Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке

Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке
Zakhar Prilepin
Russische moderne Prosa
Роман русского писателя и публициста Захара Прилепина «Санькя» впервые был опубликован в 2006 году и затем неоднократно переиздавался в России и в большинстве крупных европейских стран. Роман стал финалистом премий «Национальный бестселлер», и «Русский Букер», а премия «Ясная Поляна» присуждена с формулировкой «За выдающееся произведение современной литературы».
«Санькя» – яркая и жестокая книга о современной молодежи, книга о революции, любви и предательстве. Она предельно откровенно изображает динамику политической радикализации и ее фатальные последствия. Автор показал, как меняется личность, как человек переступает через черту, после которой нет возврата. Черту, после которой ты готов самозабвенно ограбить прохожего на улице, убить человека или захватить администрацию в своем городе. И после которой все философские споры и доводы уступают место физической борьбе.
Переведенный на немецкий язык текст снабжен комментариями и словарем. Книга адресована студентам языковых вузов, а также широкому кругу читателей, владеющих немецким языком.

Zakhar Prilepin / Захар Прилепин
Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке


Translated into German by Erich Klein and Susanna Macht
© MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH, Berlin, 2018.
All rights reseved.
© КАРО, 2019

Kapitel 1
Sie wurden nicht auf die Tribüne gelassen.
Sascha[1 - Здесь и далее см. прим. перев. (#litres_trial_promo)] blickte zu Boden: Die Augen waren müde von den roten Fahnenbahnen und den grauen Militärmänteln.
In der Nähe blitzte es rot auf, berührte die Gesichter, manchmal wehte ein Geruch von altem Leinen daher.
Die Grauen standen hinter der Absperrung. Die Rekruten, alle gleich, mittlerer Größe und staubig, bogen lasch die langen Gummiknüppel. Die Milizionäre hatten feiste, vor Aufregung rot angelaufene Gesichter[2 - vor Aufregung rot angelaufene Gesichter – покрасневшие от возбуждения лица]. Und da war der unumgängliche Offizier, zackig, der kampfeslustig in die Menge schaute. Seine Hände lagen frech am oberen Rand der Absperrung, die die Demonstranten von den Ordnungshütern und der ganzen Stadt abtrennte.
Einige schnauzbärtige Oberleutnants, unter deren Jacken sich üppige Bäuche abzeichneten. Irgendwo musste auch der Oberst sein, der Wichtigste und Allergeschäftigste.
Sascha versuchte zu erraten, wer es diesmal sein würde – der oberste Aufsichtsbeamte über das Oppositionsmeeting, zuständig für die Ordnung. Manchmal war es ein trockener Mann mit asketischen Wangen, der die Leute aus dem Untergrund, die auch schon fett geworden waren, angewidert beobachtete. Manchmal war es einer, der selbst wie jemand aus dem Untergrund wirkte, nur noch sehr viel mehr Untergrund als jene, schwerfälliger, zugleich aber auch beweglicher, aufgeweckter, ständig ein Grinsen im Gesicht und mit kräftigen Zähnen. Noch ein dritter Typus war anzutreffen – ein ganz kleiner, der wie ein Pilz aussah, sich hinter den Reihen der Miliz auf flinken Beinen hin und her bewegte …
Sascha hatte bislang keinen einzigen Obristenstern bemerkt.
Ein wenig weiter, hinter der Absperrung, knirschten die Reifen langsam rollender Autos, die schweren Türen der Metro schwenkten endlos auf und zu; mit Staub bedeckte Obdachlose sammelten Flaschen auf und starrten gierig in die Hälse der Flaschen. Ein Kaukasier trank Limonade und verfolgte die Demonstration hinter dem Rücken der Milizionäre. Sascha fing zufällig seinen Blick auf. Der Kaukasier drehte sich um und ging weg.
Sascha fielen die knapp hinter der Absperrung stehenden Autobusse auf, sie trugen ein Wappen mit einer zähnefletschenden Bestie. Die Vorhänge in den Fenstern der Autobusse waren zugezogen, manchmal wurden diese Vorhänge bewegt. Es saß also jemand in den Bussen – wartete auf die Gelegenheit, auszusteigen, heranzustürmen, den kurzen Gummiknüppel in der festen Faust zusammengepresst, auf der Suche nach jemandem, den er zusammenschlagen könnte, mit voller Wucht und mit einem Hieb[3 - mit voller Wucht und mit einem Hieb – с полной силой и наповал].
»Siehst du, ja?«, fragte der unausgeschlafene und verkaterte[4 - verkaterte – похмельный] Wenka, dessen Augen wie ein verkochter Pelmen
aufgequollenen waren[5 - … dessen Augen wie ein verkochter Pelmen aufgequollenen waren – … глаза которого распухли, словно переваренные пельмени].
Sascha nickte.
Die Hoffnung, dass bei dieser Demo keine Sondereinheit
auftauchen würde, war nicht sehr groß gewesen und bewahrheitete sich auch nicht.
Wenka grinste, als würden im passenden Moment nicht böse Geister in Tarnanzügen und mit schweren Helmen aus dem Autobus herausstürzen, sondern Clowns mit Luftballons.
Sascha bewegte sich ziellos durch die Menge, die hinter die Absperrung zusammengedrängt wurde.
»Wie Aussätzige zusammengetrieben[6 - »Wie Aussätzige zusammengetrieben …«  – «Как прокаженных собрали … »] …«
Die Absperrung war aus jeweils zwei Meter langen Abschnitten zusammengesteckt, entlang derer Uniformierte in gleichmäßigem Abstand Stellung bezogen hatten.
Wenka ging hinter Sascha her. Ihre Kolonne befand sich auf der anderen Seite des Platzes, und es war schon Janas klare Stimme zu hören, die Jungs und Mädchen in Position brachte.
Viele von denen, die Sascha, sich vorwärts bewegend, anschaute und berührte, wirkten elend und armselig[7 - wirkten elend und armselig – казались жалкими и бедными]. Fast alle waren aufgebracht und definitiv nicht sehr jung.
Ihr Verhalten hatte etwas von Todeskandidaten, als wären sie aus letzter Kraft hierher gekommen, um zu sterben. Die Portraits, die sie in Händen hielten, an die Brust drückten, stellten die Führer dar, wobei diese Führer ganz offensichtlich jünger als der Großteil der hier Versammelten waren. Lenins sanftmütig lächelndes Gesicht geisterte da herum, ein vergrößertes Bild, das Sascha noch aus dem Schulbuch kannte. Aus den zittrigen Händen der Alten erhob sich das ruhige Gesicht von Lenins Nachfolger
. Der Erbe trug eine Schirmmütze[8 - die Schirmmütze – фуражка] und die Uniform des Generalissimus.
Dünne, auf grauem Papier gedruckte Zeitungen wurden angeboten, Sascha verzog den Mund und lehnte grob ab.
Alles, was hier vor sich ging, bewirkte nichts als Mitleid und Beklemmung.
Einige Hundert, oder vielleicht Tausend Menschen versammelten sich auf dem Platz in der unerklärlichen Überzeugung, ihre armseligen Zusammenkünfte könnten das Verschwinden der verhassten Macht bewirken.
In den Jahren, die seit dem bürgerlichen Umsturz
vergangen waren[9 - In den Jahren, die seit dem bürgerlichen Umsturz vergangen waren, … – за годы, минувшие после буржуазного переворота], waren auch diese Demonstranten endgültig gealtert und niemand hatte mehr Angst vor ihnen.
Freilich[10 - Freilich – Правда], als Kostenko, ehemaliger Offizier und, so sonderbar das klingen mag[11 - so sonderbar das klingen mag – как ни странно], Philosoph, ein kluger Kopf[12 - ein kluger Kopf – умница] und eine höchst originelle Figur, vor vier Jahren begonnen hatte, diesen Haufen an verbiesterten jungen Menschen auf den Platz hinauszuführen, verstanden die nicht immer, was sie zwischen den roten Fahnen und alten Leuten eigentlich zu suchen hatten. Innerhalb weniger Jahre waren die Jungs erwachsen und wegen ihrer dreisten Aktionen und grölenden Schlägereien bekannt geworden. Mittlerweile fand sich in Kostenkos Partei derart viel und bunt zusammengewürfeltes Jungvieh[13 - bunt zusammengewürfeltes Jungvieh – разношерстный молодняк] zusammen, dass man beschlossen hatte, das heutige Meeting mit einer eisernen Absperrung einzugrenzen. Damit es nicht ausbrach[14 - Damit es nicht ausbrach  – Чтобы не разразилось]…
Bisweilen schauten diese kräftigen, abgeklärten Alten voller Interesse und Hoffnung, aber auch mit leichtem Zweifel zu Sascha und Wanja hin.
Der Abgeordnete der patriotischen Parlamentsfraktion trat auf der Tribüne gemessen von einem Fuß auf den anderen. Selbst aus der Entfernung war an seinem glatten, rosigen Gesicht zu erkennen, dass sich der Mann ausgezeichnet ernährte – das unterschied den Abgeordneten von allen neben ihm stehenden geschäftigen Graugesichtigen grundlegend.
Der Abgeordnete trug einen schwarzen, elegant geschnittenen Mantel. Er nahm die Lammfellmütze ab – und stand vor dem Volk mit entblößtem Haupt. Einer aus seinem Fußvolk, das sich hinter dem Abgeordneten drängte, hielt die Mütze in Händen.
Vor der Tribüne waren Transparente mit unsinnigen Sprüchen platziert, die niemanden je zu einer Tat inspirieren würden.
Sascha kniff die Lider zusammen und las.

Es wurde ihnen nicht gestattet, aufzutreten. Die Zeit reiche nicht, stattdessen wurden sie mit sanftem Nachdruck gebeten, nicht länger die Treppe zur Tribüne zu besetzen. Sascha, der auf der vorletzten Stufe stand, schaute von unten nach oben auf den Organisator, der sich erleichtert von Sascha wegdrehte. Der Organisator stellte äußerte Geschäftigkeit zur Schau: »Kommt, Jungs, alles klar. Ein andermal.«
»Was ist mit Kostenko los?«, hörte Sascha im Hinuntergehen die sonore und eindringliche Stimme des Abgeordneten. Der Abgeordnete bemerkte die rote Binde mit dem aggressiven Symbol
auf Saschas Arm und gab die Frage an den Organisator weiter, der sich erleichtert von Sascha abgewandt hatte.
»Er sitzt.« In der Antwort schwang ein bissiger Unterton mit, der allerdings gleich verschwand, als der Abgeordnete gereizt erwiderte: »Dass er sitzt, weiß ich.«
»Es heißt, er bekommt fünfzehn Jahre«, antwortete der Organisator rasch und plötzlich voller Ernst, schon jetzt mit einem gewissen Bedauern über Kostenkos Schicksal.
Während der kurzen Augenblicke, die das Gespräch dauerte, stand Sascha reglos auf der Treppe des engen Aufgangs, er hörte ganz offenbar zu. Eine Stufe weiter unten wartete eine alte Frau, um zur Tribüne heraufzusteigen.
»Also was ist, gehst du jetzt runter, oder nicht?«, fragte sie mürrisch.
Sascha sprang vom Aufgang auf die Straße hinunter.
»Ihr könnt auch unten schreien«, rief sie Sascha noch hinterher. »Für euch ist es auf der Tribüne noch zu früh …«
Wenka, der unten auf Sascha gewartet hatte, verstand ohnehin alles und fragte nichts. Es schien ihm egal zu sein, ob sie auf die Tribüne gelassen wurden oder nicht.
In der Tasche bewegte Wenja einige Dutzend Knallkörper [15 - einige Dutzend Knallkörper – несколько десятков петард]hin und her. Manchmal zog er sie einzeln heraus, drehte sie vor dem Gesicht, als würde er nicht verstehen, worum es sich dabei eigentlich handelte.
»Hast du nichts zu rauchen?«, fragte Saschka. »Ich hab dir doch gesagt …«
»Ja?« Wenja grinste verdutzt. »Und was hast du gesagt?«
Sie zwängten sich aus der Menge wieder heraus zu ihrer Kolonne, die schon angetreten war.
Jana, schwarzhaarig und in eleganter kurzer Jacke, deren Kapuze und Kragen mit Pelz eingefasst waren, ging die Reihen entlang und rief Kommandos. Sie trug blaue, unten leicht ausgestellte Jeans[16 - unten leicht ausgestellte Jeans – слегка расклешенные внизу джинсы], und sie sah bezaubernd aus.
Sascha wusste, dass sie Kostenkos Geliebte war.
Kostenko, ja, der saß im Gefängnis, in Untersuchungshaft[17 - in Untersuchungshaft  – под следствием], er war wegen Waffenkauf verhaftet worden, nur ein paar Maschinenpistolen – doch sie, seine Meute, seine Herde, seine Bande, sie waren nervös in Formation angetreten[18 - sie waren nervös in Formation angetreten – они выстроились нервными рядами], die Gesichter hinter schwarzen Tüchern, mit schwitzender Stirn und tierischem Blick.
Es waren schwer einzuordnende, merkwürdige junge Männer, einzeln aus dem ganzen Land zusammengeholt, durch etwas Unbekanntes miteinander verbunden, durch eine Markierung, ein Mal, das ihnen seit der Geburt anhaftete.
Irgendwo war da auch Matwej – er war derjenige, der in Kostenkos Abwesenheit die Partei leitete. Allerdings stand Matwej heute nicht in der Kolonne, er schaute von der Seite zu.
Jana hob das Megaphon vors Gesicht und holte mit den Armen aus. Ihre Stimme löste sich sofort in einem einheitlichen Schrei auf, zu hören war nur der erste, angestimmte, glockenhelle Buchstabe.
Sascha stand noch neben der ersten Formation, er konnte seinen Platz nicht finden, während sich seine junge Herde schon zum Schrei geöffnet hatte – am Rand seines Blickfeldes sah er verschreckt auffliegende Tauben, den nervös zusammenzuckenden Offizier, der bei der Absperrung der Rekruten stand, die schon die Schlagstöcke in ihre saftlosen Hände nahmen. Sascha brüllte gemeinsam mit allen anderen – seine Augen waren erfüllt mit jener Leere, die den Schrei ermöglicht und seit je[19 - seit je – во все века] dem Angriff vorausgeht. Sie waren siebenhundert Menschen, und sie schrien das Wort »Revolution«.

»Tischin!«, winkten sie ihm. »Komm hierher!«
Er stand in der ersten Reihe, links außen, neben Wenja, dessen verkaterte Augen, die noch kürzlich verkochten Pelmeni geglichen hatten, jetzt rot und fast angebraten aussahen, als wären sie in eine glühend heiße Pfanne gelegt worden.
»Geh weg, Oma!«, lachte Wenja.
Neben der Kolonne stand eine Alte, und in dem Moment, als die Kolonne für einige Momente verstummte, hörte Sascha ihre Stimme, die offenbar nicht zum ersten Mal ein und dasselbe wiederholte: »Idioten! Ihr seid Provokateure! Euer Kostenko sitzt absichtlich im Gefängnis, um berühmt zu werden! Euch haben die Jidden hierher geschickt!«
Ohne die Alte zu beachten, schritt Jana vorbei, in aller Schwärze, mit einem grellen und bloßen Gesicht, wie eine offene Wunde.
»Gottlose!«[20 - »Gottlose!« – «Нехристь!»], schrie ihr die Alte ins Gesicht, doch Jana war schon weg, es war ihr herzlich egal.
Die Großmutter inspizierte mit geschärften Äuglein die Kolonne und entdeckte Sascha.
»Die Juden haben sie geschickt«, wiederholte sie noch einmal. »Da, du bist ein Jud! Ein Jidd und ›SSler‹

Sascha wurde von dem, der hinter ihm stand, angestoßen, die Kolonne setzte sich in Bewegung[21 - sich in Bewegung setzten – прийти в движение, начать двигаться].
»Re-vo-lu-ti-on« wummerte und vibrierte es auf dem ganzen Platz; es überdeckte den Bass auf der Tribüne, die Gespräche der Miliz über Funk[22 - die Gespräche der Miliz über Funk – переговоры милиции по рациям], die Stimmen der übrigen Demonstranten.
»Sojus Sosidajuschtschich!
«, »Jungs« – wurde ihnen von der Tribüne zugerufen. »Ihr seid nicht zum Schreien gekommen. Kommt schon, könnt ihr euch einmal auch normal benehmen …«
Die Kolonne, die ihre schwarz-roten Flaggen schwenkte, bewegte sich Richtung Absperrung, vorbei an der Tribüne. Kompaktes, die Ohren mit stumpfem Schmerz erfüllendes, unglaubliches Gebrüll stand in der Luft.
»Den Präsidenten!«, schrie Jana mit gellender Stimme.
»In der Wolga ertränken!«, antworteten im Echo siebenhundert Kehlen[23 - antworteten im Echo siebenhundert Kehlen – эхом откликнулись семь сотен глоток].
»Den Gouverneur!«
»In der Wolga ertränken!«
»Also, Herrschaften, tut denn niemand etwas …«, warf der Auftretende hilflos ein, und das hier unpassende »Herrschaften«[24 - Herrschaften – Господа] drang bis zu Sascha; es hätte ihn wohl dazu gebracht, zu grinsen, hätte er nicht selbst mit heiserer Stimme so sehr geschrien, dass schon seine Zähne kalt wurden: »Wir hassen die Regierung!«
Alles verfiel in den Rhythmus dieses Brüllens. Vom Schrei schwenkten die Türen der Metro auf und zu, imbTakt desbSchreies hetzten die grauen Jacken herum, zischten die Funkgeräte,bhupten die Autos.
»Liebe und Krieg! Liebe und Krieg!«
»Liebe und Liebe!«, wandelte es Sascha ab, der Jana noch einmalbsah, die sich plötzlich vor der Kolonnebumdrehte, ihre Kapuzebflog davon und fiel zu Boden.
»Wie süß duftet diese Kapuze, und drinnen ist … ihr Kopf«, fiel Sascha ein, und er vergaß diesen unvermittelt auf blitzenden Gedanken sogleich wieder. »Wie ein Honigkuchen aus Tula …« tauchte ein weiterer Gedanke auf, wobei Sascha nicht genau verstand, was er da eigentlich dachte und wozu.
»Ihr sprengt die Demonstration!«[25 - »Ihr sprengt die Demonstration!« – «Вы срываете демонстрацию!»], schrie eine Frau, die offenbar von der Tribüne herab gelaufen kam und versuchte, Jana am Ärmel zu packen[26 - am Ärmel packen – схватить за рукав]. »Der Sojus!«, rief sie beschwörend zur ersten Reihe hin und versuchte, den Jungs in die Augen zu schauen. »Ihr nennt euch ›Sojus Sosidajuschtschich‹! Was schafft ihr denn? Ihr bringt nur Zwietracht hervor!«
»Zum Demonstrieren bist du hierher gekommen? In diesen Pferch?«, fragte Jana und schob das Megaphon brüsk vom Gesicht weg. »Dann demonstriert mal schön. Wir ziehen von hier ab.«
Sie standen schon direkt an der Absperrung – Sascha bemerkte die Augen der Milizionäre, die unruhig die Umgebung absuchten, sowie den Offizier, der etwas ins Funkgerät schrie.
»Ja!«, brüllte er. »Die Sondereinheit[27 - die Sondereinheit – спецназ] soll kommen. Verdammte Scheiße, diese ›SSler‹ sind hier aufmarschiert.«
»Wir sind irr, wir machen euch platt!«[28 - »Wir sind irr, wir machen euch platt!« – «Мы сумасшедшие, мы вас сделаем!»], schrie die tobende Kolonne im Chor, stampfte auf und schwenkte dabei die Fahnen.
Wenka wandte sein Gesicht zur Kolonne, mit dem Rücken zu Polizei und Absperrung stehend gab er die Sprengkörper rasch an die nächste Reihe weiter: »Zünd sie an!«
Die Tribüne schwieg, alle schauten zu der wild brüllenden Formation.
Einige Knallkörper explodierten gleichzeitig, dann flog ein Kanonenschlag Richtung Miliz, es knallte neben dem vor Schreck zusammenzuckenden Offizier und begann heftig zu rauchen.
Sascha sah, wie ein Milizionär, der nicht ganz kapierte, was da vor sich ging, einfach umkehrte und die Straße davonlief, seine Kappe rollte zur Seite.
»Re-vo-lu-ti-on!«, wurde jetzt schon in unüberhörbarer Hysterie geschrien, die Gruppe mit Turnschuhen und zerfledderten Bomberstiefeln stampfte rhythmisch.
Über der Kolonne flammten bengalische Feuer auf.
Sascha hielt die Absperrung in Händen, zog sie zu sich. Von der anderen Seite klammerten sich die erschrockenen Milizionäre daran.
Über deren Rücken hinweg schwenkte ein Offizier seinen Schlagstock und versuchte Sascha am Kopf zu treffen. Sascha wich seinen Schlägen aus; er ließ die Absperrung mehrfach los, um dann wieder danach zu greifen, vorsichtig, als wäre sie brennend heiß.
Der Offizier nahm den Schlagstock in die andere Hand, wirbelte ihn herum, und versetzte Wenka seitlich einen Schlag, dessen Wange sofort grellrot anschwoll.
»Die Fahnenstange!«, schrie Wenja, der sich nach hinten drehte und dabei grundlos grinste. »Die Fahnenstange, hierher!«
Eine Fahne wurde ihm gereicht. Wenja riss mit einer Bewegung den ganzen Stoff ab, schwenkte die Fahnenstange wild durch die Gegend und ließ sie auf den Offizier niederdonnern[29 - niederdonnern lassen – обрушить]. Der drosch gerade voller Begeisterung mit dem gekrümmten Gummiknüppel irgendwem ins Gesicht und sah den Schlag nicht kommen.
Seine Kappe rutschte in den Nacken, sofort floss ein gleichmäßiger Blutstrom über die Stirn und verteilte sich an der Nasenwurzel wie Astwerk über Augenbrauen, Wangen und Augenhöhlen.
Der Offizier schaute nach oben, verdrehte seine blödsinnigen Augen, als versuchte er, die Verletzung zu sehen.
Auf Saschas Schulter lag, wie eine Kopie, noch eine weitere Fahnenstange, das Fahnentuch hing nach unten. Aus dem Augenwinkel bemerkte er weitere Fahnen, die mit ihren Spitzen auf Milizionäre und Rekruten zielten, die ihrerseits die Absperrung festhielten.
Abermals wurde von hinten gegen Sascha gedrängt, so stark, dass er zu fallen drohte. Stürzend hielt er sich an der Brust eines Rekruten fest, der den Schlagstock vertikal in die Höhe hielt und vor Angst zu blinzeln begann – entweder weil er nicht richtig ausholen konnte, oder weil er Angst hatte, zuzuschlagen.
Sascha hielt sich gerade noch auf den Beinen, stieß den Rekruten weg, und hob den Teil der Absperrung, den er zu fassen bekommen hatte, hoch über den Kopf.
Die unablässig brüllende Meute preschte aus dem Pferch hinaus. Die Milizionäre zogen sich zurück und schauten den Laufenden absolut unentschlossen nach. Jemand brachte den am Kopf verletzten Offizier zu einem Polizeiauto.
»Jungs, ich flehe euch an!«, rief noch jemand auf der Tribüne.
Von irgendwo an der Seite liefen schon die Sondereinheitler heran, ein Dutzend Typen im Kampfanzug.
»Drei…«, zählte Sascha – »Vorerst nur drei.«
Sascha warf die Absperrung in ihre Richtung und renkte sich dabei fast seine Gelenke aus. Sie fiel laut scheppernd auf die Straße, flog nicht bis zu den Laufenden. Sascha sah, dass die innehaltenden Sondereinheitler[30 - die Sondereinheitler – спецназовцы] Flüche in seine Richtung ausstießen[31 - Flüche in seine Richtung ausstießen – посылали проклятия в его адрес], verstand die Wörter allerdings nicht. Sie setzten sich abermals in seine Richtung in Bewegung, und Sascha griff sich einen weiteren Abschnitt.
Die geschleuderte Absperrung bedeckte einen Sondereinheitler, der unter dem auf ihn gestürzten Metallstück ganz verdreht dalag. Zwei andere versuchten ihn herauszuziehen.
»Bewahren wir Ruhe!«, wurde von der Tribüne gerufen. »Setzen wir das Meeting fort!«
Die Jungs stürzten vorwärts, den Prospekt entlang. Die Miliz stand machtlos da, wie eine Ehrenwache, und ließ die junge, vor Glück jaulende Bande in die Stadt.
Der ganze Platz strömte regelrecht in eine Fußgängerzone. Das Erste, worauf die in Freiheit Drängenden trafen, waren ein Taxistand an der Straße und Verkaufsstände für Blumen.
Die Verkäufer schnappten die Blumen bündelweise[32 - bündelweise schnappen – хватать в охапку] und machten sich auf und davon. In der Eile warfen die Laufenden – zunächst ohne Absicht, aus Versehen – da eine Vase, dort einen Korb mit Rosen, Nelken und Tulpen um; sofort bekam man aber Lust auf mehr. Als Sascha zu den Verkaufsständen hetzte, war die ganze Straße schon rot, gelb, rosa und bordeaux übersät. Unzählige gebrochene Stängel knacksten unter seinen Schritten.
Sascha ergriff – warum auch immer – einige, etwa drei, vier Sträuße von den noch nicht umgeworfenen Blumenständern und lief eine Zeitlang mit ihnen in der Hand – bis er die Unsinnigkeit seiner Handlung begriff. Als er am Taxistandplatz vorbeirannte, sah er, dass ein verängstigter Taxifahrer aufs Gas stieg und einen Passagier, der sich an der Tür festhielt und sich noch nicht hatte setzen können, einige Meter mitschleifte – jener brüllte durchdringend. Andere Taxis, die ständig hupten, bremsten, fuhren eilig davon.
Sascha überschüttete eine auf dem Boden sitzende armselige Flüchtlingsfrau aus dem Süden samt obligatorischem Säugling im Arm mit den Blumen und wäre beinahe in Wenja hineingelaufen, der vor einem Schaufenster stehengeblieben war, offenbar auf der Suche nach einer geeigneten Waffe.
Wenja entdeckte eine Mülltonne und einen Augenblick später flog sie unter fürchterlichem Krachen in das Fenster.
An diesem Sonntagmorgen waren noch wenig Menschen auf der Straße. Vereinzelte Passanten verließen den Ort, eilig und ohne sich umzuschauen. Ein Mann in blauem Mantel lief aus einem Geschäft und trottete die Straße hinauf. Wenig später tauchte ein Wächter in schwarzer Jacke auf und verschwand sofort wieder hinter den Türen, während er in ein Handy schrie.
Auf der anderen Straßenseite stand ein schönes Auto einer ausländischen Marke – ohne Rücksicht auf die Fußgänger war es falsch geparkt worden. Die Alarmanlage des Fahrzeugs hatte schon eine Weile gequäkt, was vermutlich den Unmut der tobenden Menge hervorrief. Mit überraschender Leichtigkeit kippten einige Jugendliche das Auto zur Seite und dann aufs Dach.
Weiter oben an der Straße standen noch andere Autos – Jungen und Mädchen sprangen in wilder, fast tierischer, zugleich aber stummer Freude auf deren Dächern herum.
Sie waren auf der Suche nach etwas, das lautstark zertrümmert werden könnte, und zogen so, unter Krachen und Klirren, durch die Straßen, anfangs vereinzelt, Auge in Auge[33 - Auge in Auge – один на один] mit der Stadt.
Die Jungs führten ihre Taten ohne jegliche Schreierei aus, mit bösem Ernst, beinahe ruhig.
Unter atemberaubendem metallenem Scheppern fielen einige im Freien stehende Spielautomaten zu Boden.
Irgendwer wackelte am Zaun eines Sommercafés, um ihn umzureißen; von der Abgrenzung wurde eine schöne schwarze Kette abmontiert, sie segelte[34 - sie segelte – (зд.) она полетела] in die bunt angestrichenen Fenster des Cafés.
Einer hatte sich geschnitten und umwickelte die blutende Hand mit einem Stück Seidenvorhang, der samt Gardinenstange aus dem Café herausgeholt worden war.
Kostja Solowyj, ein großgewachsener, erstaunlicher Kerl von merkwürdiger Schönheit – weiße Jacke, weiße Hosen und spitze weiße Schuhe, die verblüffend gut zu seinen spitzen Vampirohren passten – ergriff die schwarze Kette, wirbelte sie fröhlich durch die Luft und ließ sie krachend gegen jede Straßenlaterne, an der er vorbeikam, donnern.
Niemand kam ihm in die Quere[35 - jdm. in die Quere kommen – вставать у кого-либо на пути] – die Kette vollführte wunderbare, schwere Kreise, und wäre nicht dieser verrückte Wirbel ringsum gewesen, hätte man das leise Heulen, das die Kette durch die Kreisbewegung erzeugte, hören können.
In der Auslage des Kleidergeschäftes standen feingliedrige Puppen mit kleinen Köpfen – Schönheiten in Miniröcken und grellen Blusen.
Als das Schaufenster zertrümmert war, wurden die Schönen herausgeholt und in Einzelteile zerschlagen. Die zuletzt Davonlaufenden erschraken beim Anblick der am Boden herumliegenden verunstalteten, bein- und kopflosen Körper.
Trotz allem war es der Miliz offenbar gelungen, einen Teil der Kolonne des »Sojus« abzutrennen und hinter der Absperrung zu halten – Sascha sah, dass nur wenige der Jungs übriggeblieben waren, im Ganzen vielleicht zweihundert Mann. Viele verdünnisierten sich schon in die Höfe hinein, sie verstanden: Das Fest würde nicht mehr lange anhalten.
»Die Bullen!«[36 - »Die Bullen!« – «Менты!»], wurde irgendwo gebrüllt, die Meute drängte die Straße hinauf, schmiss Mülleimer um und warf Schaufenster ein.
Unablässig war das Klirren von zerschlagenem Glas zu hören. Die an diesem Morgen vermischten und fein zermahlenen Farben der Stadt wurden unverhofft grell.
Journalisten huschten durch die laufende Menge mit ihren Videokameras – höchst geschäftig, und, wie es schien, glücklich über das, was vorging.
»Hierher! Schneller!«, trieb ein Kameramann einen Menschen mit Mikrophon an.
Sascha ging mit klarem Kopf vor, andere Gefühle als den Wunsch, zu zerstören und möglichst viel zu zertrümmern, verdrängte er.
Auf der Straße sah er Plüschtiere herumliegen, die als Preis im zertrümmerten und umgeworfenen Spielautomaten aus Glas gedient hatten – rosa und gelb, erbärmlich, als wären sie verloren worden.
Irgendwoher kam ein kleiner Major, der schon im Pensionsalter war, den Jungs entgegengelaufen.
»Stehenbleiben!«, rief er, und schon seinem Schrei war anzumerken, dass er selbst absolut entsetzt war und eigentlich nicht wollte, dass irgendjemand auf ihn hörte.
Ihm entgegen rannte Wenja, der – ohne innezuhalten – in die Luft sprang und den Major gegen die Brust trat. Der fiel um und streckte die Arme von sich.
Sascha blieb abrupt neben dem alten Major stehen, unterdrückte sein Verlangen, ihn aufzurichten, ihm aufzuhelfen, sich sogar zu entschuldigen.
Mit krampfartiger Bewegung griff der Major an die Pistolentasche, nicht um die Pistole herauszuziehen, sondern aus Angst, die Waffe zu verlieren.
Er verfluchte Sascha und brüllte ihn an, und der überlegte es sich anders – anstatt dem Major zu helfen, sprang er auf dessen Mütze, die in einiger Entfernung lag.
»Was machst du da, du?«, fragte der Major, der sich aufsetzte. Er sah ziemlich blöde aus – wie er da auf dem Asphalt saß, ohne Kappe, wirkte wie ein alter Mensch.
»Ihr seid an allem selbst schuld!«, sagte Sascha voller Bosheit. Er wandte sich um, wollte weiterlaufen, wurde aber von Wenja am Ärmel gepackt, der ihn in die Gegenrichtung zog: »Dort sind die ›Kosmonauten‹
. Schnell, wir müssen irgendwo …«
Sie liefen an der Aufschrift »Gaben der Natur« vorbei, auf der – wie abgebrochene Beine – drei Buchstaben weggerissenen worden waren, neben einer in schönem Zickzack zerschlagenen Auslage, stürzten schließlich in einen verpissten Hof, und waren in der Falle.
»Scheiße, ich kenne diesen Bezirk nicht!«, sagte Wenja und grinste. Ohne Pause und nicht weniger fröhlich fügte er hinzu: »Die ›Kosmonauten‹ schlagen dort alles zu Matsch. Sie treten Allen die Scheiße raus. Die haben uns über die Parallelstraße umfahren, jetzt treiben sie alle von oben nach unten, zu den Bullen …«
Sascha suchte die Mauern ab, in der Hoffnung, einen Durchschlupf zu finden.
»Eine Treppe«, sagte Sascha.
Nach oben, auf ein vierstöckiges Haus führte eine Feuerleiter, zu ihr hinaufzuspringen, war allerdings nicht möglich – es war zu hoch.
»Komm, du steigst auf meine Schultern«, schlug Wenja vor.
Sascha blickte ihn an, grinste, fast zärtlich. Denn Wenja hatte nicht gesagt: »Los, ich steige auf deine Schultern.«
»Und du vergräbst dich hier im Sand«, antwortete Sascha.
»Ich werde mich blöd stellen[37 - sich blöd stellen – прикидываться дураком]«, fuhr Wenja fort, und gackerte dämlich herum. »Oh, Tantchen!« Er unterbrach das Lachen schlagartig, bemerkte etwas.
Wenja lief zu einem Fenster im Erdgeschoss und trommelte gegen die Scheibe.
»Tantchen, geh nicht weg!«
Die Frau kehrte zum Fenster zurück, schüttelte den Kopf: »Was ist los?«
»Sie jagen uns! Dort! Sie schlagen und jagen uns! Öffnen Sie das Fenster! Sie jagen uns!« Wenja begann wie verrückt zu gestikulieren. Offenbar hatte er sich noch nicht entschieden, wen er vorspielen sollte: Den weibischen jungen Idioten samt »Tantchen, hab Mitleid«, oder den ernsthaften jungen Burschen, der ein Problem mit dem Gesetz hat: »Frau, helfen Sie! So etwas kann jedem passieren!« Schließlich wechselten sich diese beiden Masken in Wenjas Gesicht ohne jegliches System ab, was bei der am Fenster stehenden Frau nicht gerade Vertrauen erweckte.
»Mist, wenn sie wenigstens eine Oma wäre. Eine Oma hätte Mitleid«, schimpfte Wenja, als die Frau, die im Übrigen nichts antwortete, die Vorhänge zuzog, dann aber neben dem Fenster stehenblieb; man konnte deutlich ihren Umriss sehen.
»Vermutlich hat sie noch andere Fenster auf die Straße hinaus …«, sagte Sascha und unterbrach den Satz; es war sowieso klar, dass sie die Frau, sollte sie gesehen haben, was sie dort aufgeführt hatten, niemals hineinlassen würde.
»Wir haben höchstens noch zwei Minuten …«, überlegte Wenja schnell, der die Antwort offenbar überhört hatte. Er erinnerte sich – »Sanjok, lass es.« »Lass es« war seine Lieblingsformulierung, die viele Bedeutungen hatte; diesmal bedeutete sie: »Jetzt werde ich’s dir zeigen!« – »Dort lief vor uns ein Sportler, ein Läufer. Ein Leichtathlet, nicht wahr. Ein Lauf am Sonntagmorgen. Er lief als Erster in die Sondereinheit. In roten Hosen. Ach, sie haben ihn sofort verdroschen. Einfach Debile, Scheiße nochmal. Der Typ tat was für die Gesundheit.«
Schritte waren zu hören, und Wenja erstarrte mit einem Grinsen im Gesicht, Sascha wollte sich, warum auch immer, hinsetzen oder sogar hinlegen.
Ljoscha Rogow kam in den Hof gelaufen – ein Junge irgendwo aus dem Norden. Aus Sewerodwinsk oder so.
Sie kannten sich noch kaum, doch Sascha akzeptierte Ljoschka schon – er schätzte seine dezidierte, unerschütterliche Ruhe.
»Was steht ihr da rum?«, fragte Ljoscha mit ruhiger Stimme.
»Sind die Bullen schon da?«, beantwortete Sascha die Frage mit einer Gegenfrage.
»Es sind noch hundert Meter bis zu ihnen. Ist das eine Sackgasse[38 - die Sackgasse – тупик]? Im Nachbarhof ist offenbar ein Durchgang. Ich bin gestern hier rumgelaufen.«
Die Straße versetzte sie mit all ihrem Chaos und ihrer Verwüstung noch immer in Erstaunen.
»Sie haben einen Wagen angezündet!«, freute sich Wenja.
Die Luft war erfüllt von Hundegekläff, Sirenen und Pfiffen.
Sascha bemerkte noch zwei weitere umgestürzte Autos, eines davon – siebzig Meter die Straße hinunter, brannte sogar. Alle hielten Abstand zu ihm. Vermutlich deshalb kam auch keine Polizei, man befürchtete eine Explosion.
Das zweite schaukelte zehn Meter entfernt von ihnen auf dem Dach liegend.
Daneben tanzte zur Alarmanlage, die immer wieder in Geheul überging, eine Pennerin – dreckiges Gesicht und feuchte Lippen, als wären ihre Wangen nach außen gekehrt. Das Weib grinste, öffnete den zahnlosen Mund.
Nicht weit entfernt stand ein junger Mann mit Aktenkoffer, der aus irgendeinem Grund Schlüssel in der Hand hielt.
»Es ist sein Auto«, erriet Sascha.
Wenja blieb einen Moment lang stehen: »Hör mal, Landsmann!«, rief er den jungen Menschen, der sein Gesicht nervös verzog. Er drehte sich um.
»Schalt die Sirene aus, das nervt«, bat Wenja, grinste und machte mit dem Daumen eine Geste, als würde er eine Alarmanlage ausschalten.
Sie stürzten in den Hof, rannten, über die Bänke springend, an Pavillons und Rutschen des Kinderspielplatzes vorbei. Fast im Flug streifte Sascha das rostige Skelett der Schaukel und hörte einige Sekunden lang hinter seinem Rücken deren rhythmisches Ächzen.
Hinter den Jungs liefen drei Milizionäre schweren Schritts und forderten sie drohend auf, stehenzubleiben. Sascha, der sich auf den Ruf hin umdrehte, sah, dass der erste von ihnen dem Schäferhund kaum nachkam, den er unter Mühen[39 - unter Mühen – с трудом] an der Leine festhielt.
»Lassen sie den Hund von der Leine oder nicht?«, überlegte Sascha befremdet, als ginge es dabei nicht um ihn. Er entschied, sich nicht mehr umzudrehen.
Die Jungs liefen aus dem Hof zur Straßenbahnhaltestelle, an der nur ein paar Menschen standen – allzu gern hätten sie sich in der Menge verloren.
Von der Haltestelle fuhr eine Straßenbahn ab. Sie liefen ihr hinterher und holten sie nach dreißig Metern ein.
Wenja rannte als Erster und winkte freudig mit den Händen, er rief etwas Unverständliches und machte dabei wütende Zeichen Richtung Straßenbahnfahrerin, deren zufriedenes Gesicht im Rückspiegel aufblitzte.
Die Straßenbahn hielt an, die mittleren Türen des Waggons öffneten sich, die Jungs stürzten in die Tram, Ljoscha Rogow eilte sofort zur Kabine der Straßenbahnfahrerin. Sascha bemerkte, wie er zur Fahrerin etwas sagte, einen Geldschein hinschob, sich entschuldigte und die Tür schloss. Die Tram setzte sich in Bewegung.
Aus dem Hof kamen die Milizionäre gelaufen, an ihren Bewegungen sah man, dass sie sofort errieten, wohin die Flüchtenden verschwunden waren.
Wenja zeigte den wütend Gestikulierenden beide Mittelfinger – plötzlich hielt die Tram ruckartig an.
Die vordere Tür öffnete sich und es stiegen fünf oder sechs Männer der Sondereinheit ein.
Wenja drückte den Notfallknopf, die Tür öffnete sich langsam und mit unzufriedenem Knarren; die brutalen Monster waren schon da und begannen, Wenjas Kopf gegen die Haltestange zu schlagen.
Sascha hielt sofort die Hände über den Kopf. Mit kräftigen Fußtritten stießen sie Sascha auf die Straße.
Auf der Straße schlugen sie ihn – kraftvoll im Genick gepackt – mit dem Kopf gegen die Tram. In den Augen flogen leichte rote Funken. Es war zu ertragen …
Sie stellten die Jungs als »Wäschespinne« auf – zwangen sie, die Hände hinter den Kopf zu legen, die Stirn gegen das Metallgehäuse der Tram zu drücken, und die Beine maximal weit auseinander zu stellen. Damit es besonders weit war, schlugen sie ihnen auch einige Male gegen die Beine.
Die Sondereinheitler wollten natürlich mehr. Sie hatten die Fliehenden äußerst elegant eingefangen, jetzt kochte rohe Wut in jedem von ihnen[40 - … kochte rohe Wut in jedem von ihnen – дикая ярость кипела в каждом из них] – eigentlich sollte jeder Gefangene sofort in Stücke gerissen werden. Nur die neugierigen Gesichter einiger Passagiere, die sich ans Fenster der Tram drückten, hinderten die Häscher daran, die Arme reihenweise auszurenken. Sie traten nervös von einem Bein aufs andere, drückten an den Gummiknüppeln herum, verzogen die Gesichter.
Den Kopf ein wenig zur Seite gedreht, sah Sascha, dass Wenja und Rogow unweit von ihm standen – breitbeinig wie er selbst.
Der Motor sprang an, und der Bus, der die Gleise versperrte, setzte zurück.
»Na, was jetzt, alle einladen?«, war eine Stimme zu hören. »Eine Revolution, verdammte Scheiße, wir bringen euch schon bei, was das heißt.«
»Was, Hundesohn? Eine Revolution willst du?«, wurde irgendwo in Saschas Nähe gebrüllt, doch es galt nicht ihm, sondern – offenbar – Wenja. »In einer halben Stunde wirst du das rote Blut der Revolution pissen!«
Ein Schlag donnerte nieder, noch einer. Jemand konnte sich nicht gedulden, drehte durch.
Sascha drehte den Kopf Richtung Wenja und erhielt sofort einen heftigen Schlag ins Genick; es war, als stünde jemand hinter ihnen[41 - als stünde jemand hinter ihnen – словно кто-то стоял за ними] und wartete nur auf die Gelegenheit, zuzuschlagen.
»Hat man dir nicht gesagt, die Hände hinter den Kopf und nicht bewegen?«
Da kam noch ein weiterer Hund, samt ihm Milizionäre, deren Näherkommen schon aufgrund der immer lauter werdenden, unablässigen Mutterflüche zu erraten war.
Dem Kläffen und Herumgezerre nach zu schließen, konnten sie den Hund kaum zurückhalten. Völlig in sich zusammengesunken wartet Sascha jeden Moment darauf, dass ihm ein Stück vom Schenkel herausgebissen würde.
»Also, was diese Ratten da … aufführen!«, schimpfte einer der Milizionäre, schnaubend und nach Luft ringend. »Die ganze Straße haben sie verschissen … die Geschäfte … Autos … Die sind doch Ungeziefer … Man sollte diese Tiere gleich hier, auf der Stelle, erschießen! … Du, Dreckschwein, was machst du?«, wandte er sich an Wenja, der sich mit dem Kopf gegen die Tram stemmte. »Ha? Dich, du Rotznase, frage ich! Was du machst?«
»Ich stütze die Tram«, antwortete Wenja mit klarer und deshalb unglaublich frecher Stimme. Sascha grinste die rote Seitenwand der Tram an, die die verschwitzte Stirn angenehm kühlte.
»Ach, du …«, hörte Sascha die Stimme des Milizionärs, und da er verstand, dass Wenja jetzt geschlagen würde, schaute er abermals zur Seite. Ein Gummiknüppel, lang wie ein Schlauch, donnerte krachend auf den Rücken des Gefährten.
»Was?«, schrie der Milizionär, der noch immer schwer atmete. »Noch einmal? Was? Nein, antworte du! Nochmal?«
»Geil dich nur auf«[42 - »Geil dich nur auf« – «Позабавься!»], antworte Wenja laut, und das klang nicht wie »ja, noch einmal«, sondern wie »Na los, na los, die Zeit kommt schon noch, und dann werden wir schon sehen …«
Hier trat einer von den Teufeln im Kampfanzug hinzu: »Wie sprichst du denn mit dem Onkelchen Milizionär?«
Er trat – als würde er mit einer Sense ausholen – mit seinen riesigen Quadratlatschen in Militärstiefeln Wenja gegen das Knie, der schlagartig und vor Überraschung glucksend umfiel. Und sofort traten sie ihm mit dem Stiefel ins Gesicht.
»He, hört endlich auf!«, schrie Sascha, von sich selbst überrascht.
Offensichtlich hätte er auch etwas abgekriegt, aber die Straßenbahnfahrerin lenkte ab.
»Herrschaften! Bringt die jungen Leute von der Tram weg. Im Waggon sind Kinder. Wir müssen weiterfahren.«
»Semjonitsch, alle nun einladen oder nicht?«, fragte einer.
»Nein. Der Patrouillendienst bringt sie zur Sammelstelle. Wir ziehen noch durch die Höfe.«
Die Sondereinheit lud ein[43 - Die Sondereinheit lud ein – спецназовцы загрузились], und der Bus, der sich ruckartig von der Stelle bewegte, fuhr weg.
Sie packten Wenja am Kragen. Sascha und Ljoscha forderten sie auf, einen Schritt zurück zu machen. »Noch einen Schritt zurück«. Die Tram knarrte und setzte sich in Bewegung.
Sascha, der unter leichtem Schwindel zu blinzeln begann, schaute zum Himmel.
Wenja und Ljoschka wurden hinterm Rücken Handschellen angelegt …
»Hände zurück!«, wurde Sascha befohlen.
Etwas Kaltes drückte die Hände zusammen.
Sie gingen die Straße hinunter, angetrieben von den Flüchen der Milizionäre. Manchmal heulte ein Schäferhund bösartig auf.
Wenja hob immer wieder den Kopf und versuchte mit feuchtem Pfeifen durch die zerquetschte Nase die Luft einatmend das daraus fließende Blut zu stoppen.
Sascha betrachtete interessiert, was sie und ihre Freunde angerichtet hatten[44 - was sie und ihre Freunde angerichtet hatten – что они и их друзья натворили].
Sie hatten die Straße ordentlich aufgemischt – es sah aus wie eine umgeworfene Einkaufstüte.
Einige abgerissene und zertrampelte Trikoloren lagen auf dem Boden.
Die Straße war mit Glas übersät, Blumen lagen da, auch eine Menge Dreck, der aus den Mülltonnen herausgefetzt worden war – es sah so aus, als wäre auf der Straße ein Regen aus Glassplittern niedergegangen, aus Mist und Blütenblättern.
Irgendwo lagen Stühle herum, auch die Kette von der Absperrung fand sich.
Alle Straßenlaternen waren zerschlagen.
»Sie haben Jana erwischt«, erriet Sascha plötzlich, als er die pelzgefasste abgerissene Kapuze, von der Fäden herabhingen, am Boden liegen sah.
»Das ist Janas Kapuze. Sie haben sie an der Kapuze gefasst.«
Von Zeit zu Zeit kamen ihnen Leute entgegen, von denen manche mit Interesse, manche voller Schadenfreude die Festgenommenen anschauten.
»Gefangengenommen …«, dachte Sascha ironisch. »Ich bin in Gefangenschaft geraten … Und sie können mich einsperren[45 - Und sie können mich einsperren. – И они могут меня посадить.]«, dachte er seinen Gedanken ganz ernst zu Ende.
Das brennende Auto war aus der Entfernung zu sehen. Rundherum hetzten Feuerwehrleute. Aus den Schläuchen kam Wasser, vom Auto stieg schwerer Rauch auf.
»Also, was für eine Scheiße habt ihr da angerichtet!«, konnte sich einer der Milizionäre nicht beruhigen, er war der dickste und sprach kurzatmig. »Für welche Scheiße soll das gut sein? So etwas anrichten, um alles hin zu machen?«
Niemand machte Anstalten, ihm zu antworten.
Ljoscha schaute ruhig geradeaus, und seinem Gesicht war anzumerken, dass er es nicht für notwendig hielt, mit dem Fragenden zu sprechen.
Sascha hätte antworten können, aber die zerschlagene Lippe brannte – und er leckte ununterbrochen Blut.
Wenja schien hingegen nicht einmal die gebrochene Nase aufzuregen, und glucksend fragte er: »Was wurde angerichtet?«
»Das alles, habt ihr das angerichtet?«
»Wer soll das denn angerichtet haben?«, fragte Wenja nach, als würde es ihn ernsthaft beschäftigen.
In diesem Moment schwenkte eine Kamera direkt auf Wenja, und der Milizionär drängte die Journalisten fluchend zur Seite.
»Hör mal, bind mich los, damit ich wenigstens das Blut abwischen kann«, nützte Wenja die Situation aus. »Sonst brummen sie euch Gewalt gegen einen Minderjährigen auf[46 - aufbrummen – (зд.) приписать]. Meine Nase ist gebrochen. Ich werde Beschwerde gegen euch einreichen[47 - eine Beschwerde einreichen – подать жалобу, (зд.) написать заявление].«
»Ich scheiß auf deine Beschwerde. Verstanden?«, brauste der Milizionär auf. »Schreib nur, das ist mir egal. Ich werde dir auf der Station noch den Arsch aufreißen.«
Wenja spuckte rot aus und verstummte.
Die Jungs des »Sojus Sosidajuschtschich« wurden aus dem Torweg abgeführt – manchmal drei, vier Leute, manchmal gleich zehn auf einmal.
Fast alle Verhafteten waren geprügelt worden, hatten rote, blutige Ergüsse, schwer verkrustete Augen, aufgeschwollene Nasen und zerschlagene Lippen.
Ein etwa vierzehnjähriger Junge, der ganz blass war, mit zitternden Backenknochen, einknickenden Beinen und einem dicken, schmutzig-blutigen Klumpen im Genick bot einen schrecklichen Anblick. Er wurde am Arm gestützt.
Bei vielen war die Kleidung zerrissen. Man konnte die jugendlichen, dünnen Körper sehen.
Sascha kannte sie alle – wenn nicht dem Namen nach, so zumindest vom Aussehen[48 - wenn nicht dem Namen nach, so zumindest vom Aussehen – если не по имени, то по меньшей мере в лицо].
Irgendwer versuchte herumzualbern, aber die Milizionäre brüllten durchdringend, und befahlen, das Maul zu halten[49 - das Maul zu halten – закрыть рот, заткнуться].
Kurz darauf wurde noch ein ganzer Haufen »in Gefangenschaft« genommen, sechzig, siebzig Personen. Der Großteil war ohne Handschellen.
»Los, unseren nehmen wir auch die Armbänder ab«, sagte der Milizionär mit Atemnot zu seinen Kollegen.
»Wozu?«, fragte einer der Untergebenen.
»Das müssen wir.«
Der Untergebene zuckte verständnislos mit den Schultern, und der Vorgesetze musste es erklären: »Verprügelt haben sie die ›Kosmonauten‹, aber wir müssen sie am Posten abliefern. Der da, bei dem ist vielleicht die Nase gebrochen, das müssen wir dann rechtfertigen. Diese Scheiße braucht keiner. Verstanden? Wir bringen sie zur Sammelstelle – und Tschüss.«
Sie holten Saschka, Ljoschka und Wenja aus der Menge, die sich gebildet hatte, um ihnen die Handschellen abzunehmen. Sie führten sie lange herum, fanden die Schlüssel nicht, und fluchten leise.
Sascha leckte seine Lippe ab. Wenja gelang es nicht, das Blut zu stoppen, es trocknete auf seinem Bart zu einer schwarzen Kruste. Ljoschka beobachtete alles aufmerksam und behinderte sie ganz offensichtlich beim Abnehmen der Handschellen, indem er hin und her ging und die Hände zurückzog.
»Arschloch, steh ruhig!«, schrien sie ihn an. Ljoschka erstarrte.
»Vorwärts, Laufschritt Marsch!«, befahlen sie ihnen.
Die Jungs trudelten im Laufschrit[50 - im Laufschritt – бегом]t zu den ihrigen, die – in einer Entfernung von dreißig, vierzig Metern – vorweggingen. Die Festgenommenen wurden von Leuten in Armeemänteln und mit Kappen dicht umstellt.
»Wir müssen abhauen«[51 - »Wir müssen abhauen« – «Надо валить»], sagte Ljoschka leise, als sie sich von den Männern vom Patrouillendienst, die die Handschellen in ihre Gürteltaschen packten, entfernt hatten.
»Probieren wir’s«, antwortete Wenja.
»Los«, sagte Sanja, und sie tauchten – als könnte es gar nicht anders sein – leicht und frei – in die nächste Gasse ab, auf halber Strecke zu den Gefangenen, die schon in einer Kolonne zusammengetrieben waren.

Als sie an Geschwindigkeit gewonnen[52 - an Geschwindigkeit gewinnen – набирать скорость] hatten, hatte Sascha ein Gefühl, als würde er auf einer Schaukel immer höher und höher gezogen und schließlich losgelassen.
In der Nähe blitzte eine Rasenfläche auf (fast wäre er hingefallen, er stützte sich mit den Händen wie ein Affe ab, riss sich die Handfläche am Schotter auf, was für ein Schotter, woher?), ein Fenster, noch eins; ein Kinderwagen, eine Frau, die ihn schiebt (die vor Wenjas vertrocknet-blutiger Visage zurückschreckte) und um die Ecke bog, ein aus dem Hof fahrendes Patrouillenauto der Miliz (»… nicht bemerkt? Hätten ihnen direkt … in die Hände laufen können …«), eine Bank (warum auch immer quer über die Straße), ein Zaun (»Komm nicht drüber … zu hoch«).
Sekündlich schien ihm, die Bewegung der Schaukel müsse jetzt, gleich jetzt ihren Höhepunkt erreichen, und ihn jemand am Genick packen und zurückreißen, unaufhaltsam.
… Sascha sprang von der Mauer und fiel, überschlug sich.
»Wirklich, es ist sehr hoch, wie bin ich da hinauf …«
Daneben fiel – warum auch immer auf allen vieren – Wenja herunter, mit seinem schwarzen, struppigen und blutigen Bart.
Nur Rogow stand auf den Beinen, setzte sich und richtete sich sofort wieder auf.
Rogow fasste Wenja am Kragen, der stampfte mit den Beinen – stand auf und lief weiter.
Hustend und schnaubend – lange, zähe, süß-saure Speichelfäden hinter sich herziehend – stürmten sie durch die Höfe, bis sie keine Kraft mehr hatten und sich völlig erschöpft im Eingang einer »Chruschtschowka«
verstecken konnten.
Sie knieten auf allen vieren, mit trüben Augen, geschlossenen Mündern, versuchten vergeblich zu atmen. Aus dem Mund troff Speichel. Jemand betrat den Eingang, aber es war ihnen nicht peinlich …

»Sohn, du …warst in Moskau?« Mutters Stimme klang durch das Telefon verzweifelt und traurig.
Sascha hätte am liebsten sein Gesicht zerkratzt, als er diese Stimme hörte.
»War ich«, antwortet er dumpf, und zog dabei die zerschlagene Lippe hoch, weshalb das Wort »war« wie »ar« klang.
»Ihr seid alle zur Fahndung ausgeschrieben«[53 - »Ihr seid alle zur Fahndung ausgeschrieben« – «Вы все в розыске!»], sagte seine Mutter, und in ihrer Stimme klang noch die Hoffnung durch, dass Sascha sie umstimmen könnte, sagen würde, all das sei nicht wahr und er habe nichts Schlimmes gemacht.
»So … ein Unsinn …«, antwortete er.

Kapitel 2
Sascha trennte sich von Wenja und Ljoschka an der Metro. Sie hatten entschieden, dass sie einzeln weniger Verdacht erregen würden.
Er fuhr aus Moskau in seine Provinzstadt – fünf hundert Werst von der Hauptstadt entfernt – mit der Elektritschka
, oder, wie es seine Freunde nannten, mit dem »Hundefuhrwerk[54 - mit dem »Hundefuhrwerk« – на перекладных собаках]«. Er saß einsam in der Ecke des Waggons, bisweilen schauderte es ihn beim Gedanken an das kürzlich Geschehene, dann wieder erfasste ihn erneut der Rhythmus der Ereignisse, wenn alles klirrt und zerbricht. Sascha hörte sich in diesen Rhythmus hinein, es fühlte sich gut an.
Die Stadt hatte sich als schwach erwiesen, wie Spielzeug, sie zu zerbrechen war genauso sinnlos wie Spielzeug zu zerbrechen: Drinnen war nichts – es war nur leeres Plastik. Und das kindliche Gefühl des Triumphes, dieses überwältigende Gefühl, die Dinge im Griff zu haben, kam daher, dass alles viel einfacher war, als es schien …
Immer wieder kamen Kontrolleure vorbei, Sascha ging auf die Plattform, beäugte durch das trübe Glas ihre blaue Kleidung, die strengen Gesichter. Beim nächsten Halt lief er über den Bahnsteig am Waggon mit den Kontrolleuren vorbei und setzte sich wieder in die Ecke.
Manchmal saugte er an der zerschlagenen Lippe, sie brannte mittlerweile schon nicht mehr so schmerzhaft – sie heilte wie bei einer Katze.
Der Zug schien lautlos zu fahren, Sascha hörte nichts.
Hinter dem Fenster zogen Verwahrlosung und Trostlosigkeit vorbei. Er spiegelte sich im Glas – kurze Haare mit einem widerspenstigen Schopf, unrasiertes Kinn, dunkle Haut, die Stirn in frühen Falten … Ein gewöhnliches Gesicht.
Sascha kam in seiner Stadt an, die Türen des Zuges klappten hinter ihm zu, als wäre er ein Überbleibsel, das einfach abgeschnitten wurde.
Den blödsinnigen Gedanken, im Treppenhaus würde schon ein Hinterhalt auf ihn warten, verscheuchte er (»… da sie im ganzen Lande Fallen errichtet haben«), und lief ins Haus.
Das Schloss machte das übliche Geräusch, ein weiches Klicken. Die Tür ging auf.
Die Mutter arbeitete in der Nachtschicht, die Wohnung war leer.
Sascha rief einen Bekannten an und bat ihn, ihn ins Dorf zu bringen. Der Mann antwortete missmutig: »Ich fahre heute«.
Er hinterließ der Mutter einen Zettel: »Mama, alles in Ordnung«.

Zum Dorf kam er unter dem üblichen Gerumpel. Die »Kopeke« schepperte, auf der Windschutzscheibe hing statt des Zulassungsscheins ein kleiner Kalender des aktuellen Jahres; die Jahreszahlen in fetter Schrift sollten die Verkehrshüter[55 - die Verkehrshüter – стражи дорог, сотрудники ДПС] täuschen. Auf dem Weg ins Dorf sahen sie nur einen Posten, der Milizionär schaute angewidert Richtung »Kopeke« und drehte sich weg.
Der Mann schwieg den ganzen Weg über, horchte manchmal auf den Motor, der die unterschiedlichsten Klappergeräusche von sich gab. Die Abfolge dieser Geräusche erschien Sascha willkürlich. Der Mann aber, so schien es zumindest, konnte alle Bestandteile dieser Kakophonie unterscheiden.
Als sie am Posten vorbeikamen, verkrampfte der Fahrer ein wenig, seine Augen wurden schwerer, er hielt das Steuer fester und konzentrierte sich allein auf die Straße, da er befürchtete, er könnte den Milizionär mit seinem Blick streifen – als wäre es der Leibhaftige höchstpersönlich. Einen Augenblick später war der Fahrer wieder ruhig. Und Sascha vermutlich auch.
Bald nach dem Posten ging die Asphaltstraße in einen Feldweg über. Dieser Feldweg lief, vorbei an Gärten und durch zwei ruhige Dörfer, in denen es nicht einmal Hunde gab, auf einen Fichtenwald zu. Im Wald war es finster. Die über einer ehemaligen Schmalspurbahn verlaufende Straße war eine Folter, es tat regelrecht weh, wenn das Fahrzeug gegen ihre harten Rillen prallte.
Die »Kopeke« irrlichterte mit einem Schweinwerfer in die Gegend, der zweite gab gerade ausreichend Licht für sich selbst. Im Lichtkegel bogen sich Äste mit zitterndem Laub. Angst vor Dunkelheit und Bäumen von irgendwo aus der Kindheit überkam ihn, Sascha zündete sich eine Zigarette an – es verging wieder.
Er erinnerte sich daran, wie er dem Vater einmal beim Mähen geholfen hatte, Sascha war damals etwa zehn. Eigentlich mähte der Vater, wenn er aber eine Rauchpause machte, unternahm Sascha seine Mähversuche, sonst rechte er das vom Vater gemähte Gras in Reihen. Die Dämmerung brach herein, sie hätten mit dem Lastwagen abgeholt werden sollen, doch niemand kam. Der Vater zündete ein Feuer an. Sascha sammelte Äste, er hatte Angst, sich vom Feuer zu entfernen. Der Vater aber verschwand von der Wiese in den Wald, Sascha hörte voller Angst das Knacken der brechenden Äste; plötzlich erschien der Vater wieder, seine Beute war reich. Das Feuer flammte auf, das Geäst knackte.
Jetzt kommt diese Wiese … Hier ist sie.
Der Lastwagen war schließlich doch noch gekommen. Der Vater sagte zum Fahrer: »Ich werde hier übernachten.« Als sie wegfuhren, blickte Sascha aus dem Fenster des Lastwagens. Der Vater stand vom Feuer abgewandt. Sein Gesicht konnte Sascha nicht sehen.
»Was? Was wäre gewesen, wenn du’s gesehen hättest? … Was hättest du gesehen?«
Die Stimme war ironisch, ja erregt. Sascha mochte diese Stimme nicht und antwortete ihr nicht. Einen Moment lang zog er die Augen zusammen und versuchte sich abzulenken.
Die verdreckte Windschutzscheibe. Der Kalender. Die abgeschlagene Sonnenblende. Das Innere des Handschuhfachs mit der abgebrochenen Klappe. Sascha legte die herausfallenden Streichhölzer zweimal zurück, dann warf er die Schachtel nebenden Schalthebel. Die Bartstoppeln des Fahrers.
Im Dorf verrottete langsam das Haus des Fahrers.
Saschas Großvater und Großmutter lebten auf dem Dorf, die Eltern des Vaters. Er hatte sie ein Jahr lang nicht gesehen. Weder im Herbst noch im Winter konnte man ins Dorf fahren, auch im Frühjahr war es fast unmöglich – es sei denn, der Mai war trocken und warm. Es sei denn – mit einem Traktor. Selten wagte sich jemand mit einem anderen Transportmittel dorthin.
Er wollte nicht mehr rauchen, die Zigaretten verkürzten nicht wie sonst den Weg, sondern waren wie dieser fad und geschmacklos; als das Auto über eine Rille des schmalen Weges holperte, fiel Asche auf die Hose, und der Fahrer sah mit scheelem Blick, wie Sascha leuchtende Fünkchen von sich wischte.
»Trottel«, beschimpfte Sascha sich selbst und bedauerte die durchgebrannte Hose, die nicht zu Ende gerauchte Zigarette warf er aus dem Fenster.
Sascha rutschte den Sitz hinunter, fast liegend streckte er die Beine und versuchte wenigstens für kurze Zeit, den von der Fahrt ermüdeten Körper zu entspannen. Eine weitere Unebenheit schleuderte Sascha zum Fahrer hin. Sascha wollte sich entschuldigen, überlegte es sich aber anders, und starrte aufrecht sitzend geradeaus.
… Im Kopf sammelten sich ziemlich wirre und für Sascha gleichgültige Dinge. Im nächsten Moment bemerkte er verwundert dieses Gekrabbel seiner – wie er meinte – Gedanken; eine flaue Wirrnis unkontrollierbarer Bemerkungen, eine Verbindung von etwas Undeutlichem mit schon Vergessenem.
Einsamkeit, so schien es Sascha, ist gerade deswegen unerreichbar, weil man in Wahrheit nicht mit sich selbst allein bleiben kann – unberührt von den Reflexen, die in dir jene hinterlassen haben, die an dir nur vorbeikamen, ohne besondere Beleidigung, Fehler und Verletzungen. Was sollte das für eine Einsamkeit sein, wenn der Mensch ein Gedächtnis hat – es ist immer da, streng und ruhig.
»Was ist das für eine Einsamkeit«, überlegte Sascha, »wenn alles, alles in dir und von dir Erlebte einem Eisverkäufer gleicht, der alles verkauft hat, mit seinem Bauchladen dennoch weiterzieht, ihn dann neben sich abstellt, wenn er sich schlafen legt, kalt …« Er grinste verschmitzt über sich selbst. »Irrsinn. Was für ein Irrsinn«, sagte eine Stimme. Sascha antwortete wieder nicht, aber dieses Mal stimmte er zu.
Das Dorf war dunkel, in vielen Häusern brannte kein Licht.
Für Sascha gab es keinen Grund, irgendwie lebendiger zu werden, nur weil er an den Ort zurückkehrte, an dem er aufgewachsen war.
Er hatte schon seit langem den Eindruck, es sei schwierig, bei der Rückkehr ins Dorf Freude zu empfinden, so trost- und farblos war, was sich dem Blick darbot.
Einige Dorfbewohner, die der »Kopeke« am Straßenrand langsam entgegenkamen, blieben stehen und schauten ins Auto. Wer ist das, zu wem kommen sie? Sascha versuchte, die Herumstehenden nicht anzuschauen, um nur ja niemanden zu erkennen. Alles war fremd.
Der Fahrer fuhr zu seinem Haus.
»Findest du hin?«[56 - »Findest du hin?« – «Дойдешь?»] Das klang kaum wie eine Frage, eher wie eine ausdruckslos einfache Feststellung.
»Ich finde den Weg«, sagte Sascha, der sich Mühe gab, es nicht wie eine etwa beleidigte Antwort klingen zu lassen (was ihm schlecht gelang), er kroch aus dem Auto.
Das Geld für die Fahrt hatte Sascha schon in der Stadt gezahlt. Er streckte sich und ging auf der im Dunkel versunkenen Straße Richtung Elternhaus.
Der Weg war verwüstet und voller Dreck[57 - Der Weg war verwüstet und voller Dreck. – Дорога была разбита и грязна.]. Aus manchen Häusern wurden Abfälle, Essensreste und Spülwasser direkt in die Gräben beim Haus gekippt, die Hühner pickten auf, was sie aufpicken konnten, der Rest verrottete friedlich vor sich hin. Sascha mied die Gräben, er erkannte sie am Geruch und der widerwärtigen Weichheit der feuchten, ringsum verfaulten Erde.
Den Weg zum Haus, das in der benachbarten Straße lag, beschloss er durch den Gemüsegarten abzukürzen. Um all dem Bedrückenden aus dem Weg zu gehen, war es außerdem besser, sich dem Haus unbemerkt, über den Hinterhof zu nähern, und sich so allmählich an Verfall und Verwahrlosung zu gewöhnen.
Er bog in den Trampelpfad ein, die Beine rutschten im Dreck auseinander. Sascha fuchtelte mit den Armen und fluchte leise …
Vergeblich wehrte sich Sascha gegen den Schmutz. Auf dem Weg durch den Gemüsegarten rutschte er trotzdem aus, besudelte sich, die letzten Meter bis zur Gartentür schwankte er, es war unvermeidbar, in den schwarzen Matsch zu treten.
»Und du hast auch nicht vergessen, wie der Riegel aufgeht?«, versuchte Sascha sich aufzumuntern, zusammenzureißen. Mühsam zwängte er die Hand in einen Schlitz der Gartentür (als Kind ging das leichter – mit den feinen Pfötchen) und schob den Riegel zur Seite.
»Nicht vergessen«, wisperte Sascha, und spielte sich selbst gekünstelte Freude vor: Ein letztes Mal gab er seiner Stimmung – wie einer Schaukel – einen Schubs, aber da war keine Freude, nichts.
»Nicht vergessen«, wiederholte er nochmals laut. Dieser Satz gehörte schon nirgendwo mehr hin, bezog sich auf nichts, er musste einfach etwas sagen, schloss die Gartentür und bewegte sich über den Hof zwischen den beiden, vom kranken Großvater nicht mehr genutzten Scheunen und der Getreidedarre. Weiter weg befand sich der Stall, in dem die Großmutter schon ein Jahr lang keine Ziege mehr hielt, seit drei Jahren gab es keine Schweine mehr, schon vor zehn Jahren hatte man die Kuh Domanka von dort auf den letzten Weg geführt. Aus dem Stall kamen keine Gerüche von Leben oder Mist, keine zottige Seele trampelte mehr mit den Hufen, niemand schnaufte, keuchte laut oder erschrak vor Saschas Schritten. Es roch nur nach Feuchtigkeit und Schmutz.
Sascha blickte sehnsüchtig auf das Haus: die kleinen Fenster waren dunkel. Weich und vorsichtig auftretend ging er den verfallenden Zaun entlang, neben der ziegelroten Hauswand, die auf der linken Seite dunkel aufragte, und blieb dann, warum auch immer, an der Hausecke stehen – hinter der Ecke befand sich die Haustür. Am Eingang stand eine Bank, Sascha erinnerte sich daran und wusste, dass die Großmutter immer auf der Bank saß, die weichen und müden Hände in den Schoß gelegt[58 - die weichen und müden Hände in den Schoß gelegt – сложив мягкие и усталые руки на коленях].
Auf der Straße neben dem Haus stand ein Kind mit einer Gerte. Während es etwas murmelte, peitschte es mit ihr in die Lache und zischte, hüpfte von den Spritzern weg.
Sascha machte noch einen halben Schritt.
Ja, die Großmutter saß auf der Bank – gleichmütig und regungslos, es schien, als würde sie gar nichts sehen. Und aus dem Verhalten des Kindes, seinem Spiel, seiner Stimme war zu schließen, dass es auch nichts sah, sich an die auf der Bank sitzende Großmutter gar nicht erinnerte. Die Großmutter und das Kind befanden sich gleichsam in unterschiedlichen Sphären.
Die Straße war leer, dunkel und voller Dreck, wie alle anderen Straßen des Dorfes. Hinter dem mit wildem Unkraut überwucherten Garten war die nachbarliche Ordnung zu erkennen, dort leuchteten einige Fenster gelb. Die Sonne ging gerade unter, war schon fast verschwunden.
Das Kind fuchtelte mit der Gerte herum und trampelte auf der Stelle.
Die Großmutter blickte, ohne zu blinzeln, über das Kind, über den Garten, über die Bäume hinweg.
Das Dorf ging seinem Ende entgegen und starb aus – das war in allem zu spüren. Umgewühlt verzog es sich, verschwand – wie ein dunkles Stück Eis trieb es still erstarrt davon. Die verlassenen, aus der Erde wachsenden Scheunen entlang der Straße waren mit ihren feuchten nebeneinander verfaulenden Pfosten ganz schwarz geworden. Auf den Scheunendächern wuchs Gras und sogar dünne Bäumchen bogen sich im Wind, die sich da angesiedelt hatten, aber keinen Grund fanden, in den sie ihre Wurzeln treiben konnten – unter ihren schwachen Wurzelchen befanden sich kalte, leerstehende Gebäude; dorthin, zu den zertrümmerten Milchtöpfen und löchrigen Fässern, schlängelten sich Nattern, die schon niemanden mehr störten. Gebüsch trieb aus und wucherte über den Weg.
Inmitten dieses langsamen, beinahe vollendeten Zerfalls nahm sich das Kind merkwürdig aus, beschämend, deplatziert.
»Saschenka …«, seufzte die Großmutter, als Sascha, die Zähne zusammenbeißend, um sich nicht umzudrehen und durch den Gemüsegarten zu fliehen, einen Schritt machte, die Tasche zu Boden stellte und der Großmutter die Hände entgegenstreckte.
»Wie bist du denn hergekommen, ha?«, fragte sie. »Mit dem Auto, oder? Alleine?«
Sascha antwortete, er sei allein und mit dem Auto gekommen, und sah dabei in das dunkle runde Gesicht der Großmutter und in ihre tränenden Augen.
»Ich dachte schon, wieso kommt Sankya denn nicht«, sagte sie, und Sascha spürte einen leichten Vorwurf in ihrer Stimme. »Briefe schreibt er keine. Opa stirbt und Sascha wird es nicht einmal erfahren …«
»Stirbt« sprach die Großmutter wie »stüabt« aus und das Wort klang deshalb auch viel hilfloser und endgültiger. In ihm war keine Härte – sondern nur Vergänglichkeit.
Das Kind hob den Blick unabsichtlich zu Sascha, der die Großmutter umarmte und küsste, ihre weichen Schultern an sich drückte. Für das Kind war das vermutlich ebenso sonderbar, als hätte Sascha einen Baum oder die Ecke eines Schuppens umarmt.
Sascha hob seine Tasche auf und stand unentschlossen da. Die Großmutter öffnete die Haustür.
»Dem Opa geht’s ganz schlecht, wer weiß ob er den September noch erlebt … Er steht nicht auf, mag nichts essen, nur Wasser trinkt er«, sagte die Großmutter leise, und verließ den Ort des Geschehens.
Sascha wollte nicht in die Hütte gehen, in der Großvater lag, und folgte der Großmutter in die Küche. Nach guter dörflicher Gewohnheit begann sie sofort zu kochen, ohne Fragen, die würden erst später kommen.
In der Küche brannte eine schwache Lampe. Alles war voller Fliegen und als die Großmutter eintrat, flogen einige Fliegen lautlos auf. Nach ein paar Runden landeten sie wieder ruhig, waren satt und faul.
Die Großmutter sprach leise über ihre Söhne. Sie hatte drei Söhne gehabt, Saschas Vater und zwei seiner Onkel, von denen einer Saschas Taufpate war. Alle waren gestorben.
Als erster war der jüngste, Serjoscha, gestorben – er starb mit dem Motorrad, betrunken. Vor zwei Jahren im Sommer kam Saschas Taufpate Nikolaj bei einem Streit im Suff um. Er war der mittlere Sohn. Man begrub ihn neben dem jüngeren Bruder.
Und vor eineinhalb Jahren starb Saschas Vater Wasilij in der Stadt, aus der Sascha gekommen war. Er war der Gebildetste in der Familie, unterrichtete an der Universität, war jedoch auch ein Trinker, am Ende trank er hart und schonungslos[59 - schonungslos – (зд.) беспробудно].
Sascha brachte den Sarg mit dem Vater im Winter … der Weg war ein Alptraum … es war ihm unerträglich, sich an diese Fahrt zu erinnern.
»Ich hab den Hof gekehrt und bin zu Opa gegangen«, erzählte die Großmutter. »Ich fragte: ›Opa, ist es wahr, Wasja ist gestorben? Ich glaube, ich hab das geträumt.‹ ›Ist nicht wahr!‹ sagte er … Wie konnte er nur sterben, Sankya …«
Sascha saß am Tisch, der mit einem alten Tischtuch bedeckt war, und drehte eine Zigarette in den Fingern.
Die Großmutter sagte leise: »Ich setz mich ans Fenster und sitze und sitze. Ich denke, würde mir jemand sagen: Geh tausend Tage barfuß in egal welchem Winter, um deine Buben zu sehen – ich würde sofort gehen. Würde nichts sagen, sie nicht mal berühren, einfach nur sehen, wie sie atmen.«
Die Großmutter sprach ruhig, hinter ihren Worten stand das blanke Entsetzen, jene fast unvorstellbare Einsamkeit, an die Sascha vor Kurzem gedacht hatte, die Einsamkeit, die sich mit ihrer anderen Seite öffnet, die große Einsamkeit, die selbst ihres Echos beraubt ist. Sie antwortete auf nichts, auf keine Stimme.
»Waskja hat so viele Bücher gelesen, steht denn in keinem geschrieben, dass man Wodka so nicht trinken darf?«, fragte die Großmutter Sascha ohne eine Antwort zu erwarten. »Er hat doch unzählige Bücher gelesen, und heißt es dort nicht, dass man vom Wodka stirbt?«
Sascha schwieg.
»Und jetzt liegen sie alle dort draußen. Sie stehen nicht mehr auf, trinken keinen Wodka mehr, fahren nirgendwo hin, sagen niemandem mehr ein Wort. Zu Tode getrunken haben sie sich. Der Opa und ich dachten, wir werden neben dem jüngsten Buben liegen, aber Kolkja und Waskja haben sich in unsere Gräber gelegt. Für uns ist da jetzt nicht einmal mehr Platz.«
Die Großmutter kochte gleichzeitig mit zwei Pfannen – in einer wärmte sie Kartoffeln und Fleisch auf, in der zweiten zischten und zerbarsten Saschas geliebte Karawajtschiki
, dünne, fast durchsichtige Pfannkuchen mit einem süßen, knusprigen, dunklen Muster am Rand. Die Großmutter kochte ohne Hast, geschickt und behände, dachte nicht daran, dass sie kochte, und hätte wahrscheinlich die Augen dabei schließen können, sich im Geiste von dem, was sie tat, ganz und gar entfernen: »Heuer im Winter haben wir die letzten Enten geschlachtet«, erzählte die Großmutter, während sie Kartoffeln und Fleisch in der Pfanne umdrehte, »ich hab keine Kraft mehr, zum Bach zu gehen. Runter geht’s, aber zurück nur mühsam, die Enten warten auf michund rufen mich.«
Die Großmutter wechselte übergangslos von einem zum anderen, es ging aber immer um eines: Alle sind gestorben und es gibt nichts mehr.
»Opa ist völlig taub, er hört nichts mehr … Das letzte Mal ist er im Juni aufgestanden. Er ging aufs Klo und fiel im Hof nieder. ›Warum bist du aufgestanden?‹ fragte ich ihn. ›Ich hab dir doch einen Kübel hingestellt!‹« Er war mit letzter Kraft aufgestanden.
Die Großmutter drehte das Feuer unter der Pfanne mit den Kartoffeln und dem Fleisch zurück, nahm den letzten Karawajtschik aus der anderen Pfanne und ging in die Hütte.
Sascha stand auf, torkelte durch die Küche und ging auf die Straße, um zu rauchen. Beim Hinausgehen hörte er, wie die Großmutter laut zu Opa sagte: »Sankya ist gekommen! Sankya!«
»Sankya? Was kommt er denn nicht herein? Ich höre, dass du dort mit jemandem schwätzt.«
Es war völlig dunkel. Das Dorf war lautlos.
Das Kind war weggegangen. Neben der Pfütze lag seine Gerte.
Die Zigarette brannte. Die Asche fiel nicht hinunter.
Ein Betrunkener stapfte vorbei, ein verkümmertes Männlein, das Sascha nicht beachtete.
»Was kommst du denn nicht zu mir, Sankya?«, fragte der Opa, als Sascha die Hütte betrat und sich an Opas Bett setzte.
In seiner Stimme schwang kaum hörbar die Ironie des Alten mit – fürchtest dich wohl vor mir, deinem sterbenden Opa. Und in der Ironie war zugleich Mitleid zu hören – na ja macht nichts, Jungchen, ich halte dich nicht lange auf.
Opa war dünn geworden, die spitzen Schultern, die schwachen Augen klebten zusammen. Der Großvater bereitete sich aufs Sterben vor. Wenn er sprach, knackste es kaum hörbar im Hals und die Wörter kamen praktisch unverständlich heraus.
»Sterben ist nicht schrecklich, Sankya … Das Leben ist sehr lang. Es reicht schon. Da liege ich jetzt und kann nicht sterben. Ach Sankya, Sankya …«
Sascha blickte den Opa schweigend an.
»Lass ihn doch erst mal essen nach der Reise!«, sagte die Großmutter, die hereingekommen war. »Du wirst noch genug reden können! Du stirbst schon nicht, während er isst!«
»Lass ich ihn etwa nicht essen?«, antwortete der Opa. »Geh essen, Sankya …«
Sascha ging folgsam in die Küche. Der Opa murmelte etwas, sprach mit geschlossenen Augen mit jemandem.
Die Großmutter fragte Sascha nach der Mutter, ob die Mutter nicht wieder heiraten werde, ob er selbst nicht trinke und wo er jetzt arbeite. Die Mutter wird nicht heiraten, Sascha trinkt nicht, zumindest nicht so, wie die Großmutter meinte, über die Arbeit erzählte er Lügen. Er arbeitete, war aber zu faul zu erklären, was er tat. Für die Alten ist Arbeit die Erde pflügen oder Fabrik, oder das Krankenhaus, oder die Schule … Sie haben recht. Aber heute ist diese Arbeit in den meisten Fällen zum Schicksal von nicht sehr erfolgreichen, vom Leben benachteiligten Menschen geworden.
Die Großmutter trug auf – wie man das im Dorf so nannte – und Sanja trank den Selbstgebrannten gerne zu Fleisch und Kartoffeln, um sich ein bisschen zu erleichtern.
Er trank einmal, zweimal, dreimal.
Im Nebenzimmer lag der Großvater im Sterben. Sascha aß mit großem Appetit. Er war hungrig. Die Karawajtschiki schmeckten so gut wie in der Kindheit. Die Großmutter erzählte davon, was im Dorf passierte.
Im letzten Haus in der Straße lebte ein Mann mit Spitznamen Chomut. Sascha kannte ihn gut. Chomut hatte ihn, Sascha, gerettet. Und der Vater hatte Chomut auch gekannt, sie waren befreundet; ihre Freundschaft war unspektakulär und still gewesen.
Chomut war gesund, helläugig, stark wie ein Pferd. Letzten Sommer hatte er sich erhängt. Die Söhne waren aus der Stadt zu ihm gekommen, um im Gemüsegarten zu helfen. Bei der Arbeit im Gemüsegarten zerstritt sich Chomut mit den Söhnen. Er hatte sich mit ihnen noch nie gut verstanden.
Er schimpfte und sagte: »Ich werde es euch jetzt mal zeigen!« Er ging ins Haus. Die Söhne zuckten nur mit den Schultern und arbeiteten weiter. Als sie dann heimkamen, fanden sie den Vater im Schuppen, er hatte sich an einer Querstange erhängt, die Beine angezogen.
Chomut gab’s jetzt also nicht mehr.
Zwei Häuser neben Saschas Geburtshaus lebte ein Mann mit Spitznamen Kommissar gemeinsam mit seiner Mutter. Kommissar wurde er deshalb genannt, weil er in den letzten fünf Jahren nichts getan hatte, als die Dorf bewohner zu beobachten, vom frühen Morgen an stand er an den Zaun gelehnt da. Er ließ sich scheiden, lebte von der Pension seiner Mutter. Sascha spürte in ihm immer etwas Ungesundes. Womit beschäftigt sich so ein vierzigjähriger Bock ohne Frau den ganzen Tag? Die Tochter wächst allein in der Stadt auf, ist noch ganz klein … Bei einem derartigen Leben kann man sich ja nur auf hängen. Aber er hängte sich nicht auf. Zuerst war sein stilles Mütterchen gestorben, und bald starb auch er selbst, irgendwas mit dem Herzen.
Zwei Söhne einer unmittelbaren Nachbarin starben schon damals, als Saschas jüngster Onkel verunglückte[60 - verunglücken – пострадать в результате аварии, разбиться]. Auch die Nachbarsjungen verunglückten, auch mit den Motorrädern. Das kam so: In den letzten Jahren der ehemaligen Regierung hatte die Bauernschaft – endlich – Fleisch angesetzt und ein wenig Geld angesammelt. Das Erste, was einer aus dem Dorf macht, der sein ganzen Leben im Schweiße seines Angesichts geschuftet hatte: Er verhätschelt sein Kind, wie alt es auch sein mag. In jenen Jahren wollten die Jungs aus dem Dorf vom Fahrrad aufs Motorrad umsteigen. Im Dorf gab es keine Verkehrspolizisten, ja, auch den Revierinspektor sah man monatelang nicht, also fuhren alle betrunken. Und sofort fingen die Unfälle an: Sie verunglückten schrecklich, wurden in Stücke zerfetzt, vor dem Tod segelten sie – schlagartig aus dem Sattel gehoben, fünfzig, ja oft siebzig Meter weit, zertrümmerten ihre blöden Köpfe an Bäumen und Zäunen, brachen sich alle Knochen, ihre Körper verwandelte sich in weichen rosafarbenen Matsch, und manchmal traf es auch junge Mädchen, die auf dem Rücksitz gesessen hatten. Und wenn die Mädels auch nicht starben, so brachen sie sich die Wirbelsäule und lagen dann bewegungsunfähig da, wiederholten in Gedanken jede Minute jenes unglücklichen Abends.
Sascha, der als Kind immer in den Dorfladen gelaufen war, um Brot zu holen, traf dort drei, manchmal fünf und mehr Frauen in schwarzen Kleidern; ihre Söhne waren alle verunglückt. Die Frauen standen da und sprachen leise davon, wie ihre Kinder gelebt hatten und wie sie gestorben waren. Und einige der Wörter, die er im Vorbeigehen aus den schwarzen Mündern der Frauen hörte, schwirrten noch lange in Saschas Kopf herum, ohne den richtigen Platz zu finden.
Manche verließen das Dorf in den letzten Jahren, erzählte die Großmutter; jemand war an einer frühen Krankheit still gestorben, und im Großen und Ganzen war ein einziger Mann übrig geblieben, der – niemand erinnerte sich daran, warum eigentlich – Solowej, die Nachtigall, genannt wurde. Er betrank sich jeden Abend – man wusste nicht wo —, kam nach Hause, schrie seine sprachlose Frau blöde an, die längst schon alles verdammt hatte und in ihrer Ausweglosigkeit verstummt war. Kinder hatten sie keine. Abends hörte man im fast leeren Dorf Solowejs Gebrüll.
War er betrunken, erkannte er kaum jemanden, ging durchs Dorf, ohne etwas zu bemerken, und nur der wehmütige Blick seiner Frau brachte ihn aus der alkoholischen Ferne in die trübe Realität zurück und erweckte bei ihm das geradezu physische Verlangen, zu brüllen und zu schimpfen, ohne übrigens zu wissen, was er dabei von sich gab.
Das war er, Solowej, der da am Haus vorbeiging, als Sascha am Zaun rauchte.
Die Großmutter räumte den Tisch ab und ging, um für Sascha im Zimmer, von Opas Liege durch eine Zwischenwand getrennt, das Bett zu machen.
Während sie das Bett herrichtete, erinnerte sie sich daran, dass in diesem Bett Wasja, ihr eigenes Fleisch und Blut, als kleines Kind geschlafen hatte; nach dem Krieg wurde er neben der Bauernarbeit ohne alles Getue[61 - ohne alles Getue – без суеты, неприметно] zu einem dünnen, hochaufgeschossenen, aber früh kahl gewordenen Jungen aufgepäppelt, der dann das Elternhaus verließ – zurück kam er als kräftiger junger Mann, in dem allein sie mühelos noch immer dasselbe Kind erkennen konnte. Nun war Wasja also das Blut im Leib gestockt und er hatte aufgehört, zu sein.
Als Wasja das erste Mal Probleme mit dem Herzen hatte, träumte sie von ihm. Im Schlaf lag Wasja auf dem Bett und sagte: »Mama, hier tut es weh, ich kann nicht atmen«, und zeigte auf das Herz.
Sie fuhr sofort zu Wasja und kam unerwartet in die Stadt, in der sie schon zehn Jahre nicht gewesen war und dort musste sieerfahren, dass der Traum Wirklichkeit war.
Sascha brachte sie ins Krankenhaus, in das der Vater eilig eingeliefert worden war.
Der Vater lag ruhig, mit dunklem Gesicht, in sich hineinhorchend[62 - in sich hineinhorchend – прислушиваясь к себе]. Im Innern schlug das kranke Herz. Die Großmutter saß daneben und blickte ins Gesicht des Sohnes. Der Vater wurde operiert, man schnitt ihm die Brust auf – während die Ärzte zauberten, befand sich sein Herz eine halbe Stunde außerhalb des Körpers. Er überlebte. Er durfte nichts trinken. Als aber bald danach Brüderchen Kolja starb, begann Wasja doch zu trinken. Er betrank sich einmal, dann noch einmal, dann kam er ins Krankenhaus und starb schnell, binnen zweier Tage.
Sascha wusste, dass die Großmutter das Bett machte und zum wievielten Male darüber nachdachte, warum nur, warum sie nicht von ihm geträumt hatte, als Wasja zum zweiten Mal schlecht wurde, warum rief er sie nicht, und nie konnte sie eine Antwort darauf finden.
Er erschien nicht im Traum und rief nicht nach ihr. Im Winter wurde bei den Nachbarn angerufen – das einzige Telefon im Dorf – und es hieß, Wasja sei gestorben, richten Sie das aus, wir bringen ihn fürs Begräbnis. Und drei Wochen nach dem Begräbnis kam Saschas Brief, den Sascha eineinhalb Wochen vor dem Tod des Vaters geschrieben hatte. Aufgrund der schlechten Arbeit des Postdienstes überschritt der Brief alle Zustellfristen, fast war es, als wäre er zu Fuß gegangen. In diesem Brief hatte Sascha geschrieben, dass der Vater sich gut fühle.
»Wie konnte das alles so plötzlich passieren?«, fragte die Großmutter Sascha, der noch einmal aufgestanden war, um zu rauchen und sich danach hinzulegen. »Du hast im Brief geschrieben, dass es dem Vater gut geht. Ich lese das, und er ist schon im Grab. Und nichts ist ihm besser geworden. Er hat sich ein Leben lang abgequält.«
Die Großmutter blickte Sascha ruhig an, ohne eine Antwort zu erwarten.
»Die Leute sagen manchmal, dass die Enkel mehr geliebt werden als die Kinder. Das ist nicht wahr …«, dachte Sascha.
Die Großmutter liebte ihre Söhne. Sascha war für die Großmutter eine undeutliche Erinnerung an jene Zeit, als die Familie vollständig und die Söhne noch am Leben waren. Sie hatte aber keine Kraft, in Sascha die Züge seines Vaters zu sehen, in ihm ihr eigenes – dem Sohn und dem Enkel weitergegebenes – Blut zu spüren. Sascha war ein eigenständiger Mensch, beinahe schon fremd …
Ganz selten aber schaute die Großmutter Sascha in der Hoffnung an, der verstorbene Sohn möge im Antlitz des Enkels erscheinen, ein Zeichen geben, riss sich davon aber sogleich los: »Nein, er ist es, nicht er …«
Sascha verstand das und akzeptierte gelassen die stille, kaum merkliche, hauchdünne Entfremdung der Großmutter. Bewusst war ihm das nicht aufgrund einer klaren Einsicht und obwohl er es eher vor sich selbst verheimlichte, spürte er, dass es ihm so – in einer gewissen Distanz zur Großmutter – leichter fiel, sich hier aufzuhalten. Wenn jeder in seinem Herzen sein Unglück trägt, sollten sich diese Herzen möglicherweise besser nicht berühren. Vermutlich ist es besser, gewisse Grenzen nicht zu überschreiten, wenn es ohnehin schon unmöglich ist, das Ganze zu ertragen.
Der Großvater wollte jedenfalls nicht mehr länger leiden, es zog ihn zu den Kindern[63 - es zog ihn zu den Kindern – его тянуло к детям].
Er ertrug den Tod der beiden Söhne stoisch und noch ein Jahr vor dem Tod des dritten war er bei Kräften gewesen. Kräftiger als Sascha – Sascha konnte sich erinnern, wie er sich über Opas Gesundheit gewundert hatte, als sie einmal auf dem Hof arbeiteten und Opa mit einem riesigen Hammer herumwerkte, den Sascha kaum hochheben konnte.
Aber dann verließ ihn auch der letzte Sohn, und Opa überlegte sich, ob er weiterleben solle.
In Opas Kopf gab es keine Abbilder der Vergangenheit. Es gab keine Erinnerungen an jene Zeit, als er, ein junger Stoßarbeiter, auf dem Mähdrescher arbeitete, und daran, als er, ein junger Offizier, mit der Waffe Befehle erteilte. Weder an die fast dreijährige Gefangenschaft erinnerte er sich, noch an das Leben nach dem Krieg. Es gab nicht die Klarheit einer guten Erinnerung. Es gab Nachklänge, Unausgesprochenes, Fetzen an Erinnerungen, kein einziger Gedanke hatte sein Ende gefunden, alles wackelte wie in einem dunklen Waggon, mit flackerndem, fast kraftlosem Licht – irgendwo Stimmen unsichtbarer Mitreisender, das Geschirr scheppert, es gibt keinen Zugbegleiter, und hinter dem Fenster blitzt etwas Verschwommenes auf.
Opa horchte, konnte aber nichts erkennen.
Großmutter ging vorbei, das bemerkte Opa. Und wieder konnte er nichts denken, nichts über sie, nichts über sich, nichts über irgendjemand. Es war nichts zu entscheiden, und nichts entschied sich von selbst. Alles war verflossen und verwischte sich. Das Farblose rollte heran. Selten tropft das, was sich auf dem Boden findet.

Der Großvater schaltete das Radio immer auf volle Lautstärke – damals. Um sechs Uhr früh ertönte im Haus die Hymne. Die Großmutter war zu dieser Zeit schon aufgestanden.
Sascha streckte die dürren, dreckigen Beine, er ärgerte sich über den Großvater. Aber er schlief sofort wieder ein, sobald die Melodie auf hörte. Er stand in guter Geistesverfassung auf. Er aß eine Milchsuppe. Manchmal fand er in der Suppe eine Fliege, aber Sascha ekelte sich nicht; er aß alles auf, nachdem er die Fliege herausgefischt und neben den Teller gelegt hatte. Die Fliege lag in einer kleinen weißen Pfütze, mit zusammengeklebten Flügeln. Die Suppe war außergewöhnlich schmackhaft, süß, heiß. Nach der Suppe gab es Karawajtschiki und Tee. Alles war so fein.
Um sechs Uhr morgens fing das Radio zu bellen an, als wäre die Platte mit der Hymne schon zu Ende oder hätte gar nicht erst beginnen können, weil sie hängengeblieben war. Das Radio atmete schwer mit seiner schwarzen, staubigen Lunge und begann zu schnarren. Der Lärm hörte nicht auf.
Sascha öffnet die Augen.
Über dem Kopf hingen Ikonen.
Das kleine Fensterchen neben dem Bett saugte alles Licht an.
Oma war nicht im Haus.
Sascha horchte, wollte den Atem des Großvaters hören, doch er hörte nichts. Er wollte nicht aufstehen. Aber liegen – zu zweit mit dem Großvater hinter der Trennwand – wollte er noch weniger.
Die Füße berührten angewidert den Boden. Die Schultern zuckten zurück. Die Backenknochen zogen sich zusammen, als er das Gähnen zurückhielt. Die Augen irrten flink durch das Zimmer, suchten etwas, um sich festzuhalten, damit das Herz sich beruhigte und der Morgen im Guten begann.
In der gegenüberliegenden Zimmerecke befand sich der »Familienschrein«[64 - der »Familienschrein« – «семейный иконостас»], mit tausendfach angesehenen Fotos. Sascha schaute ihn trotzdem immer wieder gerne an – bis jetzt.
Er zog sich an, schlüpfte sofort in Hosen und T-Shirt und Pullover und ohne Gedanken wie »… schau mal, wie der Großvater dort …« an sich ranzulassen, streckte er sich und schlich sich, möglichst leise, in die Ecke, zu den ausgeblichenen, verschwommenen Fotos.
Die großen Bilder beeindruckten Sascha immer wieder: 1933, die Mädchen des Dorfes sitzen in einer Gruppe, es sind ungefähr zwanzig. Die Mädchen sind gepflegt, man kann sagen, herausgeputzt, eine süßer als die andere. Aber – es ist die Zeit der Kollektivierung, alle müssen halt arbeiten. Sascha vergaß immer, die Großmutter zu fragen, wie das eigentlich gewesen war. Das da ist Großmutter, sie war ungefähr sechzehn oder jünger (sie wusste den Tag ihrer Geburt nicht und feierte ihren Geburtstag nie) – aber schon ein wunderbares Mädchen, alles war schon da. Und das Jahr 1933 stand vor der Tür.
Und hier, das ist Opa, mit einem Freund, 1938. Die Gesichter sind klar, die Augen weit geöffnet, hartes männliches Lächeln. Die Kommandantenuhr am Arm des Großvaters, riesengroß, zur Schau gestellt. Ein Genosse von halbkaukasischem Aussehen, aber so ein würdevoller Kaukasier, hell, glänzend von unten bis oben, als würde er auf mysteriöse Weise das Blitzlicht spiegeln. Das Jahr 1938. Warum lächeln alle?
Es geht ihnen gut. Sie sind zufrieden, weil sie fotografiert werden, das Leben liegt vor ihnen.
Der Freund des Großvaters, dessen Familiennamen Sascha vergessen hatte, starb den Heldentod im Vaterländischen Krieg, er war Pilot. Seine Büste steht beim Geschäft, ewig welke Blumen zu Füßen.
Der Großvater war unabkömmlich[65 - unabkömmlich – вне досягаемости] – bis 1942 schickten sie ihn nicht an die Front, er war der beste Mähdrescherfahrer im Gebiet. Der Großvater war damals schon mit der Großmutter verheiratet, Kinder hatten sie jedoch noch keine.
Aber im Herbst 1942 musste auch der Großvater an die Front. Bald danach geriet er in Gefangenschaft[66 - in Gefangenschaft geraten – попасть в плен]. Und den ganzen Krieg über blieb er dann in Gefangenschaft. Er erzählte nicht gerne davon. Gerne erinnerte er sich nur daran, wie ihm in der Gefangenschaft ein Hellseher vorausgesagt hatte, er würde achtzig Jahre alt.
»Die Leute starben unauf hörlich, mehrere Menschen jeden Tag«, sagte der Großvater. »Wir schliefen nebeneinander, damit es wärmer war, alle in einer Reihe. Alle drehten sich gleichzeitig von einer Seite auf die andere, mehrere Male pro Nacht. Du drehst dich um und der Nachbar neben dir streckt alle Viere von sich, er liegt kalt da … Mir hatte man prophezeit – und ich glaubte es nicht, niemand glaubte daran, dass er noch einen Tag leben werde – und da sagt man mir ›achtzig Jahre‹ voraus. Aber ich habe es erlebt. Und dann lebte ich noch ein Weilchen länger.«
Als Saschas Vater starb, war der Großvater bereits vierundachtzig.
Der Großvater erzählte bei der Totenfeier diese Geschichte noch einmal, und fügte hinzu: »Ich hätte mit achtzig sterben sollen. Die Söhne lebten noch. Ich wäre glücklich gestorben. Aber jetzt, Sankya, verstehe ich nicht, wozu ich gelebt habe, ich habe nichts – letztlich auch niemanden in die Welt gesetzt, es ist, als hätte ich gar nicht gelebt.«
Die Großmutter sagte: »Der Großvater hat die Gefangenschaft überlebt, weil er nicht rauchte. Die Deutschen gaben den Gefangenen Tabak und Brot. Der Großvater tauschte seinen Tabak bei anderen Gefangenen gegen Brot. Er gab ihn nicht einfach so her.«
Sascha dachte manchmal: Soll man das dem Großvater vorwerfen oder nicht? Es hätte Sascha auf der Welt gar nicht gegeben, hätte der Großvater nicht ein zusätzliches Stück Brot für den Tabak erhalten. Was soll ich ihm vorwerfen? Wenn du jemand beschuldigen willst, begib dich in diese Sklaverei, überlebe dort drei Jahre, gib den Tabak einfach so ab, während ihn die anderen tauschen, kommst du dann lebend zurück, kannst du Vorwürfe erheben.
Als der Großvater aus der Gefangenschaft zurückkehrte, wog er siebenundvierzig Kilo – bei einer Körpergröße von einem Meter dreiundachtzig.
Der Großvater erzählte außerdem noch: Als sie befreit wurden (von den Alliierten, den Amerikanern), machten er und einige seiner Genossen sich zu Fuß auf den Weg[67 - sich auf den Weg machen – отправиться в путь] zu den eigenen Leuten. Sie gingen durch eine befreite deutsche Siedlung, fanden ein Fass mit weißem Honig. Sie waren fünf Mann – und alle, außer dem Großvater, stürzten sich auf den Honig, um ihn zu essen, gleich mit den Händen, direkt aus dem Fass. Der Großvater warnte seine Kümmerlinge, das Zeug nicht zu essen – sie hörten nicht auf ihn. Sie aßen sich satt und begannen sofort zu erbrechen, zu taumeln und sich zu winden. So starben sie alle, nicht weit vom Fass mit dem weißen Honig.
Manchmal sah Sascha dieses Fass, gefüllt mit etwas Weißem und Dickflüssigem. Wie schmutzige bebende Finger mit langen Nägeln in den Honig gleiten. Zahnlose Münder, die von verdreckten Haaren umwachsen sind, schnappen nach dem Honig. Und der Honig verätzt die Kehle. Und der Großvater sitzt abseits, gebeugt und abgewandt. Vielleicht hatten Großvaters Weggefährten auch noch gelacht, einige Minuten lang waren sie sehr übermütig gewesen. Doch plötzlich setzte einer sich abrupt hin oder fiel sofort um, und die Augen weiteten sich vor Schmerz …
Und der Großvater ging allein weiter.
Von den Kommunisten wurde er ausgeschlossen, weil er in Gefangenschaft gewesen war. Er kehrte ins Dorf zurück, zu seiner Frau. Im Lauf der Nachkriegsjahre zeugten[68 - zeugen – зачинать, рождать] sie drei Söhne.
Da sind sie, die Söhne – auf einem anderen Foto. Saschas Vater, Wasja, er steht zwischen Großmutter und Großvater, ein blonder Schopf, oder wie es hier im Dorf heißt – flachsblond[69 - flachsblond – белобрысый], das bedeutet, dass die Haare hell wie von der Sonne ausgeblichenes Leinen waren[70 - die Haare hell wie von der Sonne ausgeblichenes Leinen waren – волосы светлые, как лен, выгоревший на солнце]. Der Großvater hält den mittleren Sohn auf den Armen, die Großmutter das kleine Söhnchen. Der Großvater – mager, hochgewachsen, abgearbeitet, streng. Die Großmutter – mit dunklem Gesicht, hohlwangig, sich selbst nicht ähnlich. Es war schwierig gewesen, die Kinder aufzuziehen.
Daneben eine andere Aufnahme – Saschas Urgroßvater mit Freunden – der Vater des Großvaters. Die festgehaltene Zeit: Der Erste Weltkrieg, vor dem Hintergrund eines Bunkers stehen vier Soldaten, mit – wie bei Pferden – langgezogenen Gesichtern, sinnlos, repräsentabel. An Urgroßvaters Brust drei Georgs- Orden. Er hat dann noch im Bürgerkrieg gekämpft und auch Auszeichnungen erhalten. Aus dem Bürgerkrieg waren allerdings keine Aufnahmen erhalten. Und die Auszeichnungen waren verloren gegangen.
Und hier ist Sascha selbst, vierzehnjährig, rosig, hellhäutig, die Haare wie zur Seite geleckt. Als er aus dem Dorf wegfuhr, war er, wie alle Dorfjungen, strohblond, in der Stadt verlor er die helle, seltene Färbung und wurde dunkelblond.
Sascha war mittlerweile der Einzige, der noch etwas über das Leben dieser Menschen wusste, die auf den Schwarzweißfotos abgebildet waren, zumindest war er ein Zeuge ihrer Existenz. Wenn die Großmutter stirbt, kann keiner mehr irgendwem erklären, wer hier abgebildet ist, welche Leute das sind – Stille. Ja, es wird auch niemand fragen, das braucht keiner. Die neuen Hausherren werden den Fotoaltar in das undurchdringliche Gestrüpp auf der anderen Straßenseite schmeißen, die Gesichter auf den Bildern werden verwaschen, und das war’s dann. Als wäre es nie gewesen[71 - Als wäre es nie gewesen. – Как будто их никогда и не было.].
Schon jetzt wusste Sascha nicht mehr, wer all die Menschen auf den vielen Fotos waren – vielleicht irgendwelche Verwandte der Großmutter, des Großvaters, vielleicht Nachbarn, mit denen sie befreundet gewesen waren, sonst noch wer. Die ganze Verwandtschaft ist weggestorben und die Freunde sind gestorben, es gab niemanden mehr, der sich erinnern konnte, wie die Großeltern in den Nachkriegsjahren eigentlich waren, ganz zu schweigen von der Zeit vor dem Krieg. Es hatte ja auch eine Hochzeit stattgefunden – die jungen Leute küssten sich scheu und die Gäste lärmten und tranken und alle lächelten, oder fast alle, vielleicht hat jemand missmutig in der Ecke gesessen und sich leise betrunken, auf jeder Hochzeit gibt es solche, trotzdem waren alle glücklich und lärmten … aber vermutlich ist kein Zeuge dieser Hochzeit mehr übrig geblieben.
Sascha erinnerte sich plötzlich, wie dem Großvater einmal herausgerutscht war, dass er mit der Großmutter in zweiter Ehe verheiratet sei. Die erste Frau hatte er am Tag nach der Hochzeit verlassen. Was sie eigentlich gemacht hatte, sagte der Großvater nicht. Angeekelt verlor er über seine erste Hochzeit ein paar Worte, die Sascha längst vergessen hatte, das war alles.
Dass der Großvater zwei Mal verheiratet gewesen war, beeindruckte Sascha sogar mehr als die furchtbaren Jahre, die der Großvater in Gefangenschaft verbracht hatte. Was war das für eine Ehefrau, was war das für ein Mädchen? Was hat sie getan? Hat der Großvater sie etwa mit einem anderen erwischt? Oder hat sie sich betrunken und den Großvater beschimpft? »Vielleicht hat sie das Tor mit Pech beschmiert?«, dachte Sascha, und vergaß dabei, dass im Dorf kein Haus hinter dem Tor versteckt war. Du machst einen Schritt von der Straße weg – und da ist gleich die Tür, die oft nicht einmal verschlossen ist. Und Hunde hielt auch niemand.
»Das Tor … mit Pech …«, äffte Sascha sich selbst nach. »Zu viele Bücher gelesen …«
Niemand weiß, wie das alles gewesen war. Aber all das war gewesen.
Wie kommt das, ha? Wohin sind alle verschwunden?
Hätte es einen Wert, zu wissen, wie die Großeltern ihr Leben gelebt haben? Oder war es für gar nichts nütze?
Sascha ging leise zum Großvater hin.
Die Türrahmen in der Hütte waren niedrig, und Sascha verbeugte sich unwillkürlich vor dem Großvater, der aber nichts sah – er lag mit geschlossenen Augen da. Sascha hörte das heisere, bebende Atmen des Großvaters und blickte einige Momente lang auf seine blasse Stirn mit der dünnen, schwärzlichen Vene.
Der Großvater zuckte mit den tränenden Augen, man konnte die Pupillen unter den Lidern nicht ausmachen.
»Sieht er? Sieht er nicht? Soll ich was sagen?«
»Sankya«, sagte der Großvater leise. »Bist aufgestanden. Hättest noch weiterschlafen …«
Sascha schwieg und sah den Großvater ohne zu blinzeln an. Der Großvater atmete.
Sascha nahm den Hocker und stellte ihn neben Großvaters Bett, vielleicht tat er das auch lauter, als es möglich gewesen wäre – schon die Bewegung, der Lärm verwischten gleichsam den Eindruck der schwermütigen Schmerzhaftigkeit dessen, was hier vor sich ging.
Der Großvater schielte kaum merklich auf den daneben sitzenden Sascha – das Lid zuckte, ein bleicher Fleck der Pupille bewegte sich, und das Lid zuckte von Neuem, drückte eine kleine Träne hervor, die sich sofort in einer Falte verlor.
»Fährst du bald? Bleib doch noch … Bleib, bis ich sterbe … Ich sterbe bald … Begrab mich wenigstens. Die Oma ist doch alleine … Die Weiber werden mich begraben. Es gibt doch keine Männer mehr …«
»In solchen Fällen«, dachte Sascha, »sagt man sicher: ›Was heißt du stirbst bald, Großvater, alles kommt in Ordnung. Du liegst ein bisschen und wirst bald wieder aufstehen.‹« Er schwieg.
»Solange ich lebe, kann ich mich nicht erinnern, dass die Weiber jemanden begraben hätten … Gibt’s in der Stadt noch Männer?«
Sascha lächelte ein wenig.
»Gibt es«, sagte er laut, um wenigstens etwas zu sagen.
»Bei uns sind sie alle ausgestorben. Ich bin der letzte. Alle sind zu meinen Lebzeiten geboren, aufgewachsen, und alle sind sie gestorben. Ich habe sie alle begraben … Die meinigen und die fremden.«
Der Großvater verstummte und lag lange schweigend da.
»Ich esse nichts, und kann trotzdem nicht sterben …«
Er schwieg wieder.
»Erinnerst du dich an meinen silbernen Löffel? Nimm ihn, wenn ich sterbe. Mein Vater hat ihn mir gegeben. Jetzt gehört er dir.«
Sascha erinnerte sich an diesen Löffel – er war schwer, schön. Die Großmutter sagte, dass der Großvater mit diesem Löffel alle seine kleinen Jungs auf die rosa Stirn schlug, wenn sie bei Tisch Unfug trieben[72 - Unfug trieben – безобразничать, баловаться]. Sascha glaubte das nicht. Mit so einem Löffel kann man töten. Ja, und das passte auch nicht zu Großvaters Charakter. Sascha dachte, dass er nie im Leben gehört hatte, wie Großvater schrie – nie erhob er die Stimme und niemals fluchte er. Seine Unzufriedenheit äußerte er durch Gesten. Einmal kam Sascha mit dem Vater ins Dorf, ungefähr vor fünf Jahren war das. Der Großvater war schon fast achtzig. Onkel Kolja kam noch dazu und sie tranken den ganzen Abend und tranken noch die halbe Nacht weiter. Am Morgen setzten sie sich zum Frühstück, um auszunüchtern. Die Großmutter, die ja hörte, wie schwer der Großvater im Schlaf atmete, entschied, ihn zu schützen und füllte den Söhnen die Gläser mit Selbstgebranntem[73 - das Selbstgebrannte – самогонка] ganz voll, dem Großvater nur etwas mehr als die Hälfte. In Großvaters Gesicht bewegte sich nicht ein einziger Muskel, mit einer laschen Bewegung schob er mit dem Handrücken der Rechten das Glas weg, nicht abrupt, aber immerhin so, dass es umfiel: Der Selbstgebrannte breitete sich auf dem Tisch aus, der Gestank war schneidend. Dann stand der Großvater auf und schob den Stuhl weg, als wollte er hinausgehen.
»Bleib schon sitzen, du Waldgeist! Bleib sitzen!«, schrie die Großmutter. Augenblicklich wischte sie den Tisch ab, stellte das Glas hin, füllte es bis zum Rand und ging schimpfend hinaus, maßvoll schimpfend, nicht laut und nicht bösartig, seit Langem kannte sie die Grenze, die sie nicht überschreiten durfte, wenn sie ihren Mann tadelte.
Der Großvater setzte sich, trank ruhig aus und die Großmutter versuchte nie mehr, ihm nicht richtig einzuschenken; es erinnerte oder erwähnte auch niemand mehr diesen Vorfall.
Sascha schaute auf den Großvater, dieser war wohl eingeschlafen. Sascha stand vorsichtig auf.
Auf der Straße stand Dunst, nebelgraue Feuchtigkeit, die im Sommer besonders unangenehm war.
Das Dorf gab kein einziges Lebenszeichen von sich.
Neben derselben Pfütze von gestern stand derselbe Junge mit der Gerte in der Hand. Zischend schlug er auf die schmutzige Spiegelung seiner selbst und sprang dabei von der Pfütze weg.
Der Anblick des Kindes hätte vielleicht das Herz zusammengezogen, wäre im Herzen nicht stille Leere gewesen.
»Du stehst schon auf, Sankya, warum bist du denn schon auf«, sagte die Großmutter, die vom Hof kam. »Gehen wir frühstücken.«
Das Rührei mit Speck, Tomaten und Zucchini – unnatürlich hell, wie die Zeichnung eines Kindes – verströmte ein starkes Aroma, bebte und spritzte als wäre es lebendig und voller Freude.
»Interessant, und wenn man die Alten zu zeichnen zwingt – werden ihre Zeichnungen genauso hell sein wie die der Kinder?«, überlegte Sascha.
Der Selbstgebrannte trübte sich ein, das grobe Brot wurde voller Gelassenheit dunkler. Auf einem Tisch ist Brot ist immer das Strengste, es kennt seinen Preis.
Sascha aß alles schnell und sagte, er gehe spazieren. Er bewegte sich vom Haus weg, den Berg hinunter zum Fluss. Er erinnerte sich, wie er als Kind auf demselben Weg ging und die Gänse der Nachbarin traf und lange nicht an ihnen vorbeigehen konnte, da der Gänserich, der widerwärtige Vogel, den Hals streckend und mit den Flügeln schlagend, den Weg blockierte. Sascha sprang weg und drehte sich vor Schreck um und lief, mit hochgezogenen Knien. Dann blieb er in einiger Entfernung lange stehen, von einem dunklen Bein auf das andere tretend, wie ein kleines Pferd. Als jemand die Straße entlangging, setzte sich Sascha und tat, als würde er mit den Steinen spielen. Er schämte sich, dass er sich vor einer Gans fürchtete. Der Mensch ging vorbei, erschreckte die Gänse und sie liefen wild mit den Flügel schlagend und wie blöde schnatternd davon.
Wenn Sascha sich erinnerte, sich an sein Leben erinnerte, dann mochte er auch nur diesen Jungen, den dunkelbeinigen, mit den Schrammen. Dann, als er die blonde Mähne losgeworden war, wurde aus diesem Jungen ein weißhäutiger, buckliger Blödkopf, der dumm lachte und alle anderen Merkmale eines Halbwüchsigen hatte. Sascha erinnerte sich nicht an seine Zeit als Halbwüchsiger, er vermied es, sich daran zu erinnern. Fahrig, raufsüchtig, unangenehm – wer möchte sich schon daran erinnern.
Jetzt gab es keine Gänseriche mehr.
Die Stege über das Flüsschen verbogen sich, brachen ein.
»Geht denn etwa niemand mehr ans andere Ufer hinüber?«, dachte Sascha und ertappte sich dabei, dass Großmutters »denn etwa«[74 - »denn etwa« – «нешто»] in seine Sprache eingegangen war. Aber vermutlich verwendete er diesen Ausdruck nur, weil er mit seinem eingebildeten Dörflertum spielte, das sich, wenn es je existiert haben sollte, schon lange in Nichts aufgelöst hatte. Selbst »denn etwa« konnte er nicht gelassen aussprechen, ohne sich bei einem Selbstbetrug zu ertappen.
Sascha ging das Ufer entlang zum weiter entfernten Strand. Manchmal fand er am Ufer alte Boote, die mit Ketten an Bäumen festgemacht waren, oder herrenlose, löchrige, die schon lange niemand mehr brauche. Sascha schaute in jedes Boot, in das feuchte oder vertrocknete Innere.
Das Dorf blieb rechter Hand zurück.
Der Weg zog sich in Furchen, als hätte man ihn durchgekaut und ausgespuckt und während die Spucke vertrocknet war, blieben die verbogenen, groben Spuren von Zähnen oder hartem Zahnfleisch zurück.
Der Fluss wurde allmählich breiter. Manchmal war in der Strömung schwaches Plätschern zu hören.
Über dem Gras taumelten unsinnig Mücken.
Sascha ging zu dem Platz, der Timochas Winkel[75 - Timochas Winkel – Тимохин угол] hieß. Der Vater sagte, hier habe einst der Einsiedler Timocha gelebt, neben dem Fluss, der hier tatsächlich unvermittelt abbog und einen Knick bildete. Timocha war an irgendetwas erstickt. Die Fabel schenkte dem schönen stillen Strand mit dem weißen, fast schneefarbenen Sand seinen Namen.
Als kleiner Junge, der sich am Strand das Bäuchlein wärmt, hatte Sascha oft an Timochas Schicksal gedacht, aber in Anbetracht der Abwesenheit selbst eines kleinen Gebäudes, hatten die Überlegungen, wer dieser Timocha überhaupt gewesen war und wieso er ohne Menschen gelebt hatte, zu nichts geführt. Und dann war Saschka baden gegangen.
Manchmal – der Zeit nach zu urteilen, während der Mittagspausen – kamen junge Männer und hübsche Mädchen zum Strand. Irgendwo nicht weit entfernt wurde Torf abgebaut und in der freien Zeit planschte das arbeitende Volk glucksend herum.
Damals hatte der kleine Sascha zum ersten Mal gesehen, wie ein kräftiger Kerl in Badehose, in die sie so etwas wie eine Kartoffelknolle gelegt hatten, eine gut gebaute Schönheit abknutschte, sie an den Hüften streichelte und ihre weißen Brüste rieb, ohne sich vor dem Jungen zu schämen. Das auf dem Rücken liegende Mädchen ließ sich nicht lange auf die Lippen küssen und schlug bald dem Kerl gegen die Brust. Der nahm schließlich seine gierigen heißen Pfoten weg, stand unvermittelt auf und sprang vom hohen Ufer ins Wasser, verschwand fast für eine Minute unter Wasser, sodass die zerzauste Göre, die aufgestanden war und den Büstenhalter gerichtet hatte, sich Sorgen zu machen begann und unter vorgehaltener Hand Ausschau hielt, bis ihr Kavalier schließlich wie ein Wasserteufel am anderen Ufer auftauchte.
Sascha wusste nicht, was größeren Neid in ihm hervorrief – die Kunst, unter Wasser weit zu schwimmen oder dieser freie Umgang mit dem anderen Geschlecht. Das übrigens erschreckte Saschka, es rief eine merkwürdige Mischung aus Verwunderung und Ekel hervor.
Der Vater führte Sascha weiter am Fluss entlang, weg vom Lärm und den ständigen Flüchen, dort hatten sie noch ein anderes Geheimplätzchen – eine von Sträuchern eingewachsene Betonplatte, von der man nicht wusste, wie sie ans Ufer gekommen war. Der untere Teil der Platte ragte in den Fluss. Im Sommer erwärmte sich die Platte und Sascha und der Vater lagen lange auf ihr und schmorten[76 - schmoren – жарились (на солнце)]. Wenn die Sonne unerträglich wurde, gingen Saschka und der Vater bis zu den Knien ins Wasser und übergossen die Platte mit Wasser – davon wurde sie feucht und kalt, sie war wieder gut geeignet, um sich entspannt darauf zu bräunen und auszuruhen.
Er legte eine große Strecke zurück und da er vor so langer Zeit hier gewesen war, verwechselte er die Treppe – Sascha kam nicht bei Timochas Winkel heraus, sondern weiter flussabwärts. Er musste umkehren.
Der Pfad entlang des Flusses, einst von den Fischern und den Arbeitern ausgetreten, war ganz verwachsen, und Sascha ging mit vorsichtigen Storchenschritten[77 - ging mit vorsichtigen Storchenschritten – шел, осторожно и высоко ступая], weil er Angst hatte, auf eine Natter zu treten. Seit der Kindheit hatte er Angst vor Schlangen.
Als er älter war, erfuhr Sascha, dass er bei der Geburt fast gestorben wäre – von der Nabelschnur erwürgt; man sagt, Menschen, die in den ersten Augenblicken ihres Lebens auf dieser Welt einen derartigen Schock erleben, würden sich ihr ganzes Leben vor Schlangen fürchten. Damit begründete Sascha wenigstens seine unglaubliche Angst vor harmlosen Nattern.
Natürlich traf er auf eine Natter, nicht nur auf eine, sondern auf eine ganze Familie, die herausgekrochen war, um sich in der Sonne zu wärmen. Sascha schrie auf, sprang hoch und kam mit gespreizten Beine wieder zu stehen. Die Nattern waren schon weg. Er hätte geschworen[78 - Er hätte geschworen – он был готов поклясться], dass die widerlichen Kreaturen weggekrochen waren, während er in der Luft hing.
Fluchend und ein wenig zitternd sprang Sascha durch die Sträucher und lief weiter bis zu jener Platte, auf der er mit dem Vater immer gelegen hatte.
Die Platte war vom Gebüsch ganz zugewachsen, ihr größter Teil ins Wasser gerutscht und mit grünen, schleimigen Unterwasserpflanzen überwuchert. Auf der Platte zu liegen war jetzt ganz offensichtlich nicht mehr möglich.
Sascha spürte bei diesem Anblick ein gramerfülltes Zucken im Herzen – als würde nicht die Platte im Wasser liegen, sondern ein umgestürztes Denkmal.
Sascha blickte sich nach allen Seiten um, überlegte, wo er sich hinsetzen konnte, um sich seiner Trauer zu überlassen. Er setzte sich ins niedrige Gras am Ufer und zündete eine Zigarette an.
Im Dorf, in der frischen Luft, rauchte es sich immer schlechter – in der schwülen Pestilenz der Stadt ist die Zigarette das Allerliebste, auf dem Dorf aber, wo die Lungen eine Schwindel erregende Frische atmen, ist es fast sträflich, sich eine Zigarette anzuzünden.
Sascha wollte sich noch einmal der Schwermut hingeben, die höchst wohlig und mit Zigarettenrauch vermischt war, allerdings drehte sich ihm der Kopf und die Trauer sammelte sich nicht in einem süßen Klumpen unter dem Herzen, sondern kroch als Trägheit durch den ganzen Körper. Er musste die Zigarette mit dem Absatz im Gras zertreten. Zum unverbrannten Tabak, vermischt mit trockener, schmutziger Erde, krabbelten sofort einige Ameisen.
Timochas Winkel, zu dem Sascha nach einigen Minuten kam, war von hässlichen Kletten überwuchert. Es gab keinen Strand mehr, an seiner Stelle hatte sich eine Sandwüste ausgebreitet.
Sascha schlüpfte aus den Schuhen und ging ins Wasser. Das Wasser war kalt und schleimig wie Sauerteig. Den Lehm zu berühren, war unangenehm – mit seiner vernarbten Kälte erinnerte er an das nackte Zahnfleisch eines alten Menschen.
Sascha stieg aus dem Wasser und setzte sich entkräftet auf den schmutzigen Sand. Er blickte sich um, spuckte aus, stand wieder auf. Er begann die Kletten an den Wurzeln herauszureißen, ein widerliches Gewächs mit langen Wurzeln, unbekannte niederwüchsige Gräser, und säuberte den Strand. Das ausgerissene rötliche, trockene, hässliche Zeug warf er ins Wasser. Die Strömung trug es fort.
Nach etwa eineinhalb Stunden war auf dem Strand kein einziges Gewächs mehr geblieben. Nur abgerissene Wurzeln ragten manchmal hervor. Der Strand war nicht hell und sauber geworden, wie er in Saschas Kindheit gewesen war, nein. Es war, als hätte der Strand an einer Infektion gelitten, den Pocken – und er lag mürrisch da, überzogen von Kerben und Scharten.

Sascha kehrte nach Hause zurück, er aß kein Abendbrot[79 - er aß kein Abendbrot – он не ужинал]. Er stand neben dem schlafenden Großvater, ging hinaus zur Großmutter und sagte, dass er abfahre. Jetzt sofort, er müsse.
Die Großmutter schwieg.
»Du warst doch beim Vater am Grab?«, fragte sie.
»War ich«, log Sascha.
»Wie geht es ihm, ist er aufgestanden?«
Sascha nahm eine Zigarette und begann sie mit den Fingern zu kneten, er wusste nicht, was er antworten sollte.
»Ich werde dir Zwiebeln mitgeben. Und Eier …«, sagte die Großmutter leise.

Kapitel 3
Zu Hause auf dem Tisch lag noch immer sein Zettel.
Mama, die nicht wusste, wohin und für wie lange er weggefahren war, hatte ihm eine Antwort darauf geschrieben: »Irgendwelche in Zivil[80 - in Zivil – в штатском] mit roten Ausweisen und der Revierinspekto[81 - der Revierinspektor – участковый]r sind gekommen was tust du denn Sohn.«
Das Geschriebene war ohne Satzzeichen, weshalb Sascha die bittere Intonation der Mutter noch deutlicher auffiel. Er schob den Zettel aus seinem Blickfeld.
Sascha hielt ein angezündetes Streichholz an den Herd, hob den Wasserkessel automatisch zum Feuer, weil er schon an dessen Gewicht erkannt hatte, dass genügend Wasser drin war, versuchte zu entscheiden, was jetzt zu tun wäre; mit dem Wasserkessel in der Hand erstarrte er, als es an der Tür klingelte.
Er hatte einen Schwächeanfall, ihm wurde übel, saurer alter Speichel floss in seinem Mund zusammen, die fast abgeheilte Lippe begann wieder zu brennen.
Die Wohnung lag im vierten Stock, weshalb er nicht durchs Fenster fliehen konnte.
»Und wenn ich sie einfach nicht reinlasse?«, schoss es ihm durch den Kopf. »Nein, sie wissen, dass ich hier bin. Wahrscheinlich haben sie mich nach Hause kommen sehen … Na und, die Tür werden sie ja wohl nicht aufbrechen? Dafür brauchen sie irgendeine Erlaubnis … Oder hat der Revierinspektor das Recht dazu? Wenn die Staatssicherheit mit dem Revierinspektor kommt, brechen sie die Tür gleich auf … Warum haben sie mich eigentlich nicht auf der Straße geschnappt?«
Schließlich stellte Sascha den Wasserkessel vorsichtig auf das Feuer und ging auf Zehenspitzen zur Tür.
Er stand da, lauschte. Es war still.
Nach einem kurzen Knacken ertönte noch einmal die Klingel, so laut, dass das Geschirr im Schrank klirrte.
Sascha machte einen entschlossenen Schritt nach vorne und schaute durch das Guckloch.
Auf der anderen Seite stand Negativ, ein junger, siebzehnjähriger Bursche aus der lokalen Abteilung des »Sojus Sosidajuschtschich«.
»Hallo«, sagte er, als er Sascha am Guckloch sah.
»Bist du allein?«, fragte Sascha mit gedämpfter Stimme.
»Allein.«
Sascha öffnete die Tür. Negativ trat ein und drückte ihm die Hand, wie immer dabei seitlich nach oben schauend, als würde er etwas suchen; diesmal war es wohl die Deckenlampe, an der sein angewiderter Blick hängenblieb.
»Du musst das Licht im Vorzimmer abdrehen«, sagte er mürrisch. »Sonst sieht man, wenn du durchs Guckloch schaust.«
Negativ war fünf Jahre jünger als Sascha, ein Unterschied, der aber kaum zu merken war, vermutlich deshalb, weil der im Internat aufgewachsene Negativ ein rationaler und harter Typ war, für sein Alter ziemlich kräftig, wenn auch nicht sehr groß.
Ein Schneidezahn war ausgebrochen, was Negativs ohnehin nicht gerade freundlichem Gesicht mit der niedrigen Stirn und den weit auseinander stehenden Augen noch mehr Härte verlieh.
Er wurde Negativ genannt, weil er ständig mit allem und jedem unzufrieden war. Er war kein Nörgler, eher ein Dickkopf, mit eigenen und eindeutigen Vorstellungen vom Leben. Seine schweigsame Unzufriedenheit war wenig jugendlich düster, oft wirkte sie wie Gleichgültigkeit, was sie aber nicht war.
Er lächelte nicht, und schon gar nicht lachte er. Fast nie. Äußerst selten.
»Woher weißt du, dass ich zu Hause bin?«, fragte Sascha.
»Ich wusste es nicht, bin einfach so gekommen«.
»Wie geht’s euch?«, fragte Sascha laut, der sofort in die Küche ging.
»Na, ihr habt da ja was geliefert in Moskau.« Negativ beantwortete die Frage nicht. »Ich hätte auch hinfahren sollen. Sehr schön. Hast du dich in der Glotze[82 - die Glotze – «ящик», телевизор] gesehen?«
»Mich?« Sascha schaltete den nervig wackelnden Teekessel aus und drehte sich zu Negativ um, der die Schuhe ausgezogen hatte und in die Küche gekommen war.
»Du hast das nicht gesehen? Am Anfang hat man dich in der ersten Kolonne sehen können, und einer von euch hat einen Bullen mit einem Knüppel bearbeitet, dann rennen alle weg, Schaufenster klirren, ein Bulle liegt auf dem Boden, und du springst auf seine Kappe. Tolle Aufnahme. Warum nur auf die Kappe, denk ich mir? Wenn du ihm gleich auf den Kopf gesprungen wärst? Ha?«
Sascha erschrak. Es ist nicht sehr angenehm, wenn einige tausend, vielleicht sogar hunderttausend Menschen deine … Späße … gesehen haben.
»Und bin ich dort gut zu erkennen?«, fragte Sascha leise mit heiserer Stimme.
»Na ja, nicht sehr … Ich hab dich aber erkannt … Darf ich rauchen?«
Sascha schaute Negativ eine Zeitlang an.
»Rauch nur. Und gib mir auch eine …«
»Hör mal, deine Freunde sind gekommen«, fuhr Negativ fort und nahm einen tiefen Zug[83 - nahm einen tiefen Zug – глубоко затянулся].
»Welche Freunde denn?« Sascha zündete sich auch eine Zigarette an und starrte Negativ wieder an.
»Der Moskauer Wenja und Rogow aus Sibirien.«
Wieder erschrak Sascha, diesmal etwas weniger.
»Was für ein Teufel hat die denn geritten?«
»Sie sagen, dass sich jetzt alle in Moskau verkriechen[84 - verkriechen – прятаться], sie durchsuchen unsere Löcher. Wenja ist sowieso obdachlos und weiß nicht, wo er leben soll, und Rogow sagte, dass er ein bisschen Angst hat, mit dem Zug nach Sibirien zu fahren; man muss den Pass zeigen, wenn man die Fahrkarte kauft; stattdessen mit der Elektrischka zu fahren … das verstehst du ja wohl: Man wird verrückt, bis man ankommt. Deshalb sind sie …« – Negativ nahm einen tiefen Zug, blies den Rauch aus und verfolgte ihn mit den Augen – »deshalb sind sie zu uns gekommen. Warum bist du so aufgeregt?«
»Die Bullen waren schon zwei Mal bei mir.«
»Du hast sie nicht reingelassen?«
»Nein, ich war nicht da. Sie sind zur Mutter gekommen.«
»Und zu mir«, sagte Negativ.
»Und – was war?«
»Ich hab ihnen nicht aufgemacht. Sie haben zwei Stunden lang geklopft und sind dann gegangen.«
»Und du hast in dieser Zeit mäuschenstill dagesessen.«
»Nein, wir haben uns durch die Tür herzlich unterhalten. Sie haben versprochen, dass sie mir den Arsch aufreißen und mich vermodern lassen.«
Sascha schaute Negativ an und wusste – wie schon so oft zuvor – dessen großen, glasklaren und ungeheuchelten Mut zu schätzen. Negativ fürchtete sich tatsächlich nicht davor, geschlagen zu werden, auch nicht brutal geschlagen zu werden; Drohungen waren ihm absolut egal. Er war schon mehrere Male mit Schlagstöcken verprügelt worden, weil er mit schwarzer Farbe Sprüche wie »Gouverneur, krepiere!« auf die Mauern der Gebietsverwaltung geschmiert oder eben diesem Gouverneur eine Torte ins Gesicht geschmissen hatte. Etwa vor einem halben Jahr hatten sie ihn gefesselt und zwei Tage lang versucht, aus ihm Aussagen über seine Kumpel heraus zu dreschen; eine Woche davor hatte die lokale Abteilung des »Sojus Sosidajuschtschich« das Büro der Scientologen mit Molotow-Cocktails angezündet.
Die Feuerwehr war rechtzeitig zur Brandstelle gekommen, aber es wurde zum großen Skandal. Nach zweitägiger Folter ließen sie Negativ laufen. Beim Essen, Anziehen und Schnürsenkelbinden musste ihm sein jüngerer Bruder Posik eineinhalb Monate lang helfen. Seinen Namen hatte er, weil er das vollkommene Gegenteil von Negativ war, ein gerissener elfjähriger Junge mit ständigem Grinsen auf dem frechen Maul, der jüngste der lokalen »Sojusniki«

Ja, sie nannten sich »Sojusniki«. Dieses anfangs sinnlose Wort bekam mit der Zeit Gewicht, Klang und Bedeutung.
Übrigens wurden sie von den Journalisten mit flinker Feder[85 - mit flinker Feder – с легкой руки] oft als »SSler« bezeichnet – nach den beiden Anfangsbuchstaben der Partei, und bisweilen titulierte man die Mitglieder des »Sojus«, wenn man sie erniedrigen oder auf ihr jugendliches Alter hinweisen wollte, als »Milch- und Schwanzlutscher«[86 - »Milch- und Schwanzlutscher« – (жарг.) «отсосы»].
Negativ verriet keinen der »Sojusniki«, auch sich selbst nicht. Immerhin hatte ja er den Molotow-Cocktail geworfen. Und natürlich nicht allein.
»Die Tür wollten sie aber nicht auf brechen?«, fragte Sascha und schaute auf Negativs Zahnlücke, die er bei einem blöden Streit davongetragen hatte.
»Nein, das wollten sie nicht.«
»Und warum hast du nicht aufgemacht?«
Negativ blickte Sascha entnervt an.
»Haben sie dir ihn Moskau auf den Schädel geschlagen? Ich sagte doch schon, Wenja und Rogow sind bei mir. Zuerst lagen sie unter dem Diwan. Dann haben wir Wenja in einen Teppich gewickelt und in eine Ecke gestellt, und Rogow ist in einen Schrank gekrochen … wir haben uns ganze zwei Stunden lang amüsiert.«
Sascha trank den Tee rasch aus. Eigentlich hatte er essen wollen. Jetzt nicht mehr.
»Wo sind sie?«, fragte er.
»Sie sitzen im Café gegenüber. Trinken zu zweit eine Tasse Kaffee. Gehen wir?«
Sascha holte Geld aus dem Versteck, ein Stück Käse, Zwiebeln vom Dorf, Brot und eine Konservendose, wollte zurück, um der Mutter einige Worte zu schreiben, und ließ es dann doch bleiben. Noch mal schreiben, dass »alles in Ordnung« sei. Mehr als »in Ordnung« gibt es nicht.

»Aha, da sind sie!« Sascha merkte plötzlich, dass er sich sehr freute, Wenja, der mit seiner nicht abgeheilten Nase noch immer schniefte, und den langen Ljoschka zu sehen. Er umarmte sie beide.
Man muss jetzt etwas unternehmen, die Jungs irgendwo unterbringen.
Sascha traute sich nicht, Bekannte von zu Hause aus anzurufen – das Telefon wurde abgehört, so hatte er schon einmal eine Aktion der Partei vergeigt.
Und er hatte auch keine Bekannten, bei denen sie zu dritt hätten übernachten können.
»Und nicht einmal ich allein«, dachte Sascha plötzlich verwundert, ohne dass es ihn traurig machte.
Es hatte sich in den letzten Jahren so ergeben, dass sich Saschas Gesprächspartner auf die Parteigenossen beschränkten. Nicht, dass er für andere Freundschaften keine Zeit hatte, obwohl, nein, er hatte keine Zeit, aber das Wichtigste war, dass er sie schon nicht mehr brauchte, warum auch, es war nicht interessant.
Es würde sich auch nicht lohnen, in die Wohnungen lokaler »Sojusniki« zu gehen – und zwar aus ganz offensichtlichen Gründen: Jederzeit könnten welche in Zivil hereinplatzen.
Auf der Straße begann es zu nieseln – dennoch verließen sie das verrauchte Café mit der lästigen Musik und den unverschämten Preisen und marschierten fröhlich hinaus – schwelgten in Erinnerungen und übertrumpften einander damit, was in Moskau nicht alles geschehen war …
Negativ hörte interessiert zu, manchmal blickte er dem, der gerade sprach, aufmerksam ins Gesicht.
Sie blieben an einem Kiosk stehen, Sascha kaufte eine Flasche Wodka und drei Plastikbecher – Negativ trank nicht, weil ihn der Alkohol immer zum Tier werden ließ.
Rogow erhob keinen Protest gegen den Kauf, Wenja zeigte sich erfreut.
Sie gingen auf einen Kinderspielplatz, auf dem Sascha in seiner frühen Jugend viele Stunden verbracht und unterschiedlich starken Alkohol ausprobiert hatte, um seine mehr oder auch weniger gefügigen Altersgenossinnen genauer zu untersuchen.
Sie setzten sich auf ein Spielzeughäuschen, Sascha holte Käse und Brot aus der Tasche.
»Nur ein Messer haben wir keins«, sagte er und drehte eine Konservenbüchse in der Hand.
Rogow zog schweigend ein Federmesser aus dem Rucksack. Geschickt öffnete er die Büchse.
Sie schenkten ein, stießen an …
Bald fühlten sie sich wohl, nur die Arschbacken wurden auf der feuchten Bank kalt. Sascha stand immer wieder auf und ging herum, Rogow legte sich den Rucksack unter, Wenja war es offenbar egal.
Negativ setzte sich nicht, er hörte zu. Er nahm ein Stück Käserinde, nagte immer wieder ein kleines Stück davon ab und kaute langsam.
»Da, nimm.« Sascha gab ihm ein Stück Käse.
Negativ nahm es. Er wartete, bis alle das Gespräch fortsetzten und legte es dann unbemerkt zurück.
»Wie viele haben sie genau geschnappt, weiß das jemand?«, fragte Sascha.
»Dreiundneunzig Personen, hieß es in den Nachrichten«, antwortete Negativ, allerdings erst, nachdem Wenja und Rogow mit den Schultern gezuckt hatten. Negativ beeilte sich nie, als Erster zu antworten.
»Was wird ihnen vorgeworfen?«
»Fast alle haben administrative Strafen bekommen. Je fünfzehn Tage.«
»Was sind sie denn so … gnädig …«, wunderte sich Wenja, der das Wort »gnädig« von irgendwo hergeholt hatte, ein Wort, das ganz und gar nicht zu seinem Wortschatz passte.
»Kannst du dir vorstellen, was für ein Prozess das gegen dreiundneunzig Personen sein soll? Die ganze Welt wird das erfahren. Das brauchen die doch nicht einmal im Arsch …«, meinte Sascha.
»Trotzdem werden sie zur Abschreckung fünf einsperren«, sagte Rogow.
Im »Sojus« wunderte man sich schon lange nicht mehr über neue Knastgänger[87 - Knastgänger – «сидельцы»] – mehr als vierzig Personen waren schon erwischt worden und saßen hinter Gittern. Diese Liste wurde nie kürzer, kamen die einen raus, saßen andere ein. Bezeichnenderweise waren fast alle Häftlinge »Terroristen mit Samtpfoten«[88 - »Terroristen mit Samtpfoten« – «бархатные террористы»] – sie hatten Eier geworfen, oder bekannte und unangenehme Personen mit Mayonnaise überschüttet. Trotzdem bekam man für ein beschädigtes Sakko einige Monate, vielleicht sogar ein Jahr Gefängnis.
Die einzig echte Strafe hatte ein Kerl aus der Ukraine erhalten, der sich mit Expropriation beschäftigt hatte und zehn Jahre verschärftes Lager bekam.
Sie schwiegen einen Augenblick, bedauerten die Jungs, zumindest Sascha wusste genau, dass sie ihm leid taten, auch bei Ljoschka und Rogow war eine Portion Bruderliebe und Mitleid zu spüren. Was Negativ und Wenja betrifft, so war bei ihnen aus unterschiedlichsten Gründen nicht alles ganz so eindeutig.
Negativ empfand eher etwas wie Ärger, der in soliden, unaufgeregten Groll überging, und dieser Ärger war gegen alle gerichtet, die in seinem Land die Macht repräsentierten – vom Milizionär an der Straßenecke bis zum Herrn Präsidenten.
Wenja war all das scheißegal, dachte Sascha. Und scheißegal war es ihm vermutlich nicht deshalb, weil sich Wenja nie selbst leid tat. Der Grund war vielmehr – Wenja nahm das Gefängnis absolut gelassen, er war immer darauf gefasst, reinzukommen, wenn er sich auch nicht gerade darum riss. Das ergab, wenn man zusammenrechnet, wie oft Wenja schon fünfzehn Tage bekommen hatte, insgesamt eine ganz schöne Zeit.
Doch sie schwiegen alle …
Sie schenkten ein, stießen ein letztes Mal an.
»Wir haben’s einmal gemacht und werden es wieder machen!«, sagte Sascha, in dessen Worten nicht das geringste Pathos lag. Rogow nickte, Wenja lachte auf, Negativs Gesicht konnte Sascha nicht sehen.
Sie tranken rasch aus, schnupperten an den Ärmeln
und gingen weiter. Rogow sammelte den Müll in einer Plastiktüte und trug ihn zum Abfalleimer.
Sascha überlegte, wo man noch drei weitere Stunden verbringen konnte.
Ruhig und gut gelaunt gingen sie zum Gebäude der Universität. Sascha befahl allen, das Außenseiter-Gegrinse abzulegen und die offenen Gesichter von tagtäglichen Besuchern einer höheren Lehranstalt aufzusetzen – entweder von Studenten höherer Semester oder von Doktoranden. So kamen sie auch beim Wärter vorbei, der mit ernster Miene die Lippen zusammengepresst hielt. Rogow, natürlich ruhig, weil er kein Gesicht aufsetzen musste, sondern seines behielt, Negativ, der sich zur Seite gedreht und das Kinn im Jackenkragen verborgen hatte, und Wenja, der durch die Anspannung der Gesichtsmuskeln plötzlich dumm aussah.
Den Philosophiedozent Aleksej Konstantinowitsch Besletow kannte Sascha schon lange. Die Bekanntschaft zwischen Sascha, der nirgendwo studiert hatte, und dem Dozenten der Geisteswissenschaft war leicht zu erklären: Besletow war ein Schüler seines Vaters.
Sascha war ungefähr vierzehn, als er den jungen, schmalen Besletow, der damals knapp über zwanzig gewesen war, zum ersten Mal gesehen hatte.
Besletow hatte sie einige Male besucht, spielte lange mit seinem flauschigen Schal, den er mehrfach um seinen Hals gewunden hatte. Dann wurde Tee getrunken. Der Vater und er besprachen etwas, der Vater ruhig, Besletow zuckte manchmal mit den Schultern, als würden sie unter seinem Hemd abbröckeln. Der Vater achtete nicht darauf.
Der Vater war überhaupt sehr ruhig, er sprach niemals über Politik, obwohl die wirre oder vielmehr dumme und daher noch widerwärtigere Zeit das durchaus begünstigt hätte.
Dass Besletow äußerst liberale Ansichten vertrat, erfuhr Sascha erst viel später. Und er war sich bis heute nicht im Klaren darüber[89 - sich über etwas im Klaren sein – знать что-то], was er davon halten sollte, dass der Vater niemals über »Umbrüche« und »Schicksale« gestritten hatte. Wie ließ sich das erklären? Doch nicht mit Gleichmut …
Besletow war der einzige von Vaters Freunden und Bekannten, der mit ins Dorf zum Begräbnis gefahren war.
Während des Begräbnisses gingen Sascha und Besletow zum »Du« über[90 - zum »Du« übergehen – перейти на «ты»], sahen sich dann aber einige Jahre nicht, und in dieser Zeit verlor sich die kurzfristige Nähe wieder. Ihre Bekanntschaft wurde erneuert, als sich ganz unverhofft herausstellte, dass Saschas Freundin bei Aleksej Konstantinowitsch Philosophie studierte. Sie fragte Sascha, als sie sich einmal nach dem Unterricht vor dem Hörsaal trafen:
»Kennst Du eigentlich Aleksej Konstantinowitsch, der bei uns Philosophie unterrichtet?«
Im selben Moment gab Sascha Besletow die Hand und beschloss, wegen dessen zupackendem Händedruck sowie der lehrerhaften Körperhaltung zu vergessen, dass sie per Du waren.
»Ja, Aleksej Konstantinowitsch und ich … wir sind miteinander bekannt.«
Einige Male begegneten Sascha und Besletow einander auf dem Gang der Universität und tauschten im Vorbeigehen einen Händedruck aus, bis Sascha sich mit seiner Freundin aus einem banalen und längst vergessenen Grund zerstritt und Besletow abermals für eine Weile aus den Augen verlor.
Vor kaum mehr als einem Monat gab es eine lokale Veranstaltung des »Sojus« und Sascha traf unmittelbar nach dem Ende der wie immer lautstarken und mit Provokationen gespickten Aktion mit Besletow zusammen.
»Ich habe beobachtet, wie ihr dort … herumschreit«, sagte Besletow sanftmütig und mit professoralem Lächeln.
Sascha empfand wegen seiner sozusagen politischen Einstellungen schon lange keine Hemmungen mehr. (In Wirklichkeit ging es ihm niemals nur um Politik, sondern um das, was vielleicht den einzigen Sinn seines Lebens ausmachte.) Dieses Mal verspürte er jedoch ein leises Gefühl von Peinlichkeit. Vielleicht wegen seiner rauen Kehle, die gerade erst gebrüllt hatte: »Präsident, hau ab!« Vielleicht auch wegen seiner tiefsitzenden Verbitterung, die ihm immer noch ins Gesicht geschrieben stand. Er war nur zu vertraut mit der groben Miliz, die sie unverständlicherweise dieses Mal nicht hochgenommen hatte: Normalerweise schleppten sie die »Sojusniki« am Ende einer Demonstration auf die Wache, wo diese zum hundertsten Mal fotografiert und ihnen »die Finger abgenommen«[91 - »die Finger abnehmen« – «снимать пальчики» (снимать отпечатки пальцев)] wurden.
Kurz gesagt, Sascha gelang es nicht, sich umzustellen, und er sah Besletow mit einem mühsam erzwungenen sonderbaren Lächeln an.
Dieser brach plötzlich in ein gutes, weil jugendliches und ehrliches Lachen aus und sagte: »Ihr werdet’s schwer haben.«
Besletow hatte Sascha eingeladen, zur Uni zu kommen, um miteinander zu sprechen (»Kannst auch Freunde mitbringen …«), und er hatte das so getan, dass Sascha tatsächlich kommen wollte.
Es gab neben der gütigen Aufrichtigkeit von Besletow noch andere Gründe für einen Besuch.
Saschas Vater war ein gebildeter Mensch – fast ein Professor, aber Sascha fühlte sich immer wie ein Straßenköter. Vielleicht, weil er nicht studiert hatte und die richtigen Bücher erst nach der Armee zu lesen begonnen hatte, vor der ihn auch die Mutter, eine im Grunde einfache Frau, nicht hatte bewahren konnte.
Vielleicht fehlte es Sascha an Sicherheit, weil der Vater sich nie mit ihm beschäftigt hatte, er sprach sogar selten mit seinem Sohn. Es war so: Der Vater brauchte den Umgang nicht, und Sascha drängte sich nicht auf, vielleicht war’s auch umgekehrt: Der Vater drängte sich nicht auf, und Sascha brauchte den Kontakt damals nicht.
Aber seit Kurzem zog es Sascha zu Menschen, die die Welt scheinbar besser verstanden – zumindest mithilfe jener gedruckten Quellen, bis zu denen Sascha es nicht geschafft hatte.
Besletow hob die Augen oder genauer – er zog die Brauen hoch.
Mit seinen Allüren erinnerte er immer mehr an einen pathetischen Theaterschauspieler.
»Sascha?«
»Wir sind einfach so gekommen.«
»Ach ja, ich hatte dich eingeladen, ich erinnere mich …«
Sie standen im Gang. Besletow schüttelte allen die Hand, schaute die Ankömmlinge dabei aufmerksam an und lächelte nicht. Er war nicht groß, hatte glatte dunkle Haare und runde Schultern. Früher, konnte sich Sascha erinnern, mühte sich Besletow die ganze Zeit mit seinem Gesicht ab, als wäre er ständig auf der Suche nach der richtigen Emotion und dem genauen Wort. Jetzt war er ruhig, und seine Wangen hingen ein wenig herunter, wodurch der Gesichtsausdruck leicht angewidert war.
»Wisst ihr, ich schließe das Institut gerade«, sagte er. »Hier gegenüber gibt’s ein billiges und ruhiges Café. Vielleicht setzen wir uns dorthin? Auf eine Tasse Tee?«
»Gehen wir«, stimmte Sascha zu, obwohl er nicht mehr sehr viel Geld hatte.
»Ich schaue noch im Dekanat vorbei und … komme gleich …«, versprach Besletow. Die Jungs gingen wieder an dem strengen Wärter vorbei und waren zwei Minuten später im Café. Es war halbleer, und die Musik spielte tatsächlich leise. In der Ecke flimmerte ein Fernsehgerät. Auf dem Bildschirm waren Männer in Helmen und auf Motorrädern zu sehen. Sie fuhren im Kreis, fielen oft hin und wirbelten in den Kurven Dreck auf.
Die Karte wurde gebracht. Sascha hob das erste Blatt des in Leder gebundenen Heftes mit dem Zeigefinger an und wusste schon, dass er nichts bestellen würde.
»Ich habe noch Geld«, sagte Rogow. Niemand hatte ihn danach gefragt, aber die Frage hing in der Luft. Natürlich hob sich bei allen die Stimmung.
»Ein Bier?«, fragte Rogow.
»Ich nicht«, sagte Negativ.
»Tee?«
»Ich will nichts.« Negativ verstand es, so abzulehnen, dass niemand mehr etwas vorschlug.
Alle begannen zu rauchen und sahen sich um.
Besletow kam bald, streng, in einer kurzen Jacke, mit einer Aktentasche.
Als er die Jacke auszog, bemerkte Sascha Besletows beginnenden Bauchansatz.
Er setzte sich schweigend, stellte die Aktentasche neben den Stuhl, nahm seine Zigaretten raus.
»Er hat keine Bartstoppeln«, fiel Sascha plötzlich auf – »ein weißes Gesicht. Ein kluges und vermutlich schönes Gesicht. … Und wie er die Brauen zusammenzog …«
Ohne dass man ihr Kommen gehört hätte, stand die Kellnerin vor ihnen, Besletow bestellte Kaffee.
Die Pause zog sich in die Länge.
Sascha schwieg absichtlich – ihm gefiel das ganze Treffen schon nicht, als sie noch in der Universität waren.
»Was schaut er so?«, dachte er und sah in Besletows Gesicht. »Hab ich etwa Geld von ihm geliehen?«
»Macht ihr immer noch Radau?«, fragte Besletow, der seine Zigarette angezündet hatte und Saschas eindringlichen Blick spürte.
»Was bleibt sonst übrig?«, antwortete Sascha rhetorisch. Er hatte sofort verstanden, dass es um die Moskauer Krawalle ging.
Besletow zog kräftig an der Zigarette und dankte – den Rauch dabei anhaltend – mit leicht gepresster Stimme der Kellnerin für den Kaffee.
»Denkt ihr, dass das, was ihr da angefangen habt, gut ist? Richtig?«
»Gut und richtig«, antwortete Sascha. Besletow zuckte mit den Schultern.
»Und welchen Sinn hat das?«
»Das ist eine sehr lange Frage.«
»Es ist eine geradezu kurze Frage … Gut, ihr verlangt: ›Gebt uns eine nationale Idee…‹«
»Wie der jetzt redet…«, dachte Sascha schnell und unterbrach Besletow sofort.
»Wir bitten um nichts. Ich bitte um nichts. Ich bin Russe. Das reicht. Ich brauche keine Ideen.«
»Ich bin Russe«, äffte Besletow düster nach. »Und was macht ihr mit den Nicht-Russen?«
»Hören Sie, Aleksej Konstantinowitsch, verdrehen Sie hier nichts[92 - verdrehen Sie hier nichts – не передергивайте] … Niemand wird die Nicht-Russen irgendwo hintun[93 - Niemand wird die Nicht-Russen irgendwo hintun – Никто никуда не будет девать нерусских], Sie wissen das ganz genau.«
»Und warum, Sascha, beginnst du dann sofort mit den Worten ›Ich bin Russe‹?«
»So ist das also«, dachte Sascha abermals, »er ist mit mir per Du, aber ich mit ihm …«
»Ich beginne nicht …«, erwiderte Sascha. »Ich sage nur, dass ich keine nationalen Ideen brauche. Verstehen Sie? Ich brauche weder eine ästhetische noch eine moralische Begründung dafür, meine Mutter zu lieben oder mich an meinen Vater zu erinnern …«
»Ich verstehe. Aber warum bist du dann in diese … in eure Partei eingetreten?«
»Sie braucht auch keine Ideen. Und keine Heimat.«
»Ach nein, alle diese Wörter, mal ›Russe‹, mal ›Heimat‹. Bitte nicht.«
»Den Namen nicht beschmutzen, nicht wahr?«, sagte Sascha versöhnlich. »Ich bin einverstanden.«
»Was heißt zum Teufel ›nicht beschmutzen‹?« Besletow wurde wütend. »Ihr habt doch gar keine Beziehung zur Heimat. Und die Heimat keine zu euch. Es gibt keine Heimat mehr. Es ist vorbei, sie hat sich aufgelöst! Und noch viel weniger zahlt es sich aus, irgendjemand mit allen euren Widerwärtigkeiten zu provozieren, mit dem Zertrümmern von Fenstern, irgendwelcher Visagen und was ihr noch so zerschlagt …«
»Besser, leise zur Seite treten[94 - zur Seite treten – отойти в сторону]«, antwortete Sascha in Besletows Ton, nur um einen Halbton tiefer.
»Besser, leise zur Seite treten, als sich der Niedertracht hinzugeben.«
»Besser leise in eine andere Welt hinübergehen«, sagte Sascha.
»Ja, stell dir vor. Das ist besser. Vor Gott ist das besser. Alle eure Demonstrationen und euer Fahnenschwenken – das hat schon lange keinen Sinn mehr. Ihr werdet gar nichts ändern. Aber wenn ihr damit anfangt, Blut zu vergießen … wenn ihr nicht schon damit begonnen habt…« – hier erhob Besletow abermals seine Stimme, »dann …«
Besletow zog an der Zigarette und drückte sie dann wütend aus, als wollte er einen ekligen Wurm zermalmen.
Alle saßen stumm da. Wenja bohrte mit einem Zahnstocher Löcher in die Zigarettenpackung, Negativ schaute zum Fernseher. Rogow sah auf die Tischplatte und wippte unter dem Tisch mit dem Bein.
»Und Ihnen, Ihnen gefällt das alles?«, fragte Sascha, der äußerst ruhig geworden war, in den Rhythmus des Gespräches gefunden hatte und Besletow interessiert musterte.
»Du willst nicht verstehen, Sascha. Hier gibt es nichts mehr, was einem gefallen könnte. Hier ist nur noch eine Leerstelle. Hier gibt’s nicht mal einen ›Boden‹. Kein Vaterland, kein Land, an dem der Staat – wie es jetzt so modern heißt – geo-po-li-tisch interessiert wäre. Und einen Staat gibt es auch nicht.
»Auf diesem Boden lebt aber das Volk«, sagte Sascha, der keinen Streit sondern verstehen wollte, wovon Besletow sprach.
»Dein Volk« – er sprach das Wort »Volk« in die Länge gezogen aus – »ist unzurechnungsfähig[95 - unzurechnungsfähig – невменяемый]. Um sich davon zu überzeugen, reicht es, sich ein beliebiges Gespräch in einem öffentlichen Verkehrsmittel anzuhören … Denkst du, dass dieses Volk, das zur Hälfte aus Rentnern und zur andern aus Alkoholikern besteht, einen Boden braucht?«
»Die am Leben sind, brauchen ihn.«
»Es gibt nicht genug Lebende für diesen Boden.«
»Genug.«
Besletow schaute Sascha ironisch an, bewegte sich nicht, um Wenja vorbeizulassen, der offenbar zur Toilette wollte; kaum hatte sich Wenja vorbeigedrängt, sagte er: »Lieber Sascha, darum geht es nicht.«
Sascha fiel auf, dass sich Besletows Tonfall unablässig änderte – von Gereiztheit zu Beflissenheit und leicht herablassender Milde. Im Übrigen waren diese Wechsel ziemlich artistisch, geradezu fließende Übergänge.
»Es geht darum, dass man gar nichts tun muss. Man muss nichts tun. Denn solange die R-u-s-s-e-n leise vor sich hin saufen[96 - saufen – пить] und ihnen alles scheißegal ist, geht alles seinen Gang[97 - geht alles seinen Gang – все идет свои чередом]. Der Wodka wird gekühlt, die Kartoffeln werden gebraten. Und sobald die R-u-s-s-e-n anfangen, sich an ihre verlorengegangene Größe und an das Schicksal der Heimat zu erinnern, an … oder worüber sprecht ihr die ganze Zeit eigentlich? … dann fangt ihr an, euch gegenseitig abzustechen. Und ihr werdet so viel Blut fließen lassen, dass der halbe Kontinent damit überzogen wird. Das ist unausweichlich, Sascha. Ich denke natürlich, dass sie euch schon davor niedermetzeln. Und wenn man das Blut einfach zynisch in Litern misst, dann ist das natürlich richtiger. Richtiger und weniger blutig.«
»Aber dieses Land wird es bald nicht mehr geben, Aleksej …« Sascha schnitt den Vatersnamen von Besletows Vornamen ab, weil er »Konstantinowitsch« nicht aussprechen wollte.
»Ich sagte dir doch, dass es schon jetzt nicht mehr existiert«, antwortete Besletow schnell.
»Lasst die Menschen ruhig in ihren Winkeln leben. Gebt diesen Russen, um die ihr so besorgt seid, die Möglichkeit, ihr Leben r-u-h-i-g zu Ende zu leben. Ihr werdet ihnen nichts Gutes tun, versteht das doch. Ihr werdet ihnen stattdessen nur noch mehr Unglück bringen. Außerdem hofft ihr vergeblich auf sie. Sie sind genau solche Russen wie … die heutigen Griechen im Vergleich zu den alten. Wie assyrische Krieger im Vergleich zu den assyrischen Schuhputzern in Moskau.«
Sascha trank sein Bier aus und blickte auch zum Fernseher, dessen Bild Negativ so angezogen hatte. Die Motorradfahrer fuhren weiterhin im Kreis. Dann schaute er auf Rogow, der den Kopf im Takt zu etwas bewegte, das in ihm selbst vor sich ging.
»Verstehst du, Sascha«, Besletow senkte abermals die Stimme: »Mir war das, was ihr macht, sympathisch. Es war ein ästhetisches Projekt, das gerade vor dem Hintergrund der herrschenden Schwermut und Wirren interessant war. Aber ihr habt die Grenze überschritten. Nun beginnt etwas, von dem ihr nicht mehr zurückkönnt. Hört jetzt auf. Macht das, was ihr früher gemacht habt. Das war äußerst lebendig – eure Flugblätter, eure Reden, eure Schreie in der Öffentlichkeit, die Fahnen. Eure Mädchen sind natürlich und haben feine Gesichter … Das ist nicht ganz russisch, entspricht nicht unserer Tradition, aber trotzdem lebendig. Überhaupt ist das Russisch-Sein heutzutage nicht allen eigen…« Besletow wurde mit dem Lauf seiner Gedanken immer angeregter: »Die R-u-s-s-e-n haben ihr Russisch-Sein verloren. Erhalten hat es sich noch bei einigen wenigen Menschen, als ein durchaus spirituelles Prinzip, und so, so Gott will, wird es noch einige Zeit erhalten bleiben. Vielleicht einige Jahrhunderte.«
»Wo ist es noch erhalten?« Sascha war aufrichtig verwundert. »In einem Land, das in dreißig Jahren ausstirbt und von Chinesen und Tschetschenen besiedelt sein wird?«
»Nein, natürlich nicht. Aber die Juden haben ihr Judentum im Laufe von zweitausend Jahren auch irgendwie erhalten. Russische Gemeinden leben auf der ganzen Welt, niemand stört sie. Die noch immer lebendige Kultur ist der wichtigste und – ja, der einzige Faktor russischen Geistes. Der Geist lebt schon fast nirgendwo mehr – nur in einzelnen Menschen, die Bilder malen oder Bücher schreiben, oder … na ja, unwichtig. Das Volk ist nicht mehr Träger des Geistes und daher auch zu nichts imstande. Alles, was wir der Welt noch geben können, ist, das Leben unseres Geistes darzustellen.«
»Im Moment des Zerfalls dieses Geistes …«, fügte Sascha müde hinzu.
»Sascha, alles hängt von euch selbst ab. Wenn ihr das blutige Chaos, das ihr euch wünscht, tatsächlich anrichtet, wird der Zerfall nur beschleunigt. Ruft nicht die bösen Geister an. Ruft die Engel!« Besletow lächelte sanftmütig wegen des Pathos seiner Aussage und schwächte damit dessen Beigeschmack ein wenig ab. »Wirkliche Ereignisse geschehen in der Welt des Geistes, Sascha. Der wahrhafte russische Mensch ist ›Geist‹«. Bei jeder Wiederholung verstärkte er seine Stimme: »Der wahrhaft russische Mensch ist jener Mensch, der die Wahrheit sucht. Russland«, schloss er, »muss in eine geistige Dimension eintreten. So wird es besser sein.«
»Und wo sollen wir hingehen?«, fragte Wenja, der zurückgekommen war und plötzlich hinter Besletow stand.
Besletow drehte sich halb um, ohne Wenja richtig anzusehen, und wandte sich sofort wieder seiner Tasse Kaffee zu. Er trank aus, blickte auf den Tassenboden, schwenkte die Tasse und stellte sie auf den Tisch, ließ auf dem Tisch einen frischen Geldschein, die Bezahlung für den Kaffee plus Trinkgeld, und ging nach einer raschen Verabschiedung hinaus.
Niemand sagte ein Wort. Negativ schaute nach wie vor auf den Fernseher.
»Wie hat euch das … Gespräch gefallen?«, fragte Sascha auf der Straße. Sascha ging neben Negativ, der als erster antworten musste.
»Mir egal«, antwortete Negativ. »Ich verstehe nur nicht, warum zum Teufel du uns hierher gebracht hast?«
»Zum Teufel mit ihm«, meinte Wenja.
Rogow schwieg.
»Ljosch!«, rief Sascha.
»Und hast du was Neues gehört?«, antwortete Rogow, der ganz offenkundig gerade irgendwelche Gedanken, denen er nachgehangen war, abschüttelte.
Sascha zuckte mit den Schultern.
»Vor zehn Jahren«, sagte Rogow, »war er sicherlich ein Liberaler und forderte … all das, was sie damals verlangt haben … den Sklaven bis auf den letzten Tropfen aus sich zu vertreiben … die Sühne, all das andere …«
»Ja«, stimmte Sascha zu, der sich ehrlich freute, dass Besletows Worte den wie immer ruhigen Rogow nicht im Geringsten berührt hatten.
»Und damals hat er sich vermutlich nicht von jenen Ideen leiten lassen, die er jetzt verkündet. Davon, dass man sich distanzieren muss. Und dass ein schwerer chirurgischer Eingriff nicht gerade gottgewollt ist[98 - Und dass ein schwerer chirurgischer Eingriff nicht gerade gottgewollt ist. – И что жесткое хирургическое вмешательство не богоугодно.]. Sie haben ja überhaupt immer gleich so gern den lieben Gott ins Spiel gebracht … Als sie damals mit stumpfem Messer am lebendigen Leib herumschnippelten, da kam er ihnen sehr gelegen, und jetzt auch. Alles was sie je gemacht haben … Denen wurde Gott offenbar als Lauf bursche für alles und jedes abgestellt …«
Rogow blieb stehen und zündete sich eine Zigarette an.
»Und dann, hast du das bemerkt, Sascha, der hält dich und uns alle doch für assyrische Schuhputzer, sich selbst aber für den Hüter des russischen Geistes … Na ja, soll er …«
»Wohin gehen wir?«, fragte Wenja, der von der ganzen Diskussion gelangweilt war.
»Wir mischen uns unters Volk. Wodka trinken«, antwortete Rogow. »Folgende Bedingungen: Der Raum muss warm sein und der Wodka billig. Wo gibt es bei euch den billigsten Wodka?«
»Am Bahnhof«, antwortete Sascha. »Das ist ganz in der Nähe.«

Die Fleischfüllung der Pelmeni war – dem Geschmack nach zu schließen – durch gut zerkautes Papier, vermutlich Löschpapier, ersetzt worden. Die Mayonnaise, die wie graublauer Aufstrich am Tellerrand klebte, war sauer.
»Das Brot ist feucht …«, sagte Rogow angewidert und schob das Stück Roggenbrot, das wie teurer Fisch fast durchsichtig war (und auch nach Fisch roch), beiseite; Negativ hingegen schnappte sich das Brot und legte es mitten in die Mayonnaise auf seinem Teller.
Sascha hatte ordentlichen Appetit – nach den auf drei hohe, geschliffene Gläser[99 - geschliffene Gläser – граненые стаканы] aufgeteilten hundert Gramm Wodka schienen auch die Pelmeni durchaus essbar. Ja, und dann erst recht mit dem Bier …
Die Imbissstube beim Bahnhof war gefüllt mit lauten, scheußlich gekleideten Menschen vorwiegend männlichen Geschlechts. Auf ihren Tischen war kein Essen zu sehen – nur Wodka. Sie tranken die Gläser in einem Zug aus[100 - in einem Zug austrinken – выпивать залпом], bewegten dabei ihre bläulichen, angesengt wirkenden Adamsäpfel, und schauten dann lange grübelnd ins Glas.
Ein unrasierter und düsterer Mann unbestimmten Alters in einem schmutzigen Tarnanzug stach aus der Menge hervor. Anscheinend fehlte ihm ein Arm.
Sascha und Wenja bemerkten nicht, dass sie nach dem dritten Glas laut zu sprechen begonnen hatten und dabei heftig gestikulierten. Negativ schwieg wie immer und kaute sorgfältig an Brot und Pelmeni. Sascha bemerkte, dass immer, wenn er selbst ein Lokal betrat, er sich mehrmals umschaute, um zu sehen, welche Leute sich in seiner Umgebung befanden, Negativ hingegen sich überhaupt nicht dafür interessierte, wer da trinkt und isst. Es schien, als wäre Negativ zu sich nach Hause gekommen, wo er alles seit Langem kennt. Rogow machte keinen Lärm und wurde nicht betrunken, lediglich in seinem Gesicht bildeten sich rosafarbene, klar abgegrenzte Flecken. Sascha sah Rogow an und bemerkte mit betrunkenem Erstaunen: Würde man den Fleck auf der linken Wange umranden, dann ergäbe das den Umriss von Afrika. Sascha reckte mehrmals den Hals, um die Form des Flecks auf Rogows rechter Wange zu beäugen, bis Ljoscha ihn fragend anschaute.
Sascha schüttelte den Kopf: »Nichts.«
Rogow lächelte sanft.
»Ljosch, erzähl weiter über dieses Gespräch«, bat Sascha. »Es ist gut, was Du sagst.«
»Was gibt’s da zu sagen …« Rogow war abermals ehrlich verwundert. »Ist leichter, sich hinzulegen und zu sterben, als diesem Typ zuzuhören. Die Russen sollen sich nach seiner Logik überhaupt alle hundert Jahre hinlegen und sterben. Sobald sie nur anfangen, ›Blut zu vergießen‹. Ich sehe keinen Unterschied zwischen heute und dem, was war … vor langer Zeit. Ich sehe auch keinen Unterschied zwischen mir und meinem Großvater.«
Rogow sprach langsam, als würde er jedes Wort durch einen Fleischwolf drehen.
»Nein, Ljosch, warte, was ist mit ›Blut vergießen‹? Wird das wirklich geschehen?«
»Alle tun das …«
»Besletow würde sagen, dass alle das Blut der anderen vergießen, wir aber vergießen das unserer eigenen Leute.«
»Besletow ist sein Familienname?«, fragte Rogow nach und sagte, ohne auf eine Antwort zu warten: »Na und, ist das schlecht? Es ist ehrlicher, die Eigenen niederzumetzeln, als in benachbarten Ländern herumzutrampeln.«
»Sind wir dort etwa nicht herumgetrampelt?«
»Also, es ist eine Sache, einen Viehwaggon mit Balten
auf die Kamtschatka zu transportieren, die vor Hitler ihre Beine breit gemacht hätten, wäre nicht der Rotarmist mit der Uschanka gekommen[101 - die vor Hitler ihre Beine breit gemacht hätten, wäre nicht der Rotarmist mit der Uschanka gekommen – которые легли бы под Гитлера, если бы не пришел красноармеец в ушанке]; etwas anderes ist es, eine Bombe auf eine Stadt mit Kindern zu werfen und alle sofort zu töten. Besteht da ein Unterschied?«
»Ja.«
»Wir bringen einander um, weil in Russland die einen die Wahrheit so, die anderen anders verstehen. Das ist sowohl Blutbad als auch Erkenntnis.«
»Eine Erkenntnis, ja«, wiederholte Sascha, »so eine Erkenntnis, dass…«
»Ja, genau so eine.«
Die Jungs gingen zum Pissen nach draußen, Negativ blieb, um den noch nicht getrunkenen Wodka und die restlichen, kalt gewordenen Pelmeni zu bewachen.
Der Platz zum Austreten[102 - der Platz zum Austreten – отхожее место] befand sich direkt hinter dem Café und war wegen des beißenden Gestanks leicht zu finden.
Sie traten nicht in den Matsch, sondern stellten sich zu dritt an die graue Mauer irgendeines Gebäudes neben dem Café. Sie standen einer kleinen Erhöhung gegenüber und alles floss zu ihnen zurück. Der Urin der Jungs rann perlend zu einem Bach zusammen.
Erleichtert, frisch und gut gelaunt kamen sie zurück.
»Noch ein Bier?«, schlug Sascha vor.
»Na klar«, antwortete Wenja. Rogow nickte.
Als Sascha mit den Flaschen zurückkam, stand der unrasierte Mann im Kampfanzug bereits am Tisch und – schwieg. Der linke Ärmel seiner Jacke hing herab, tatsächlich fehlte ihm ein Arm.
»Ich hab gehört, ihr redet da …« Er artikulierte mühsam, schwieg, stockte.
»Sehr richtig«, setzte Sascha fort. Im Rausch[103 - im Rausch – в хмелю] wurde er streitsüchtig.
Wenja lachte. Am Rand von Rogows Lippen hing ein Lächeln. Negativ blieb undurchschaubar.
»Ihr habt gesagt, dass wir nie irgendwo eingedrungen sind, ihr Grünschnäbel[104 - Grünschnäbel – юнцы, молокососы]. Und was ist mit Afghanistan? – Fahrer des einhundertsechsundsiebzigsten motorisierten Gebirgsjägerregiments. Vierzehn Mal unter Beschuss. Zwei Verwundungen, ihr Grünschnäbel.«
»Ihr Grünschnäbel«, sagte er ohne beleidigenden Unterton – einfach wie »Jungs«.
Der Afghanistanveteran sah Sascha, der ihm mit einer offenen Bierflasche in der Hand direkt gegenüber stand, in die Augen. Sascha verstand plötzlich, dass der Mann fast nüchtern war.
»Ich höre, ihr sprecht da über irgendeine Partei. Über Politik. Was versteht ihr Grünschnäbel denn von Politik? Diese Affen in Anzügen warten nur darauf, uns in irgendeine Scheiße einzutunken … Hat jemand was zu rauchen?«
Sascha überlegte und gab dem Afghanistanveteranen eine Zigarette.
»Hier ist Rauchen verboten«, warnte er grinsend.
»Ich rauche überall. Ihr seid doch aus einer Partei, oder?«, fragte er weiter.
»Aus einer Partei«, antwortete Sascha. »Sojus Sosidajuschtschich«.
»Ach, ›Sojusnitschki‹. Herr Kostenko und Genossen.« Der Afghanistanveteran grinste tierisch. »Ihr wundert euch, dass ich euch kenne? Ihr habt geglaubt, da schnorrt irgendein Bahnhofspenner Wodka? Ich trinke gar nicht. Ich schaue mir hier die Leute an. Sie rennen den ganzen Tag herum und keiner weiß, wie …« Er musterte sie alle plötzlich mit düsterem Blick: »… wie man die Arschbacken zusammenkneift, wenn eine Granate durch die Gegend fliegt. Das weiß ja keiner, dass man vor Angst nicht zittert, sondern kotzt. Die wissen das nicht, und ich fühl mich deshalb manchmal gut, auch wenn’s mitunter schmerzt.«
»Hör mal, Kumpel«, sagte Wenja, »geh wieder. Wir sitzen hier unter Freunden.«
»Nein, warte, was ich noch sagen möchte …« Der Afghanistanveteran schob Wenjas Hand, die auf seiner Schulter lag, mit einer feindseligen Bewegung weg. Ich halte euch nicht für ›SSler‹. Eure Fahne schaut aus wie die der Faschisten, aber das ist alles Schwachsinn. Ihr wollt die Regierung stürzen, auch ich möchte diese Leute zertreten. Die, die unsere Truppen nach Afghanistangeschickt haben, und die, die sie dann abgezogen haben. Sowohl die, die die Armee nach Tschetschenien geschickt haben, als auch die, die sie zurückholten. Und die, die sie schon wieder dorthin geschickt haben. Und die Tschetschenen dazu. Nur, was ich nicht verstehe – all diese Eier, die ihr da schmeißt, ist das euer Scheißernst? Mir fehlt zwar ein Arm, aber ich bin sofort bereit, eure Fahne auf dem Kreml zu hissen … Ich kann auch mit einer Hand jemanden erwürgen, und noch besser kann ich schießen. Nur werde ich das nicht tun, weil ihr Clowns seid. Alles klar, ihr Grünschnäbel?«
Rogow aß währenddessen die Pelmeni auf. Negativ drehte den Kopf hin und her – es sah aus, als suchte er einen Fernseher. Nur Wenja sah die Jungs fröhlich an und fragte Sascha leise und mit leisem Lächeln mitten im Monolog des Afghanen.
»Sollen wir ihn nicht doch lieber verdreschen?«
»Warte …«, entgegnete Sascha flüsternd.
»Wieso schweigt ihr?« Der Afghanistanveteran erhob die Stimme.
»Was hast du gefragt?«, antwortete Rogow, der alles, was noch auf dem Teller war, aufaß und gequält mit Bier hinunterspülte.
»Ich, ein Grünschnabel …«
»Nenn mich nicht so«, bat Rogow fast liebevoll. Afrika auf seiner Wange bekam heiße, hellrosa Schattierungen.
»Ich frage: Was könnt ihr mir anbieten?« Der Afghanistanveteran starrte Rogow an. »Ja – mir! Ihr, die ›Sojusniki‹?«
In den Mundwinkeln des Afghanzen
klebten weiße Speichelreste.
»Ich habe bei Herat
dem Rekruten Chasin Michail die Gedärme in den Bauch hineingestopft. Und danach soll ich mit euch Eier werfen gehen? Hast du irgendwem die Gedärme zurückgestopft?«
Rogow schaute den Afghanzen an. Sascha – Rogow.
»Du wirst es mir nicht glauben«, sagte Rogow, »aber Eier werfen ist fürchterlicher als Gedärme zurückzustopfen.«
Der Afghanistanveteran verkniff sich ein Grinsen.
»Hast du das gemacht?«
»Ja, und zwar viele Male. Herausgenommen, hineingestopft. Därme und Lungen, Leber, Magen.«
»Spaß-vo-gel?«[105 - der Spaßvogel – шутник] Der Afghanistanveteran zog die Silben auseinander.
»Ich bin kein Spaßvogel. Ich bin Pathologe.«
Der Afghanistanveteran öffnete den Mund, um eine weitere Bosheit von sich zu geben, doch Rogow fiel ihm, ohne dabei seine Stimme zu erheben, ins Wort.
»Ich war nicht bei Herat, aber ich war an anderen Orten unter Beschuss, und sage dir nochmals: Eine Tomate auf den Premier zu schmeißen ist mindestens so fürchterlich wie eine Granate zu werfen. Verstehst du? Wenn du eine Granate wirfst, kannst du getötet werden. Wenn du eine Tomate wirfst, brechen sie dir aber ganz sicher den Kiefer und die Rippen, und danach hat keiner von denen etwas dagegen einzuwenden, dass du in der Zelle auch noch gefickt wirst. Was ist für dich schlimmer – gefickt oder getötet zu werden?«
»Du Kind …«
»Und noch etwas: Wenn du statt einer Tomate eine Granate werfen willst – nur zu. Wir werden es zu schätzen wissen[106 - Wir werden es zu schätzen wissen. – Мы оценим это.]. Ich werde es zu schätzen wissen. Wenn du nicht willst – musst du nicht. Gut möglich, dass du es ja doch noch willst – soweit ich verstehe, ist es für dich wichtig, dass rundherum geschossen wird; dann ist es auch für dich leichter, damit anzufangen. Du brauchst die Menge, richtig? Ich hoffe, dass du sie bekommst.«
Jetzt grinste Rogow.
»Dawaj, Landsmann!« Ljoschka klopfte dem Afghanistanveteranen auf die Schulter. »Alles Gute. Bis bald. Bis bald, bis bald. Na, dann.«
Alle drehten sich von dem Afghanzen weg, obwohl er noch da stand, nur einen Schritt vom Tisch entfernt.
»Gehen wir mal rauchen?«, fragte Wenja.
Sie gingen auf die Straße hinaus, vorbei an dem Afghanzen, der zu Boden blickte und den Kopf schüttelte.
Sascha zog die letzte Zigarette heraus und warf die leere Packung weg. Er zündete sie an und spürte sofort, dass er sehr betrunken war.
»Ist da noch was übrig geblieben?«, fragte Sascha, hauptsächlich, um seine eigene Stimme zu hören und einzuschätzen, wie klar sie noch war.
»Das Bier hab ich mitgenommen.« Wenja hob zwei angefangene Flaschen Bier in die Höhe: »Den Rest haben wir ausgetrunken.«
Sascha freute sich, dass die Frage verstanden worden war.
Er bewegte die Lippen und kommandierte grinsend: »Kehrt um, Marsch!«
Sie nahmen noch Bier mit und dazu irgendwelches Zeug. Sascha hatte schon das Stadium erreicht, in dem man nicht mehr trinkt, sondern nachfüllt. Man füllt seine Existenz mit geschmackloser Flüssigkeit an.
Irgendwo fand sich noch Wodka – und dazu mussten sie getrockneten Tintenfisch essen, ein getrocknetes Schwänzchen zu dritt. Die Jungs verzehrten das Stück fein säuberlich, mit sehr ernstem, wenn auch ein wenig dämlichem Gesichtsausdruck.
Sie betraten den Bahnsteig, lauschten, wie die Frachtzüge vorbeiratterten, und von diesem Gepolter wurde Sascha endgültig blöde im Kopf.
Der Bahnhof verschwamm, und nur für Momente tauchte vor den Augen überraschend klar eine helle Tafel auf, irgendjemandes Gesicht, eine nervige Absperrung, die überwunden werden musste, was den Gleichgewichtssinn überforderte.
Das Gespräch fortzusetzen war nicht möglich, aber es machte Spaß, von Zeit zu Zeit irgendetwas herauszuschreien.
Als sie eine Milizpatrouille entdeckten, rannten die Jungs lachend und Unverständliches schreiend in die Richtung der leeren Marktstände, an denen tagsüber mit allem Möglichen gehandelt wurde.
Sascha fiel auf alle viere und trank sogar ein bisschen aus einer Pfütze, in der sich sein Gesicht im Licht der Straßenlampe trübe und verzerrt spiegelte. Die vornweg stürmenden Jungs hatten Saschas Ausrutscher nicht einmal bemerkt.
Die Marktstände bestanden aus eisernen, teilweise verbeulten Ladentischen. An jedem Ladentisch waren zwei Träger samt Dach aus verrostetem Blech angeschweißt.
Während die Jungs die Markstände entlanggingen, schepperte es immer wieder, und die Ladentische wackelten, einige schwankten sogar heftig und drohten umzufallen. Sie rempelten wohl die Ladentische an, vielleicht traten sie auch dagegen.
Die Jungs trafen auf einen Mann kaukasischer Nationalität, der ihnen mit eingezogenen Schultern und gekrümmtem Rücken entgegenkam. Sie begrüßten ihn mit aufrichtiger Freude mit den Worten »Salam Aleikum« und »Allah Akbar«.
Kaukasier kontrollierten diesen Markt, das wusste Sascha. Aber jetzt, kurz vor Mitternacht, hatten sich alle offenbar mit ihren Einnahmen schon verlaufen. Hier in der Nähe befanden sich übrigens zwei oder drei Bars und außerdem ein Kasino, in dem sich junge Menschen vergnügten, die guttural und laut sprachen, kleingewachsen waren, Lederjacken und schwarze spitze Stiefeletten trugen.
Hinter einem der Ladentische spielten die Jungs die Szene »Ein Sohn des Kaukasus verkauft eine nicht ganz ausgetrunkene Flasche Bier an russische Alkoholiker«.
Rogow, überdreht und mit rotem Kopf, stellte possierlich einen kaukasischen Händler dar, der die Vorzüge des Biers und die seltene Form der Flasche anpries. Wenja feilschte, tölpelte herum und feixte. Sascha, der trotz seines betrunkenen Zustandes an Rogow, der normalerweise nicht zu Scherzen neigte, dessen Sinn für Humor bemerkte, half Wenja beim Feilschen; er fuchtelte mit den Armen, schrie herum und ließ in Sekundenschnelle die Zigarette aus dem Mund fallen, die er bei jemanden, bei wem, konnte er sich nicht mehr erinnern, geschnorrt hatte. Und selbst Negativ, der sich eine halbe Flasche Bier genehmigt hatte, verzog die Lippen und zwang sich zu lächeln. Im Widerschein des blinkenden Schilds der nicht weit entfernten Bar war zu erkennen, dass Negativs Augen weicher geworden waren.
»Sie ist doch … halbleer«, sagte Wenja und schnippte mit seinem gebogenen Finger gegen die Flasche.
»He-e, was bist du für einer? He-e …«, antwortete Rogow kopfschüttelnd. »Ich will ja nur den Einsatz von dir.«
»Und Kappe gibt’s keine …«
»Was brauchst du eine Kappe, he? Willst du trinken oder mit der Kappe spielen?«
Niemand hatte bemerkt, wie sie aufgetaucht waren, die weißen Zähne bleckend[107 - die weißen Zähne bleckend – скалящие белые зубы], schwarz, ungefähr sechs Mann. Sie hatten auf den Stufen der Bar geraucht, der »Handel« hatte ihr Interesse geweckt, und sie waren ernsthaft beleidigt, als sie das Gespräch verfolgten. Einer hatte eine offene Bierflasche in der Hand. Aus irgendeinem Grund schüttelte er sie.
Sie waren alle jung. Sascha bemerkte das sogar in seinem Halbdelirium[108 - im Halbdelirium – в полубреду], hatte aber keine Kraft mehr, darüber beunruhigt zu sein. Mit Erwachsenen hätte man sich arrangieren können, das ja. Mit diesen Jungen da – nur durch Entschuldigungen und Selbsterniedrigung; das waren ihnen sofort klar.
Einige Momente lang standen sie alle schweigend da.
Sascha drehte den Kopf und spürte plötzlich, dass er wegen der heftigen Erregung ein wenig nüchterner wurde.
Er war es gewohnt, zu Beginn einer Schlägerei wenigstens einige Worte zu sagen.
»Was wollen wir denn?«, fragte er und schmiss seinen fast zu Ende gerauchten aber noch glimmenden Zigarettenstummel in den Hals einer Bierflasche; jener Bierflasche, die der Kaukasier in der Hand hielt. Sascha bemerkte sogar noch seine merkwürdig weißen, aber mit dichten schwarzen Haaren bedeckten Finger. Der Kaukasier schaute ungläubig dem Stummel im Hals der Bierflasche nach. Der Stummel gab, als er ins Bier fiel, ein leichtes Zischen von sich.
Dann ging alles sehr viel schneller.
Sascha atmete ein, warf den Kopf zurück und ließ seine Stirn gegen die Nasenwurzel des Kaukasiers donnern. Etwas zerbarst mit saftigem Klang, die Flasche fiel aus den weißen Händen und rollte davon, die Flüssigkeit lief aus. Der Kaukasier fiel auf die Knie, bedeckte das Gesicht mit den Händen und stand nicht mehr auf.
Sascha wollte einen zweiten Kaukasier niederstrecken, erhielt aber selbst einen scharfen, wenn auch nicht sehr starken Schlag gegen das Kinn. Er sprang einige Schritte nach hinten und sah, wie Wenja die Flasche, die eben noch das Objekt ihres scherzhaften Handels gewesen war, einem der Gegner ins Gesicht warf und traf.
… Sascha fiel, fluchte heftig, er traf selten[109 - er traf selten – он попадал редко], bekam selbst aber auch wenig ab, weil er vor seinem Angreifer zurückwich und dabei, wie es ihm schien, immer bedrohlichere Kampfposen einnahm.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass Wenja sich schon mit zwei anderen auf der Fahrbahn schlug, dass Fahrzeuge sie anhupten, während sie versuchten, an den Kämpfenden vorbeizufahren …
… außerdem bemerkte er Negativ, der auf einem zu Boden gestreckten saß und dem unter ihm Liegenden harte und offenbar sehr schmerzhafte Schläge ins Gesicht versetzte[110 - Schläge versetzen – наносить удары].
Das nächste Bild war ein Auto, das neben Wenja abgebremst hatte. Aus ihm stürzten fünf kräftige Typen, die sofort, als würden sie Beute jagen, laut in ihrem Dialekt zu brüllen begannen. Wenja sprang zurück und schwenkte ein Metallstück.
Aus der Bar kamen weitere Leute gelaufen, und sie hätten die Jungs wohl plattgemacht, hätte Rogow sie nicht aufgehalten, indem er einen, dann noch einen zweiten und dritten Ladentischumwarf.
Die Ladentische versperrten nun den Weg zwischen einer Wand auf der einen und einem Zaun auf der anderen Seite, der nicht sehr hoch war, er reichte gerade bis zur Hüfte und begrenzte die Fahrbahn. Während die aus der Bar kommenden Kaukasier über den Zaun stiegen, um die von Rogow hingeworfene Barrikade zu umlaufen, gelang es Ljoscha, Negativ am Kragen zu packen, von seinem Opfer wegzuziehen und den Mann, mit dem Sascha sich erfolglos einen Kampf lieferte, umzuwerfen.
»Wenja, hierher!«, schrie Rogow dabei.
Wenja schleuderte das Metallstück gegen seine Angreifer und sprang über den Zaun; gleich zwei Milizautos kamen von irgendwoher die Straße entlang angerast, und unter Sirenengeheul und dem Geschrei der Miliz rannten alle, die sich am Markt versammelt hatten, in verschiedene Richtungen davon.
Sascha kam es vor, als würde er allen vorweg laufen. In seiner Kehle blubberte es merkwürdig. Hinter seinem Rücken hörte er Trampeln und war überzeugt, dass es sich um Ljoscha und Negativ handelte und dass auch Wenja nicht weit entfernt sein konnte.
Es war sinnlos sich umzudrehen. Sascha fluchte, drohte gegen irgendetwas zu stoßen. Es war so dunkel, dass er nicht einmal die Gesichter der hinter ihm Laufenden erkennen konnte. Er wäre gegen eine Betonwand gelaufen, hätte er nicht gehört, wie jemand gerade über sie kletterte …
Er tastete vor sich – ja, eine Wand.
Sascha sprang hinauf und kletterte hinterher.
»Der Markt!«, wurde Sascha klar, als er auf der anderen Seite hinuntersprang. »Ich bin auf dem Markt!«
Nach der Schlägerei und dem Laufen hatte sich in seinem Mund eine Unmenge Speichel angesammelt, Sascha musste ausspucken und drehte den Kopf, um etwas, das im Gesicht hängen geblieben war, abzuschütteln. Es klebte am Kinn. Er wischte es mit dem Ärmel ab.
Um ihn herum erhoben sich Hallen, es gab praktisch keine Beleuchtung.
Schwer atmend tappte Sascha sinnlos im Dunkeln herum und glaubte Kisten, leeres Verpackungsmaterial zu erkennen, das übereinander gestapelt und an die Mauer der nächstgelegenen Halle gelehnt war.
Sascha wollte genau dorthin, er suchte einen Unterschlupf, in dem man sich hinter den Kisten verstecken konnte und atmen, atmen – lange und schwere Speichelfäden hingen an ihm herunter.
Völlig entkräftet von den Ereignissen und vom Alkohol, zwängte er sich zwischen den Kisten näher zur Mauer und trat auf etwas Weiches. Auf einen sitzenden Menschen.
»He«, sagte Sascha leise und ging in die Hocke, dann auf alle viere, um nicht zu fallen … spuckte noch einmal lange aus und kniff die Augen zusammen, um den Sitzenden zu erkennen. »Wer ist da? Nimm verdammt noch mal die Hände weg …«
Der vor ihm Sitzende nahm die Hände vom Gesicht. Sascha sah, dass es ein Kaukasier war, ein junger, fast noch ein Kind, aber in Lederjacke, mit spitzen Stiefeletten und in Jeans.
»Was – Scheiße noch mal – tust du hier?«, fragte Sascha heiser und beinahe naiv. Der Bursche schaute verblüfft – entweder erschrocken oder frech.
Sascha atmete nochmals tief ein, senkte den Kopf und ließ die heiße Zunge heraushängen, die ganz süß schmeckte.
»Rück zur Seite …«, sagte Sascha, setzte sich neben den Jungen und fasste ihn an der Schulter. »Scheiß dich nicht an. Wir bleiben jetzt hier sitzen und gehen dann … Wo sind meine Freunde, Scheiße nochmal … Weißt du nicht, wo meine Freunde sind?«
»Nein.«
»N-a-i-n«, äffte Sascha nach. »Wie heißt du?«, fragte er nach einer Pause.
»Sascha.«
»Ich heiße auch Sascha. Nur bist du nicht Sascha, sondern irgendein Sacha. Alchu. Aslachan. Richtig?«
Er bekam keine Antwort.
Sascha hatte die höchst russische Angewohnheit, im Suff sinnlose Gespräche zu führen.
»Woher kommst du?«
»Jerewan.«
»Oh …«, sagte Sascha unbestimmt. »Wieso habt ihr begonnen, uns zu prügeln, ha? Sacha!«
»Ich weiß nicht. Ich bin später gekommen.«
»Verspätet«, ätzte Sascha. »Ach was, sei nicht beleidigt …«, sagte er und schwieg wieder. »… wir machen Revolution, bringen alle Arschlöcher um – dann komme ich zu dir nach Almaty und wir trinken Tee auf der Veranda.«
»Ich bin aus Jerewan.«
»Wir kommen zu dir nach Teheran.« Sascha stellt sich weiter dumm, obwohl er alles verstanden hatte. »Wir werden Tee trinken auf der Veranda. Hast du eine Veranda?«
»Still … Da geht jemand …«
Eine Minute später leuchtete ihnen eine Taschenlampe ins Gesicht.
»Aufstehen«, sagte der Milizionär.
Es waren zwei Mitarbeiter des Patrouillendienstes, und zusätzlich ein Marktwächter, ein alter Mann.
Sie legten Sascha Handschellen an, Sacha auch.
Obwohl die Milizionäre bei Letzterem kurz zögerten.
»Und den?«, fragte der eine.
»Ja, was?«, antwortete der zweite ohne besonderen Nachdruck in der Stimme »Wohin mit ihm? Nehmen wir ihn auch mit.«
Sie führten die Verhafteten zum Patrouillenauto, das direkt zum Haupttor des Marktes gefahren war.
Sie öffneten die hinteren Türen der grünen Minna[111 - die Minna – патрульная машина, «козелок»], setzten sie einander gegenüber in den Käfig hinter dem Rücksitz, dann schlugen sie fünf Mal die Tür zu, die sich nicht schließen lassen wollte.
Wenn Sascha bei Schlaglöchern hochgeschleudert wurde und in den Kurven umkippte, berührte er mit der Stirn die Stoffverkleidung des Fahrzeuges. Mit einer gewissen Nüchternheit dachte er, dass sein freies Leben jetzt beendet war.
Sie bringen ihn jetzt dorthin, und im Laufe der Überprüfung wird sich rasch herausstellen, dass er in Moskau randaliert hatte, und das würde dann das Ende sein.
Es gelang ihm nicht, ernsthaft darüber zu erschrecken.
Man brachte sie aufs Revier. Aus dem verglasten Wachzimmer, in dem ein schnauzbärtiger Milizhauptmann am Telefon sprach, während er mit einem Löffel den Tee umrührte, kam ein schläfriger, sich vor Müdigkeit streckender Milizsergeant heraus, offenbar der Assistent des Diensthabenden …
Sascha betrachtete mürrisch die violetten Wände der Abteilung, die alten, sich an der Oberfläche wellenden Tische[112 - die alten, sich an der Oberfläche wellenden Tische – старые, облупленные столы]; wieder dachte er, dass er sich sein ganzes Leben lang daran erinnern würde.
Und außerdem dachte er, dass es noch – wie letztes Mal – die Möglichkeit gab, auszureißen, durch die offene Tür hinauszulaufen, in irgendeinen Hof zu verschwinden, irgendwohin … aber irgendwie hatte er weder Kraft noch Lust dazu.
Man nahm Sascha die Handschellen ab, und er rieb sich, wie jeder Mensch, dem man die Handschellen abnimmt, die Handgelenke.
»Auch vom Bahnhof ?«, fragte der Sergeant die vom Patrouillendienst so leise, als sei er sehr müde.
»Vom Bahnhof …«, antworteten sie.
»Haben wir Waffen, Drogen, spitze und scharfe Gegenstände?«, fragte der Sergeant Sascha und den kaukasischen Jungen.
Der Kaukasier schüttelte den Kopf.
»Hab alles bei der Verhaftung weggeworfen«, antwortete Sascha und verstand am melancholischen Gesichtsausdruck des Sergeanten, dass auch der diesen Scherz schon hunderte Male gehört hatte.
Sie mussten den Inhalt ihrer Taschen auf den Tisch legen. Sascha hatte nichts bei sich, der Kaukasier ein Handy und einen fetten Geldbeutel.
Sie klopften Sascha an den Seiten, Beinen und Arschbacken ab, überprüften die Ärmel, baten, die Hosenbeine anzuheben, um zu sehen, ob er nicht in den Schuhen verbotene Gegenstände bei sich trug.
Ein Riegel wurde scheppernd zurückgezogen, man schob Sascha in einen kleinen Raum, der auf drei Seiten von einer Steinmauer und an der vierten von einem Gitter begrenzt war.
Sascha sah Wenja, Negativ und Rogow sofort.
Wenja und Negativ saßen in der Hocke – es gab weder Stühle noch Bänke im Raum. Rogow stand, er lehnte sich an die grün gestrichenen Stäbe. Durch die Stäbe hindurch waren ein Tisch und ein Safe zu sehen, in das der Sergeant den Geldbeutel und das Handy des Kaukasiers legte.
»Oho, Sanja haben sie auch gefesselt!«, sagte Wenja und lächelte. Auch Rogow lächelte.
Negativ hob den Kopf und schüttelte ihn – Sascha verstand nicht, was er damit sagen wollte.
»Was machst du denn hier, Täubchen?«, fragte Wenja jemanden, der hinter Sascha stand.
Sascha drehte sich um und sah, dass sie nach ihm den Jungen aus dem Kaukasus hineingestoßen hatten.
Der blickte sich suchend um, wo er unterkommen könnte, so weit wie möglich entfernt von den anderen, die bereits in der Zelle waren.
Neben Saschas Genossen saß hier noch auf dem Boden, das Gesicht auf die Knie gedrückt, ein besoffener Penner mit zugeschwollener Visage und einem kraushaarigen, verdreckten Kopf.
Der Kaukasier blieb bei der Tür stehen, die mit einem Knall geschlossen wurde.
»Heißt das, sie haben nur uns erwischt?«, fragte Sascha, dem vom Anblick der Genossen gleich leichter ums Herz wurde.
»Genau das«, sagte Wenja.
»Haltet alle das Maul, wie oft soll ich das noch sagen!«, schrie plötzlich der Sergeant; das Geschrei ließ den Penner seine geschwollene Fresse mit dem Hämatom heben. Er stützte sich mit dem Rücken gegen die Wand ab, stand schwerfällig auf und ging – mühsam das Gleichgewicht haltend – fast bis zum Gitter, von wo aus der Tisch und der erboste Sergeant zu sehen waren.
»Warum bin ich hier, Chef ? Mach auf, du Widerling!«, schrie der Kerl.
Der Assistent stieß einen Fluch aus, knallte die Tür zu, und ging in den benachbarten Raum, offenbar das Wachzimmer.
»Siehst Du, Sanja«, sagte Wenja und deutete in Richtung Sergeant, »entweder flüstert er oder er schreit, normal sprechen kann er nicht. Dieser Mongo.«
Der Penner schrie noch eine Weile und trat dabei gegen das Gitter.
»Setz dich, Väterchen«, bat ihn Negativ.
»Gut, aber wo sind eigentlich unsere Brüder aus dem Süden geblieben?« Sascha konnte sich nicht beruhigen.
»Sie haben sie gleich wieder freigelassen«, antwortete Rogow.
Sascha fand tatsächlich keine Worte.
Der Assistent kam mit dem Zugangsregister für Festnahmen[113 - das Zugangsregister für Festnahmen – журнал учета задержанных] zurück, irgendwoher kamen auch die beiden von der Patrouille, die Sascha verhaftet hatten. Offenbar wollten sie das Protokoll schreiben … Alle drei wurden plötzlich von einem durchdringenden Klingeln an der Tür der Wachstube aufgeschreckt.
Zuerst ging der Sergeant – wahrscheinlich, um die Tür zu öffnen. Eine Minute später hörte Sascha deutlich gutturale Stimmen mit dem charakteristischen Akzent.
»Sascha, sie sind da, um dich rauszuholen!«, dachte er laut vor sich hin.
Tatsächlich, die Zellentür wurde rasch geöffnet und der Kaukasier hinausgeführt.
Die Jungs lachten ein wenig über alles. Ein Wort gab das andere – sie erinnerten sich an die Schlägerei; Wenja erzählte belustigt, wie er das lange Metallstück auf der Straße gefunden und damit – wie ein Verrückter die Mücken – alle von sich weggescheucht hatte.
»Sonst hätten sie dich mit ihren gekrümmten Nasen massakriert …«, feixte plötzlich der melancholische Negativ, für den Scherze absolut untypisch waren.
»Nein, jetzt überlegen wir mal!« Sascha kehrte noch einmal zu dem Thema zurück, das er noch nicht verdaut hatte. »Haben sie uns für die Schlägerei verhaftet? Aber wo ist …«
»Das Objekt unseres Rassenhasses«, setzte Rogow im selben Ton fort. Es war natürlich ein Scherz.
»Ja, wo sind sie?«, fragte Sascha. »Das heißt, wir haben uns gegenseitig verprügelt?«
»Wenja, warum hast du das Metallteil eigentlich mitten auf der Straße geschwungen?«, interessierte sich Rogow und verfiel in lyrische Ironie. »Wen wolltest du damit erschrecken?«
»Es hat die vorbeifahrenden Autos behindert, und ich wollte es entsorgen«, antwortete Wenja.
Sie hätten so bis zum Morgen weiterpalavert, aber die Tür knarrte abermals, zuerst im Schloss, dann in den ungeölten Scharnieren, und der auftauchende Sergeant sagte leise: »Zum Teufel, kommt raus!«
»Sollen wir das Väterchen da auch wecken?«, fragte Negativ und zeigte auf den Penner.
»Was ist dir der für ein Vater, dieses Wrack?«[114 - »Was ist dir der für ein Vater, dieses Wrack?« – «Какой он тебе отец, этот отморозок?»]
Der Kerl bewegte sich nicht. Er hatte sich auf den Boden gelegt und schlief. Alle gingen hinaus, der Typ blieb allein in der Zelle zurück.
Die Jungs standen unsicher im Vorraum der Milizstation herum.
»Ich würde diese schwarzarschigen Wanzen selbst verprügeln …«, sagte der Sergeant und öffnete die Tür zur Straße.
»Wir haben sie nicht geschlagen …«, sagte Sascha, »sie haben selbst …«
»Ja, klar, nicht geschlagen«, lachte der Sergeant und erhob plötzlich, wenn auch mit freundlicher Intonation, die Stimme. »Einem von denen wurde das halbe Gesicht wie eine Tomate zermatscht … Aber sie haben keine Anzeige gegen euch erstattet. Und es gibt auch keine Meldung wegen euch. Verschwindet. Ihr Kämpfer …«
Sascha war der familiäre Ton des Milizionärs unangenehm, auch dessen Überzeugung, dass die Jungs die Schlägerei begonnen hätten. Und außerdem war es irgendwie abstoßend, dass der Milizionär offenbar dachte, die Jungs könnten mit ihm einer Meinung sein – in Bezug auf jene, die er als »schwarzarschig« bezeichnete. Nur waren sie darin ganz und gar nicht einer Meinung …
Auf der Straße stand das Milizauto mit den Typen vom Patrouillendienst, die Sascha verhaftet hatten. Kaum waren die Jungs rausgegangen, ging im Auto das Licht aus.
»Ich glaub’s nicht, dass die da gerade Geld zählen …«, sagte Wenja.
Sie streckten sich und rieben ihre Glieder und machten sich dann auf den Weg. Sie beschlossen, bei Sascha zu übernachten.
»Und wenn sie uns abfangen, San?«, fragte Negativ.
»Wie?«, fragte Sascha nach, er zitterte vor Kälte. »Sie haben uns doch eben erst laufen lassen.«
»Ich meine es ernst.«
»Sie werden uns nicht abfangen. Irgendwo müssen wir übernachten. Richtig, Jungs?«
»Natürlich müssen wir irgendwo übernachten«, bestätigte Rogow.
»Und fressen will ich jetzt auch was …«, sagte Wenja.

Kapitel 4
In diesem Winter bestellten sie einen kleinen Autobus – die Mutter hatte beschlossen, der Vater müsste auf dem Dorf begraben werden. Dort, wo er geboren worden war.
Sascha widersprach nicht.
»Was meinst du, Söhnchen?«, fragte die Mutter in einem vollkommen neuen Ton. Bis jetzt war ein anderer Mensch an ihrer Seite gewesen, dessen Stimme alles entschieden hatte. Und jetzt war er gestorben, dieser Mensch.
»Irgendwie werden wir durchkommen«[115 - »Irgendwie werden wir durchkommen« – «Проедем как-нибудь»], antwortete Sascha, obwohl er fast überzeugt war, dass es nicht gelingen würde, durchzukommen.
In dieser ekelhaften Stadt, die Sascha immer widerwärtig gewesen war, durfte der Vater jedenfalls nicht begraben werden.
Überhaupt war es unerträglich, den Großeltern mitzuteilen, dass der Vater gestorben war, und dabei zu wissen, dass sie nicht nur nicht zum Begräbnis fahren, sondern überhaupt erst im Frühjahr zum Grab des Sohnes kommen könnten.
Dem Fahrer erklärten sie nichts Genaues, hätte er gewusst, wohin die Reise ging, er hätte es sofort abgelehnt. Stattdessen hatten sie ihm gesagt: »Aufs Land … Wir zeigen den Weg …« Er fragte nicht nach, wohin aufs Land. Es war ein bescheidener Mann, von ruhigem Gemüt, wie es zunächst schien.
Vaters Freunde kamen, um sich zu verabschieden, einige Lehrer, einige Schüler. Sascha wollte jeden, der gekommen war, um sein Beileid auszudrücken, die Treppe hinunterschmeißen[116 - die Treppe hinunterschmeißen – спустить с лестницы]. Welches Beileid, zum Teufel, was versteht ihr schon … Sascha hielt sich von allen fern, er wollte niemanden sehen. Zufällig hörte er, wie die Mutter fragte: »Vielleicht fährt jemand mit zum Begräbnis?«
Es war widerwärtig, dass alle schwiegen.
Jemand sagte mit entschuldigendem Unterton: »Die Arbeit …«
»Ich werde mitkommen«, sagte eine einzige Person. Besletow.
Er kam am Morgen des nächsten Tages, stand mit Pelzjacke und Schuhen im Vorzimmer, wollte die Handschuhe nicht wirklich ablegen. Einige Male zog er sie aus und an.
Sascha begrüßte ihn nicht.
»Aleksej«, bemerkte die Mutter mit fast lebloser, verweinter Stimme, »du wirst in diesen Schuhen frieren.«
Der zog ein merkwürdig schiefes Gesicht, als wäre es ihm sehr unangenehm.[117 - Der zog ein merkwürdig schiefes Gesicht, als wäre es ihm sehr unangenehm. – Он так странно скривил лицо, как будто ему было очень неприятно.]
»Macht nichts«, antwortete er dumpf und ging sofort hinaus.
Er stand auf der Straße. Er rauchte nicht.
Sascha schaute aus dem Fenster, sah Besletow, musterte stumpf dessen Rücken.
Die Mutter setzte sich immer wieder an den Küchentisch und begann zu weinen.
»Wie werde ich ihn denn hinbringen«, fragte sie, »was werden Mutter und Vater mir sagen? … Hast du dort angerufen, Sasch? Bei den Nachbarn?«
»Ich hab angerufen.«
»Was haben sie gesagt?«
»Sie haben gesagt, dass sie es ihnen ausrichten.«
Die Mutter begann wieder zu weinen.
Der Fahrer kam herein, er stand schweigend in der Tür.
»Fahren wir«, sagte Sascha ein wenig gereizt zur Mutter. »Worauf warten wir?«
Sie trugen den Sarg hinaus – Besletow, Sascha, der Fahrer, Nachbarn halfen.
Sie stellten ihn vor das Haus.
Nicht weit entfernt scharten sich Kinder, die von den in der Kälte aberwitzig knarrenden Schaukeln gekrochen waren. Sie schauten neugierig, kleinlaut geworden.
Sascha wollte sie auseinanderjagen.
»Los, laden wir auf …«, sagte er wütend. »Was stehen wir hier …«
»Lass die Leute sich verabschieden …«, sagte die Mutter
»Welche Leute?«, schimpfte Sascha.
Außer den Kindern versammelten sich noch einige Nachbarn – unbekannte, fremde, die trotzdem ihre Köpfe schüttelten.
»Geh zum Auto«, sagte er zur Mutter. »Los, hört ihr?«, wandte er sich an die Männer und zeigte auf den Sarg.
Sascha setzte sich zum Fahrer. Besletow auf den Rücksitz.
Sie schlossen den Sarg.
Sascha nannte dem Fahrer einen Ort auf halbem Weg – »… von dort noch ein bisschen weiter …«, murrte er unbestimmt.
Sascha drehte sich um und sah, wie die Mutter, die beim Kopf des Vaters saß, manchmal den Sargdeckel hob und die eisige Stirn des Verstorbenen berührte.
Es war nicht auszuhalten.
Es fing an zu schneien, grauer Schnee fiel. Die Scheibenwischer arbeiteten unablässig.
An der Stadtausfahrt kamen sie in einen Stau.
Sascha steckte den Kopf zum Fenster raus und zündete eine Zigarette an.
Auf den Dächern der Autos türmte sich rasch Schnee auf.
Das Warten war bedrückend.
»Wohin hast du es so eilig …«, dachte Sascha angeekelt, und gab sich selbst einen Ruck. »Hast du es so eilig, den Vater zu begraben? Und dann? Du begräbst ihn – und wohin läufst du dann?«
Sie standen mindestens eine halbe Stunde. Der Fahrer schaltete immer wieder den Motor aus, worauf hin es in der Kabine schnell kalt zu werden begann.
»Hinten ist es wahrscheinlich kalt?«, fragte Sascha. Die Stimme klang heiser.
»Die Heizung funktioniert dort nicht. Und man sollte dort jetzt auch nicht heizen«, sagte der Fahrer vorsichtig und schielte zu Sascha hinüber.
»Die Mutter friert sicher«, dachte Sascha, ohne zu antworten.
Er drehte sich um und sah, wie sie sich die Beine rieb. Er sah auch, wie Besletow – den Kopf eingezogen – durch das Fenster auf die stehenden Autos schaute.
Sascha blinzelte und biss sich auf die Lippen.
Er wollte sich zwingen, die Augen geschlossen zu halten, als das Auto anfuhr, konnte es aber nicht.
Er blinzelte, sah die langsam, nervös dahinschleichenden Fahrzeuge. Ein warm gekleideter Verkehrspolizist überquerte gemächlich die Straße. Sie bremsten leicht, ließen ihn queren.
Der Stau war wegen eines Unfalls entstanden: Zwei Autobusse waren zusammengestoßen. Die Passagiere standen an der Straße. Der Asphalt war mit Glas übersät.
»Rettung ist keine zu sehen«[118 - »Rettung ist keine zu sehen« – «“Скорой“ не видно»], bemerkte Sascha.
Es gab keine Opfer, und offenbar war auch niemand verletzt. Sascha bedauerte fast, dass niemand ums Leben gekommen war.
Langsam, schleppend arbeiteten sie sich aus dem Strom der Fahrzeuge heraus.
Ein höherer Gang wurde eingelegt, sie gewannen an Geschwindigkeit, und wieder entstand dieses dumme Gefühl der Erleichterung – wir fahren endlich, wir fahren.
»Wohin?«
… Eine winterliche Straße ist immer trübseliger als eine im Sommer.
Sie fuhren durch eine kleine Stadt, in der es nur zwei Ampeln gab. Sascha sagte: »Weiter geradeaus«, und nach sieben Minuten öffnete sich auf beiden Seiten der Chaussee die Ebene.

Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию (https://www.litres.ru/pages/biblio_book/?art=48508567) на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.

notes
Примечания

1
Здесь и далее см. прим. перев. (#litres_trial_promo)

2
vor Aufregung rot angelaufene Gesichter – покрасневшие от возбуждения лица

3
mit voller Wucht und mit einem Hieb – с полной силой и наповал

4
verkaterte – похмельный

5
… dessen Augen wie ein verkochter Pelmen aufgequollenen waren – … глаза которого распухли, словно переваренные пельмени

6
»Wie Aussätzige zusammengetrieben …«  – «Как прокаженных собрали … »

7
wirkten elend und armselig – казались жалкими и бедными

8
die Schirmmütze – фуражка

9
In den Jahren, die seit dem bürgerlichen Umsturz vergangen waren, … – за годы, минувшие после буржуазного переворота

10
Freilich – Правда

11
so sonderbar das klingen mag – как ни странно

12
ein kluger Kopf – умница

13
bunt zusammengewürfeltes Jungvieh – разношерстный молодняк

14
Damit es nicht ausbrach  – Чтобы не разразилось

15
einige Dutzend Knallkörper – несколько десятков петард

16
unten leicht ausgestellte Jeans – слегка расклешенные внизу джинсы

17
in Untersuchungshaft  – под следствием

18
sie waren nervös in Formation angetreten – они выстроились нервными рядами

19
seit je – во все века

20
»Gottlose!« – «Нехристь!»

21
sich in Bewegung setzten – прийти в движение, начать двигаться

22
die Gespräche der Miliz über Funk – переговоры милиции по рациям

23
antworteten im Echo siebenhundert Kehlen – эхом откликнулись семь сотен глоток

24
Herrschaften – Господа

25
»Ihr sprengt die Demonstration!« – «Вы срываете демонстрацию!»

26
am Ärmel packen – схватить за рукав

27
die Sondereinheit – спецназ

28
»Wir sind irr, wir machen euch platt!« – «Мы сумасшедшие, мы вас сделаем!»

29
niederdonnern lassen – обрушить

30
die Sondereinheitler – спецназовцы

31
Flüche in seine Richtung ausstießen – посылали проклятия в его адрес

32
bündelweise schnappen – хватать в охапку

33
Auge in Auge – один на один

34
sie segelte – (зд.) она полетела

35
jdm. in die Quere kommen – вставать у кого-либо на пути

36
»Die Bullen!« – «Менты!»

37
sich blöd stellen – прикидываться дураком

38
die Sackgasse – тупик

39
unter Mühen – с трудом

40
… kochte rohe Wut in jedem von ihnen – дикая ярость кипела в каждом из них

41
als stünde jemand hinter ihnen – словно кто-то стоял за ними

42
»Geil dich nur auf« – «Позабавься!»

43
Die Sondereinheit lud ein – спецназовцы загрузились

44
was sie und ihre Freunde angerichtet hatten – что они и их друзья натворили

45
Und sie können mich einsperren. – И они могут меня посадить.

46
aufbrummen – (зд.) приписать

47
eine Beschwerde einreichen – подать жалобу, (зд.) написать заявление

48
wenn nicht dem Namen nach, so zumindest vom Aussehen – если не по имени, то по меньшей мере в лицо

49
das Maul zu halten – закрыть рот, заткнуться

50
im Laufschritt – бегом

51
»Wir müssen abhauen« – «Надо валить»

52
an Geschwindigkeit gewinnen – набирать скорость

53
»Ihr seid alle zur Fahndung ausgeschrieben« – «Вы все в розыске!»

54
mit dem »Hundefuhrwerk« – на перекладных собаках

55
die Verkehrshüter – стражи дорог, сотрудники ДПС

56
»Findest du hin?« – «Дойдешь?»

57
Der Weg war verwüstet und voller Dreck. – Дорога была разбита и грязна.

58
die weichen und müden Hände in den Schoß gelegt – сложив мягкие и усталые руки на коленях

59
schonungslos – (зд.) беспробудно

60
verunglücken – пострадать в результате аварии, разбиться

61
ohne alles Getue – без суеты, неприметно

62
in sich hineinhorchend – прислушиваясь к себе

63
es zog ihn zu den Kindern – его тянуло к детям

64
der »Familienschrein« – «семейный иконостас»

65
unabkömmlich – вне досягаемости

66
in Gefangenschaft geraten – попасть в плен

67
sich auf den Weg machen – отправиться в путь

68
zeugen – зачинать, рождать

69
flachsblond – белобрысый

70
die Haare hell wie von der Sonne ausgeblichenes Leinen waren – волосы светлые, как лен, выгоревший на солнце

71
Als wäre es nie gewesen. – Как будто их никогда и не было.

72
Unfug trieben – безобразничать, баловаться

73
das Selbstgebrannte – самогонка

74
»denn etwa« – «нешто»

75
Timochas Winkel – Тимохин угол

76
schmoren – жарились (на солнце)

77
ging mit vorsichtigen Storchenschritten – шел, осторожно и высоко ступая

78
Er hätte geschworen – он был готов поклясться

79
er aß kein Abendbrot – он не ужинал

80
in Zivil – в штатском

81
der Revierinspektor – участковый

82
die Glotze – «ящик», телевизор

83
nahm einen tiefen Zug – глубоко затянулся

84
verkriechen – прятаться

85
mit flinker Feder – с легкой руки

86
»Milch- und Schwanzlutscher« – (жарг.) «отсосы»

87
Knastgänger – «сидельцы»

88
»Terroristen mit Samtpfoten« – «бархатные террористы»

89
sich über etwas im Klaren sein – знать что-то

90
zum »Du« übergehen – перейти на «ты»

91
»die Finger abnehmen« – «снимать пальчики» (снимать отпечатки пальцев)

92
verdrehen Sie hier nichts – не передергивайте

93
Niemand wird die Nicht-Russen irgendwo hintun – Никто никуда не будет девать нерусских

94
zur Seite treten – отойти в сторону

95
unzurechnungsfähig – невменяемый

96
saufen – пить

97
geht alles seinen Gang – все идет свои чередом

98
Und dass ein schwerer chirurgischer Eingriff nicht gerade gottgewollt ist. – И что жесткое хирургическое вмешательство не богоугодно.

99
geschliffene Gläser – граненые стаканы

100
in einem Zug austrinken – выпивать залпом

101
die vor Hitler ihre Beine breit gemacht hätten, wäre nicht der Rotarmist mit der Uschanka gekommen – которые легли бы под Гитлера, если бы не пришел красноармеец в ушанке

102
der Platz zum Austreten – отхожее место

103
im Rausch – в хмелю

104
Grünschnäbel – юнцы, молокососы

105
der Spaßvogel – шутник

106
Wir werden es zu schätzen wissen. – Мы оценим это.

107
die weißen Zähne bleckend – скалящие белые зубы

108
im Halbdelirium – в полубреду

109
er traf selten – он попадал редко

110
Schläge versetzen – наносить удары

111
die Minna – патрульная машина, «козелок»

112
die alten, sich an der Oberfläche wellenden Tische – старые, облупленные столы

113
das Zugangsregister für Festnahmen – журнал учета задержанных

114
»Was ist dir der für ein Vater, dieses Wrack?« – «Какой он тебе отец, этот отморозок?»

115
»Irgendwie werden wir durchkommen« – «Проедем как-нибудь»

116
die Treppe hinunterschmeißen – спустить с лестницы

117
Der zog ein merkwürdig schiefes Gesicht, als wäre es ihm sehr unangenehm. – Он так странно скривил лицо, как будто ему было очень неприятно.

118
»Rettung ist keine zu sehen« – «“Скорой“ не видно»
Sankya  Санькя. Книга для чтения на немецком языке Захар Прилепин
Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке

Захар Прилепин

Тип: электронная книга

Жанр: Современная русская литература

Язык: на немецком языке

Издательство: КАРО

Дата публикации: 18.10.2024

Отзывы: Пока нет Добавить отзыв

О книге: Роман русского писателя и публициста Захара Прилепина «Санькя» впервые был опубликован в 2006 году и затем неоднократно переиздавался в России и в большинстве крупных европейских стран. Роман стал финалистом премий «Национальный бестселлер», и «Русский Букер», а премия «Ясная Поляна» присуждена с формулировкой «За выдающееся произведение современной литературы».

  • Добавить отзыв