es Nadja hätte wiedergeben können. Die Welt des Denkens stellte sich ihm insgesamt als jenseitig dar, als etwas, das der Wahrheit näherkam, und deswegen ging er sparsam damit um, verpulverte es nicht durch groben Gebrauch.
Zunächst stellte er sich vor, was sie an diesem Tag tun würden. Oder er erinnerte sich an seine Kindheit. Oder er dachte darüber nach, wie unfähig Nadja doch war, wie man ihr etwas beibringen, wie man sie lenken könnte.
Nach dem Sieg beim Motorradrennen war der Fahrer tödlich verunglückt.
Jetzt wollte er pinkeln. Aber er wusste, dass er sich das verdrücken musste, denn wenn er es sich nicht verdrückte, würde er zweimal rennen müssen. Er atmete ein. Und aus. Und zündete sich noch eine Zigarette an.
Er hatte den Eindruck, dass er gleich etwas noch Angenehmeres denken würde, und versuchte, nicht alles auf einmal zu denken, sondern mit zusammengekniffenen Augen ins Sonnenlicht zu schauen. Die Sonne erfüllte die Wimpern, breitete sich zu einem Strahlenring aus. Er blinzelte.
Ja, heute würden sie wieder nach Glasstücken suchen gehen. Klasse!
Vor zwei Tagen hatten sie endlich entdeckt, wovon Wadja immer geträumt hatte: einen Schatz.
Wadja tastete in der Hosentasche nach dem Flakon, rieb ihn am Ärmel. Stellte ihn vor sich hin und konnte sich nicht sattsehen. Das derbe, jodfarben schillernde Glas leuchtete auf. Trübes Licht erfüllte das Fläschchen und zerstreute den Lichtkranz, der sich um den Zigarettenqualm gelegt hatte. Die Flakons aus dem Schatz waren bunt – weiß, blau, grün, braun, mit abgenutzten Korken, mit Wappensiegeln, Bildern oder Aufschriften wie APOTHEKE, PHARMACIE. Wahre Kostbarkeiten.
Von klein auf hatte Wadja einen Schatz finden wollen, er sah ihn als Teil eines jenseitigen, verborgenen Lebens. Ums Reichwerden ging es ihm dabei nicht. Wadja hielt die zugängliche Welt für eine Hochburg der Unwahrheit. Er war überzeugt, dass die Wahrheit weit, weit weg war, dass sie wie der Hund begraben lag. Er brauchte weniger den Schatz als vielmehr das helle Bemühen, mit dem er ihn suchte: Wenn er sich auf eine Bank stellte und auf die Vordächer der Hauseingänge schaute, wenn er sich unter Bänke beugte, im Trolleybus automatisch die Hand unter den Sitz führte. Er suchte nichts Wertvolles, sondern schwer Zugängliches, dem allgemeinen Blick Verstelltes, gar Weggeworfenes: Ihn interessierte eine Puderdose, die geborsten und bis aufs blecherne Rund ausgewischt war, oder eine Kinderuhr, die er im Sandkasten auf dem Boulevard aufgelesen hatte – all das betrachtete er lange und stellte sich genau vor, wie der Besitzer des Fundstücks sich freuen würde, darüber, dass ein Teil der Wahrheit zu ihm zurückkehrte. Und legte es dann zur Seite.
Wadja kannte sich mit Müllschätzen aus, im Gegensatz zu Nadja. Sie konnte nicht suchen, hatte kein Interesse an Sachen. Er brummte vergnügt, wenn er etwas Wertvolles fand – noch eine Art, seine zornige Liebe zu stillen …
Vor einem Monat hatte Wadja einen Geistesblitz gehabt[52 - j-d hat einen Geistesblitz (разг.) – кого-либо осенило]. Ihm war klar geworden, dass man Schätze dort suchen muss, wo Erdarbeiten laufen, wo ein Rammbock ächzt, wo ein Presslufthammer kracht, ein Bagger den Bürgersteig schändet, Brecheisen und Schaufel auffliegen, wo ein Kompressor rattert – und Füße sich unsicher über Holzplanken bewegen, über Eisenplatten donnern, ins Rutschen kommen, die Fallmeter erahnen.
Wadja erinnerte sich nebenbei, wie ein Kumpel mal aus dem Graben einer Fernwärmeleitung das Kopfteil eines Bettes herausgefischt hatte; als er das Krönchen von dem Bettpfosten abdrehte, hatte er einen Stapel Silberrubel entdeckt. Und er erinnerte sich an diesen Landstreicher aus dem Dorf Pjatikresty am Fluss Semislawka, nicht weit von Moskau, der sein Haus bei einem Brand verloren hatte. Der Alte hatte erzählt, dass sein Dorf unter Emir Mamai Berühmtheit erlangt hatte, durch sieben Heldentaten von fünf Recken, die einer nach dem anderen auf dem Dorffriedhof die letzte Ruhe gefunden hatten. Dieser Alte hatte erzählt: Als Wasserleute ein Rohr durch seinen Gemüsegarten legten, da hätten sie ein Panzerhemd, einen Helm und einen Unterkiefer ans Tageslicht befördert, und man hätte die Archäologen geholt. Nun fuhr der Alte immer mal in sein Dorf, machte aber um seinen Garten einen Bogen – saß entweder am Fluss oder im Wald auf einer Anhöhe, hatte richtig Angst, sich seiner Heimstätte zu nähern, und hatte sich dort irgendwo eine Erdhütte ausgehoben. Und irgendwann war er verschwunden.
Viele Male hatte Wadja Nadja die Geschichte von den Silberrubeln erzählt, weitergesponnen, ihr gezeigt, wie sich das Krönchen nicht abdrehen ließ, wie der Kollege es klopfte, presste, schmierte, in Petroleum einweichte, im Lagerfeuer zum Glühen brachte, dann schüttelte, hämmerte, schlug und die festgerosteten Münzen hervorholte. Und während er ihr das beschrieb, liefen sie die Boulevards entlang, durch verwilderte Klosteranlagen, Lager, Keller, durch die Altbauten in den kleinen Straßen um die Petrowka, im Derbenjowka- Viertel inspizierte er verwaiste Baracken, auf der Leninskaja Sloboda flohen sie vor der Eisenbahnmiliz. Sie zogen umher auf der Suche nach Stellen, an denen unterirdische Parkhäuser, Unterführungen, Straßentunnel gebaut, Rohre verlegt, Fundamente freigeschaufelt wurden. Hatten sie einen solchen Ort gefunden, warteten sie, bis gegen drei Uhr morgens die Nachtschicht zu Ende war.
Nadja gefiel an der Schatzsuche, dass sie draußen übernachteten. Draußen brüllte sie niemand an, draußen war es interessanter. Wadja ließ sie Schmiere stehen, er selbst kletterte über die Stahlpalisade, die aus der Betonschalung emporragte, stieg umständlich in die Baugrube hinunter, über Vorsprünge und Metallleitern, hielt sich an Kabeln fest, die in gewundenen Bündeln aus den Kompressoren quollen.
Blicklos sah sich Nadja nach allen Seiten um, wie ihr Wadja aufgetragen hatte, doch dann vergaß sie es und schaute mit offenem Mund zu, wie er auf dem Grund der Abraumhalde mit einem Brett Erdklumpen zerhaute, hier und dort herumstocherte. Dann wurde sie von einer laufenden Pumpe abgelenkt, die schepperte und schmatzte und durch einen zerlöcherten, prustenden Riffelschlauch lehmiges Wasser aus der klaffenden Grube schlürfte.
Gestern schließlich hatten sie in einem Seitensträßchen des Pokrowski-Boulevard einen frischen Erdhügel entdeckt, heiß ersehnt wie ein Getreidehaufen: Hier wurde eine Grünanlage aufgegraben, weil eine Tiefgarage gebaut werden sollte. Über den Hügel kletterte schon ein Sammler mit Stirnlampe und Schüssel. Hob mit einer Pionierschaufel Erde an, drückte, schüttete, rieb sie durch ein Sieb; Interessantes legte er auf eine Zeitung, Steinchen schleuderte er zur Seite. Von Zeit zu Zeit griff er zum Metalldetektor, klemmte einen Kopfhörer zwischen Schulter und Ohr, führte das Gerät auf dem Hang hin und her und verzog, wenn es summte, das Gesicht.
Wadja ließ er nicht auf den Hügel.
Gab ihm wortlos einen heftigen Schubs. Wadja flog runter, und als er sich von der anderen Seite nähern wollte, kam der Mann angeschossen und stieß ihn wieder runter, machte einen Satz und stand schwer atmend, mit den Armen fuchtelnd neben ihm, fasste ihn aber nicht an.
Wadja stand stur ein wenig abseits. Nadja ging zu ihm.
Morgen würde die Erde abtransportiert. Geschickt zerlegte der Mann die Halde. Wortlos. Schnaubte und spuckte vor Eifer.
Wadja konnte stehen wie ein Fels. So bat er auch um milde Gaben: reglos. Er bettelte nie, sondern kniete sich vor eine Mauer, legte seine Mütze hin, wagte nicht, den Blick zu heben. Nickte nur, wenn jemand etwas gab. Seine großen Hände hingen herab, als gehörten sie nicht zu seinem Körper, er zog sie zu sich heran und legte sie sorgfältig auf den Knien zusammen wie Krebsscheren. Nadja lief währenddessen mit einer Plastiktüte herum, deren Rand sie wie einen Strumpf aufgekrempelt hatte. Sie bekam beim Betteln immer nur wenig. Einmal hatten sie ein ergiebiges Plätzchen aufgespürt – das Hotel Marriott auf der Twerskaja. Hier ließen Übernachtungsgäste, wenn sie von einem Spaziergang zurückkehrten, durchaus mal einen oder gar zehn Dollar springen. Man erzählte sogar von hundert Dollar, die Katjuscha, die Eule, eingeheimst hatte.
Mit starrem Blick kniete sich Wadja um die Ecke vor eine Mauer. Allerlei Volk trieb sich da herum in der Hoffnung auf Beute: Alte Weiblein rasselten mit Kleingeld in Plastiknäpfchen vor teuer bemäntelten Passanten herum, Soldaten tummelten sich an den Eisständen und schickten einen eifrigen Schnorrer los. Dieser lief einen Häuserblock zurück, spähte in der Menge einen Geldgeber aus, hängte sich an ihn heran, schloss im Gleichschritt zu ihm auf und bat in schmeichlerischem Ton um Geld. Der Ausländer begriff nicht, warum ein Soldat ihn so liebevoll ansprach, beschleunigte den Schritt, und vielleicht, nur um klarzustellen, dass er nichts mit dem Soldaten zu tun haben wollte, kramte er Kleingeld aus der Tasche und warf es in Wadjas Mütze. Der Soldat fiel dann aus dem Gleichschritt, machte kehrt, gab Wadja wortlos einen Tritt mit dem Stiefel und hinterließ auf Flanke, Bauch oder Schulter einen weiteren Fußabdruck.
Der Bolschoi Trjochswjatitelski Pereulok ragte empor wie ein Treppchen aus parkenden Autos, bergauf hin zum Boulevard, bergab und nach links zum Fluss, wo sich funkelnd zerzauste Laternennester entlangzogen, wo rote Bremsleuchten auf der Uferstraße dahinflossen und ein geflügeltes Riesenhochhaus* blau über der Weite des Flusses schimmerte, ähnlich einem in den Himmel auffliegenden Vogel. Die Fenster der Häuser verschwammen vor Nadjas Augen, zitterten wie gelbe Kaviarspiegel, in denen sie sich selbst zu erblicken bemühte, doch die ließen es nicht zu und verwandelten sich in grelle, dampfende Stücke Maisgrütze, schwammen satt dahin, zogen sie mit, aber sie sträubte sich, sie musste bei Wadja bleiben, wohin käme sie ohne ihn?

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notes
Примечания

1
Здесь и далее прим. перев. (#litres_trial_promo)

2
in Gegenwart einer Dame – в присутствии дамы, женщны

3
j-n platt machen (фам.) – убить кого-либо, прикончить

4
j-n verdreschen (разг.) – дать кому-либо взбучку

5
in Beschlag nehmen (в т. ч. юр., эк.) – конфисковать, забрать в пользование

6
den Tee in Plastikbechern ausschenken – наливать (разливать) чай в пластиковые стаканчики

7
j-n zur Vernunft bringen – образумить кого-либо

8
nach Luft schnappen – ловить (хватать) ртом воздух

9
gegen j-n / etwas (Akk) zu Felde ziehen (высок.) – энергично (агрессивно) выступать против кого-либо / чего-либо

10
j-m stockt der Atem – у кого-либо перехватило дыхание

11
im Gänsemarsch – гуськом

12
j-s Gruß erwidern – отвечать на чьё-либо приветствие

13
j-m aus der Patsche helfen (разг.) – помочь выпутаться кому-либо из затруднительного положения

14
j-s Vertrauen gewinnen – заполучить чьё-либо доверие

15
j-m nicht über den Weg trauen – не питать в кому-либо ни малейшего доверия, ни в чём не доверять, не доверять кому-либо ни на грош

16
j-n auf Trab halten (разг.) – держать кого-либо в напряжении, не давать расслабиться

17
j-m ins Gewissen reden – взывать к чьей-либо совести, усовестить кого-либо

18
etwas (Akk) ans Licht bringen – вывести что-либо на свет божий, разоблачить, обнаружить, предать гласности что-либо

19
j-m an den Kragen wollen (разг.) – пытаться взять за горло кого-либо, пытаться расправиться с кем-либо

20
mit den Schultern zucken – пожать плечами

21
auf die Schnelle (разг.) – по-быстрому, на скорую руку

22
Purzelbäume schlagen – кувыркаться

23
j-m etwas (Akk) in Aussicht stellen – обещать кому-либо что-либо, обнадёживать кого-либо чем-либо

24
zum Vorschein kommen – появиться, обнаружиться

25
ohne Anlass – без повода, без причины

26
mit Müh und Not – насилу, с большим трудом

27
auf allen Vieren – на четвереньках

28
j-m etwas einbimsen (разг.) — вдалбливать кому-либо что-либо, заставлять кого-либо выучить что-либо

29
intakt sein – быть в исправности (работать исправно)

30
von Zeit zu Zeit – время от времени

31
auf den Zehenspitzen – на цыпочках

32
im Zickzack – зигзагом

33
außer Atem kommen – запыхаться

34
zur Schicht antreten – заступить на работу, заступить на смену

35
in Fahrt kommen (разг.) – войти в раж, разойтись

36
j-m eine Kopfnuss versetzen (разг.) – дать кому-либо подзатыльник

37
j-m die letzte Stütze im Leben sein – быть кому-либо последней опорой (поддержкой) в жизни

38
das große Los – джек-пот, главный приз лотереи, главный выигрыш

39
die polizeiliche Anmeldung (юр.) – прописка, ргистрация в полиции по месту жительства

40
einen Schlaganfall erleiden (мед.) – перенести (апоплексический) удар

41
nach dem Rechten sehen – следить за порядком

42
einen Bogen um j-n machen – обходить, избегать кого-либо

43
neuen Mut fassen – приободриться

44
j-d ist dran (разг.) – подошла чья-либо очередь, чей-либо черёд

45
einen guten Draht zu j-m haben – быть в хороших отношениях с кем-либо, хорошо относиться к кому-либо

46
j-m zugetan sein (высок.) — быть расположенным к кому-либо, быть преданным кому-либо

47
mit Inbrunst – страстно, всей душой

48
im Ruf stehen – иметь репутацию, считаться

49
zum Einsatz bringen – применить, ввести в действие

50
eins auf die Nase bekommen (разг.) – получить удар в нос

51
im Großen und Ganzen – в общем и целом, в основном

52
j-d hat einen Geistesblitz (разг.) – кого-либо осенило
Matisse  Матисс. Книга для чтения на немецком языке Александр Иличевский
Matisse / Матисс. Книга для чтения на немецком языке

Александр Иличевский

Тип: электронная книга

Жанр: Современная русская литература

Язык: на немецком языке

Издательство: КАРО

Дата публикации: 18.10.2024

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О книге: Александр Викторович Иличевский – современный русский писатель и поэт, обладатель многочисленных литературных наград. В 2007 году его роман «Матисс» был удостоен премии «Русский Букер» и снискал высокую оценку как жюри конкурса, так и читателей.

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