Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке

Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке
Warlam Schalamow
Russische moderne Prosa
В книгу «О Колыме» замечательного поэта и писателя Варлама Тихоновича Шаламова (1907–1982) вошли автобиографические рассказы, которые пронизаны нестерпимой болью человека, находящегося на грани своих физических возможностей, но не теряющего при этом внутреннюю стойкость. Шаламов пишет, что «лагерь – отрицательная школа жизни целиком и полностью», а дорогу на Колыму называет «дорогой в ад». Но даже в самых страшных, самых тяжелых условиях человек способен сохранить себя, свою духовную независимость.
Настоящее издание дополнено воспоминаниями о Шаламове людей, встретившихся с ним в лагерном госпитале и сыгравших спасительную роль в его жизни.

Warlam Schalamow / Варлам Шаламов
Über die Kolyma / На Колыме. Книга для чтения на немецком языке

Translated into German by Gabriele Leupold
© MSB Matthes & Seitz BerlinVerlagsgesellschaft mbH, Berlin, 2018
All rights reserved.
© КАРО, 2019

Vorwort

Viele, allzu viele Zweifel plagen mich. Nicht bloß Dinge, die jeder Memoirenschreiber, jeder Schriftsteller, sei er groß oder klein, kennt. Wird irgendjemand diese traurige Erzählung brauchen? Eine Erzählung nicht von einem siegreichen Geist, sondern einem zertretenen. Nicht Bekräftigung von Leben und Glauben[1 - Bekräftigung von Leben und Glauben – утверждение жизни и веры* См. прим. перев.] im tiefsten Unglück, wie die »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus«*, sondern Hoffnungslosigkeit und Zerfall. Wer braucht sie als Exempel, wen kann sie erziehen, vor Schlechtem bewahren und wen Gutes lehren? Wird sie Bekräftigung des Guten sein, trotz allem des Guten – denn im ethischen Wert sehe ich das einzige wahre Kriterium für Kunst.
Und warum ich? Ich bin nicht Amundsen* und nicht Peary. Meine Erfahrung wird von Millionen Menschen geteilt. Zweifellos sind unter diesen Millionen solche, deren Auge schärfer, deren Leidenschaft stärker, deren Gedächtnis besser und deren Talent reicher ist. Sie schreiben über dasselbe und werden sicherlich prägnanter erzählen als ich.

Wer wenig weiß – weiß viel
Es gibt auch andere, »subtilere« Zweifel. In der Literatur gilt als ausgemacht[2 - als ausgemacht gelten – считаться бесспорным], dass ein Schriftsteller gut nur über das schreiben kann, was er gut und gründlich kennt; je besser seine Kenntnis des »Materials«, je gründlicher seine persönliche Erfahrung auf diesem Gebiet, desto gewichtiger und bedeutsamer das von ihm Geschriebene.
Dem kann man nicht zustimmen. In Wirklichkeit verhält es sich anders. Der Schriftsteller braucht die geringe und wenig gründliche Erfahrung, die ausreichend ist für seine Glaubhaftigkeit, eine Erfahrung, die nicht entscheidend Einfluss nehmen kann auf seine Einschätzungen, emotionale wie logische, auf seine Auswahl, auf das gesamte Gefüge seines künstlerischen Denkens. Der Schriftsteller darf das Material nicht gut kennen, denn das Material wird ihn erdrücken. Der Schriftsteller ist der Späher der Leserwelt[3 - der Späher der Leserwelt – соглядатай читательского мира], er muss Fleisch vom Fleische der Leser sein, für die er schreibt oder schreiben wird.
Kennt er die fremde Welt zu gut und zu genau, nimmt der Schriftsteller ihre Bewertungen in sich auf, und nun wird seine Feder geführt und Wichtigkeit, Gleichgültigkeit oder Lächerlichkeit bekräftigt – Bewertungen der fremden Welt. Der Leser wird den Schriftsteller verlieren (und umgekehrt). Sie werden einander nicht verstehen.
In gewissem Sinn muss der Schriftsteller ein Ausländer sein in der Welt, von der er schreibt. Nur dann kann er kritisch sein gegenüber dem Material, [wird er] frei sein in seinen Bewertungen. Ist seine Erfahrung nicht sehr gründlich, dann kann der Schriftsteller, wenn er das Gesehene und Gehörte dem Urteil des Lesers übergibt, die Maßstäbe richtig zuteilen. Wie aber von dem erzählen, wovon man nicht erzählen darf? Man die passenden Worte nicht finden kann. Vielleicht wäre es einfacher zu sterben.
Man kann nicht gut von dem erzählen, was man aus der Nähe kennt.

Tjutschews Auffassung, ein Gedanke, geäußert, sei Lüge*, beklemmt auch mich. Der sprechende Mensch (der geäußerte Gedanke) kann nur lügen, nur schönfärben. Die Fähigkeit, die Seele nach außen zu kehren, ist äußerst selten und Dostojewskij nachzuahmen unmöglich. All das, was auf dem Papier erscheint, ist in gewissem Maße ausgedacht.
Die Krümel von Aufrichtigkeit bewahren, so unansehnlich sie auch seien. Ringen mit der künstlerischen Wahrheit im Namen der Wahrheit des Lebens[4 - ringen mit der künstlerischen Wahrheit im Namen der Wahrheit des Lebens – бороться с художественной правдой во имя правды жизни] – diese Aufgabe ist noch nicht so schwer. Schwer ist das andere, dass die Wahrheit des Lebens selbst auf flüchtige Weise wechselhaft ist. Sie ist eine Eintagsfliege, ist weder die, die sie gestern war, noch die sie morgen sein wird. Das Gefühl ist das Einzige, worin der Künstler nicht lügt. Wenn es ihm gelingt, dieses Gefühl auf beliebige Weise an den Leser heranzutragen, ist er im Recht, hat er seine Schlacht gewonnen. Aber wie?! Kann man dieses Gefühl weitergeben, wenn man nicht die Sprache benutzt, die den Künstler auf seinen Irrfahrten begleitet hat, sondern eine andere Sprache – auch eine unvergleichlich reichere, doch eine andere?

Das Gedächtnis*
Die Unvollkommenheit des Instruments, das sich Gedächtnis nennt, lässt mir ebenfalls keine Ruhe. Viele höchst charakteristische Kleinigkeiten sind unweigerlich vergessen – ich muss nach zwanzig Jahren schreiben. Fast spurlos verloren ist allzu vieles – in der Landschaft wie in den Innenräumen und vor allem in der Abfolge der Empfindungen. Der gesamte Ton der Darstellung kann nicht so sein, wie er sein sollte. Der Mensch merkt sich das Schöne und Gute besser und vergisst das Schlechte leichter. Schlechte Erinnerungen bedrücken, und die Kunst zu leben, falls es sie gibt – ist im Grunde die Kunst zu vergessen.
Ich habe keinerlei Aufzeichnungen gemacht, konnte sie nicht machen. Es gab eine einzige Aufgabe: zu überleben. Die schlechte Ernährung führte zu schlechter Versorgung der Hirnzellen – und das Gedächtnis ließ aus rein physischen Gründen unweigerlich nach. Es wird sich natürlich nicht an alles erinnern. Dabei ist ja die Erinnerung der Versuch, das Frühere zu erleben, und jeder weitere Monat, jedes weitere Jahr lassen den Eindruck und die Empfindung unweigerlich verblassen und verändern ihre Bewertung.
Viele Male kam mir in aller Augenfälligkeit in den Sinn[5 - viele Male kam mir in aller Augenfälligkeit in den Sinn – много раз со всей убедительностью приходило мне в голову], dass der intellektuelle Abstand vom sogenannten einfachen Menschen bis zu Immanuel Kant wohl um ein Vielfaches größer ist als der Abstand vom »einfachen Menschen« bis zu seinem Arbeitspferd.
Knut Hamsun hat uns mit dem »Segen der Erde«[6 - »Segen der Erde« – «Соки земли», роман норвежского писателя Кнута Гамсуна (Нобелевская премия, 1920)] einen genialen Versuch hinterlassen, die Psychologie eines einfachen Bauern darzustellen, der fern der Kultur lebt – seine Interessen, seine Handlungen und ihre Motive. Ich kenne in der Weltliteratur kein anderes solches Buch. Überall sonst stopfen die Autoren mit beklemmender Beharrlichkeit ihre Helden mit einer wirklichkeitsfernen, viel komplexeren Psychologie. Der Mensch hat viel mehr vom Tier, als es uns scheint. Er ist um vieles primitiver, als es uns scheint. Und selbst wenn er gebildet ist, nutzt er dieses Instrument zur Verteidigung seiner primitiven Gefühle. In einer Situation aber, wo die tausendjährige Zivilisation abfällt wie eine Schale[7 - wie eine Schale abfallen – слететь, как шелуха] und das animalische biologische Wesen vollkommen offen hervortritt, werden die Reste der Kultur zum realen und brutalen Kampf um das Leben in seiner unmittelbaren, primitiven Form genutzt.
Wie davon erzählen? Wie begreiflich machen, dass das Denken, die Gefühle, die Handlungen des Menschen schlicht und brutal sind, seine Psychologie äußerst schlicht, sein Wortschatz reduziert und seine Sinne abgestumpft? Von diesem Leben kann man nicht in der ersten Person erzählen. Denn eine solche Erzählung würde niemanden interessieren – so arm und begrenzt wäre die seelische Welt des Helden.
Wie zeigen, dass der seelische Tod vor dem physischen Tod eintritt? Und wie den Prozess des physischen Verfalls[8 - physischer Verfall – физический распад] und parallel des geistigen Verfalls zeigen? Wie zeigen, dass geistige Kraft keine Stütze sein, den physischen Verfall nicht aufhalten kann?
Vor Zeiten stritt ich in der Zelle des Butyrka-Gefängnisses mit Aron Kogan, einem begabten Dozenten der Fliegerakademie. Kogan war der Ansicht, dass die Intelligenz als gesellschaftliche Gruppe erheblich schwächer sei als jede andere Klasse. Doch in Gestalt ihrer Vertreter sei sie in wesentlich höherem Grad zu Heroismus fähig als jeder Arbeiter und jeder Kapitalist. Das war ein freundlicher, aber falscher Gedanke. Das bestätigte sich schnell bei der Anwendung der berüchtigten »Methode Nr. 3«* in Verhören. Das Gespräch mit Kogan fand Anfang 1937 statt, und geschlagen wurde in der Untersuchungshaft ab der zweiten Hälfte 1937, und die Schläge des Untersuchungsrichters[9 - der Untersuchungsrichter – судебный следователь] trieben allen Intellektuellen-Heroismus schnell aus. Das bestätigte sich auch in meinen langjährigen Beobachtungen an den unglücklichen Menschen. Geistige Überlegenheit[10 - geistige Überlegenheit – духовное преимущество] verkehrte sich in ihr Gegenteil, Stärke verkehrte sich in Schwäche und wurde zur Quelle zusätzlicher moralischer Leiden – für jene im Übrigen wenigen Intellektuellen, die außerstande waren, sich von der Zivilisation als einer unbequemen, ihre Bewegungsfreiheit einschränkenden Kleidung zu trennen. Das bäuerliche Leben unterschied sich wesentlich weniger vom Lagerleben als das Leben der Intelligenz, und darum wurden physische Leiden von den Bauern leichter ertragen und waren kein weiterer moralischer Druck.
Der Intellektuelle konnte das Lager im Voraus nicht durchdenken durchdenken, konnte es theoretisch nicht erfassen. Die gesamte persönliche Erfahrung des Intellektuellen ist reinster Empirismus in jedem Einzelfall. Wie von diesen Schicksalen erzählen? Es sind ihrer Tausende, Zehntausende …
Wie das Gesetz des Verfalls herleiten[11 - ein Gesetz herleiten – вывести закон]? Das Gesetz des Widerstands gegen den Verfall? Wie davon erzählen, dass nur die Religiösen eine vergleichsweise aufrechte Gruppe waren? Dass sich Parteimitglieder und Geistesarbeiter schneller demoralisieren ließen als andere? Worin gründete das Gesetz? In der physischen Stärke? Im Vorhandensein irgendeiner Idee? Wer kommt eher um? Die Schuldigen oder die Unschuldigen? Warum waren in den Augen des einfachen Volks die Intellektuellen im Lager nicht Märtyrer einer Idee? Dass der Mensch des Menschen Wolf ist und wann das so ist. An welcher letzten Grenze kommt das Menschliche abhanden? Wie von alldem erzählen?

Die Sprache
In welcher Sprache mit dem Leser sprechen? Wenn man nach Authentizität, nach Wahrheit strebt, wird die Sprache arm, dürftig. Das Metaphorische, das Komplexe der Rede entsteht auf einer bestimmten Entwicklungsstufe und verschwindet, wenn diese Stufe in umgekehrter Richtung überschritten wird. Die Chefs, die Kriminellen – buchstäblich alle – reizt das Geschraubte[12 - das Geschraubte – вычурность, витиеватость] in der Sprache der Intelligenz. Und ohne es selbst zu merken, verliert der Intellektuelle alles »Unnütze« in seiner Sprache … Meine ganze weitere Erzählung ist auch von dieser Seite unweigerlich zur Falschheit, zur Unwahrheit verdammt. Nicht ein einziges Mal hing ich einem langen Gedanken nach. Versuche, das zu tun, verursachten geradezu körperlichen Schmerz. Nicht ein einziges Mal in diesen Jahren war ich von der Landschaft entzückt – wenn sich mir etwas eingeprägt hat, so hat es sich später eingeprägt. Nicht ein einziges Mal fand ich in mir die Kraft zu energischer Empörung. All meine Gedanken waren demütig und stumpf. Diese sittliche und geistige Stumpfheit hatte ein Gutes – ich hatte keine Angst vor dem Tod und dachte ruhig daran. Mehr als der Gedanke an den Tod beschäftigte mich der Gedanke an das Mittagessen, an die Kälte, an die Schwere der Arbeit – kurz, der Gedanke an das Leben. Aber war das überhaupt ein Gedanke? Das war eine Art instinktives, primitives Denken. Wie sich in diesen Zustand zurückversetzen[13 - sich in diesen Zustand zurückversetzen – вернуть себя в прежнее состояние] und in welcher Sprache davon erzählen? Eine Bereicherung der Sprache bedeutet eine Verarmung der Erzählung im Sinne der Wahrheitstreue, der Wahrhaftigkeit.
Ich muss in der Sprache schreiben, in der ich heute schreibe, und natürlich hat sie sehr wenig gemein mit der Sprache, die ausreichend wäre zur Wiedergabe jener primitiven Gefühle und Gedanken, die mein Leben in jenen Jahren ausmachten. Ich werde mich bemühen, die Abfolge der Empfindungen wiederzugeben – und nur darin sehe ich eine Möglichkeit, die Wahrhaftigkeit der Darstellung zu bewahren. Alles Übrige aber – Gedanken, Worte, Landschaftsbeschreibungen, Exzerpte aus der Literatur[14 - Exzerpte aus der Literatur – выписки из книг], Alltagsszenen – wird nicht in ausreichendem Grad wahrhaftig sein. Aber dennoch würde ich wünschen, dass diese Wahrheit die Wahrheit jener Zeit damals wäre, die Wahrheit von vor zwanzig Jahren und nicht die Wahrheit meines heutigen Weltempfindens[15 - die Wahrheit meines heutigen Weltempfindens – правда моего сегодняшнего мироощущения].

[Die Verhaftung]
Am 12. Januar 1937 wurde ich verhaftet* und fürs Erste von einem Praktikanten mit Namen entweder Romanow oder Limanow verhört, einem jungen rotwangigen Praktikanten, der bei jeder seiner Fragen errötete – etwas Vasomotorisches, ein Gefäßspiel, wohl wie bei Grodsenskij*, der bis zu den Haarwurzeln oder sogar bis zu den Fußsohlen errötete.
»Also können Sie schreiben, dass Sie im Jahr 29 diese Ansichten teilten und heute nicht mehr teilen?«
»Ja.«
»Und Sie können das unterschreiben?«
»Natürlich.«
Der vasomotorische Untersuchungsführer[16 - der Untersuchungsführer – следователь] ging irgendwo raus und zeigte jemandem etwas, und gegen Abend verlegte man mich an die Lubjanka 14*, in die Moskauer Kommandantur, wo ich schon vor acht Jahren war und sämtliche Gepflogenheiten und Perspektiven der Lubjanka 14 kannte – das ist der »Hundezwinger«, der Sammelpunkt, von dort geht es entweder in die Freiheit, und das kam vor, oder in die Lubjanka 2, das heißt, du bist ein Staatsverbrecher, ein gestandener Feind höchsten Ranges, der kurz vor dem Höchstmaß* steht, oder aber ins Butyrka-Untersuchungsgefängnis, wo du, als Volksfeind erkannt, immerhin der Isolation, mit Minus oder Plus*, unterworfen wirst.
Darum ist die Butyrka zwar Leben, aber keine Freiheit. Frei kommt man aus der Butyrka nicht. Und nicht wegen der staatlichen Reputation (»die GPU* verhaftet keinen umsonst«), sondern einfach wegen des bürokratischen Kreisens dieses Todesrades[17 - wegen des bürokratischen Kreisens dieses Todesrades – из-за бюрократического вращения этого смертного колеса], dem ein anderes Kreistempo zu geben, dessen Lauf zu verändern niemand den Willen, die Fähigkeit, die Erlaubnis und das Recht besitzt. Die Butyrka ist das Staatsrad.
Untersuchungsführer Botwin, der mein Verfahren führte und es zum glücklichen Ende brachte – nicht zu einem Tribunal natürlich, aber mit dem Tribunal hat er mir mehrfach gedroht, sondern bis zur Winzschrift[18 - die Winzschrift – мелкий шрифт] des millionenfachen Kürzels KRTD. Übrigens steckte das Tribunal im Buchstaben »T«. Schon das Wort »Tribunal« führte diesen Todesbuchstaben, doch Untersuchungsführer Botwin konnte wohl kaum die wahre Rolle ermessen, die dieser geheime dunkle Buchstabe, aller magischen Kreise würdig[19 - aller magischen Kreise würdig – достойный всяких магических кругов], einer theurgischen Deutung würdig, im sowjetischen Alphabet besaß. Untersuchungsführer Botwin war ein träger Mann meines Alters und bereitete mein Verfahren gemächlich vor. In meinem Beisein unterbrach er das Verhör und heftete meiner Akte irgendwelche Zettel an. Die Wohnraumkrise, das Fehlen von Arbeitskabinetten, verschärfte alle Operationen der Tscheka. Botwin bekam das Kabinett für die Arbeit mit mir auf eine bestimmte Zeit, und anschließend wurde er hinausgejagt wie »der letzte Lump«[20 - wie »der letzte Lump« – как «последнюю падлу»].
»Du fliegst hier raus, wie der letzte Lump, wenn du auch nur eine Stunde bleibst«, hörte ich auf dem Korridor die Stimme irgendeiner hochgestellten Person.
Botwin hatte keinen hohen Dienstgrad und war daher zwangsläufig ein Zyniker und Faulpelz, er sparte Zeit, indem er in meinem Beisein arbeitete. Alle Auskünfte, die zu meiner Akte eintrafen, türmten sich ebenfalls um seinen Tisch. Unsere Beine berührten sich während des Verhörs, so eng waren die damaligen Kabinette noch aus Dsershinskijs Zeit. Man [konnte] mit eigenen Augen jede Zeile dessen lesen, was ohne Eile und ohne eilen zu wollen vor einem ausgebreitet wurde. Ich habe damals mit Vergnügen über den Tisch hinweg meine eigene Akte aus dem Jahr 1929 angeschaut und wiedergelesen. Die Verhaftung, die Verhöre, den Ordner mit den Aussagen der Zeugen[21 - Aussagen der Zeugen – показания свидетелей] zu Beginn und Ende der Untersuchung und schließlich das letzte Blatt in meiner damaligen Akte – die Weigerung, den Erhalt des Urteils zu unterschreiben: drei Jahre Lager und fünf Jahre Verbannung*. [Das Zeichen] von der gleichgültigen Hand des diensthabenden Kommandanten. Und wer war damals diensthabender Kommandant für den MOK, den Männereinzeltrakt? Gefängniskommandant war Adamson, aber diensthabend war wer? Nein, es war nicht im MOK, sondern im Etappentrakt, dass ich in den Hungerstreik trat. Der Grund? – ich will nicht mit der Konterrevolution sitzen und verlange meine Verlegung zu den Oppositionellen*.
»Sie sind hier nicht Untersuchungshäftling, Sie sind hier ein Verurteilter[22 - Sie sind hier nicht Untersuchungshäftling, Sie sind hier ein Verurteilter… – Вы у нас не как следственный, вы у нас как приговоренный…]«, sagte der diensthabende Kommandant gleichgültig zu mir – und tatsächlich [zeigte er] einen Auszug der Rechtsgrundlage, auf diesem Papier war auch das kostbare Zeichen in irgendwessen Schrift und mein Zeichen: »Unterschrift verweigert«.
Botwin las die Akte ebenfalls noch einmal und las sie gemächlich, las noch einmal auch ein anderes bedrohliches Zeichen: »Akte ins Archiv«. Diese Formel bedeutete Aufbewahrung auf ewige Zeiten.
Ich wusste all das auch so. Und Botwin interessierte etwas anderes. Ihn interessierte einfach, wie dieses Verfahren am geschicktesten ausgestalten, in dem sich für die damalige Zeit grenzenlose Möglichkeiten auftaten. Botwin kam immer von irgendeinem Bericht, einen ganzen Stapel Dokumente in der Hand. Neben Zynismus und Faulheit zeigten sich auch die gebührende Dienstbeflissenheit und der Wunsch, sich nichts entgehen zu lassen, nichts aus der Hand zu geben auf dem ruhmreichen Weg. Aus der Technik das Maximum dessen herauszupressen[23 - herauspressen – выжимать], was sie bieten kann.
»Er streckt die Hände nach der Partei aus«, schrie Botwin.
»Wer?«
»Sie.«
Jemand von den Oberen hatte in den Dokumenten Punkte und Gedankenstriche gesetzt … Plötzlich änderte er das Konzept wie auch den Ablauf des Verhörs. Nach dem Erhalt meiner alten Akte waren alle Zeugen aus meinem Verfahren erneut verhört worden – schon mit Blick nicht auf die Verbannung[24 - die Verbannung – ссылка], sondern auf ein Tribunal. Zeugen zu meinem Verfahren gab es sehr wenige, jenes Minimum, das heute besser ist als das Maximum. Alle Arbeitskollegen – Gusjatinskij, Schumskij – wurden komplett neu verhört.
Gusjatinskij brachte eine Masse neuer Fakten bei: fuhr nach Kiew, wo er Jefimow lobte, den Direktor des Kiewer Industrie-Instituts, und ehrliche Leninisten beschimpfte. Das alles erschien ihm verdächtig, und er teilte offiziell mit, wer mich der Redaktion empfohlen hatte.
In nichts hatten sich Schumskijs Aussagen verändert – gegenüber seinem ersten Verhör. Schumskij erwies sich keineswegs als Feigling.
Am bedeutendsten waren die Veränderungen in den Aussagen meiner Frau, doch ihren Kern kenne ich nur in der Wiedergabe Botwins: »Auch Ihre Frau sagt über Sie aus, Sie waren ein aktiver Oppositioneller, haben sich nur versteckt und maskiert, na ja.« Aber solche Aussagen fanden sich nicht.
Ich passte für das Kürzel[25 - Ich passte für das Kürzel – Я угодил под литерку (т.е. обвинялся в политическом преступлении, которое обозначалось аабревиатурой, например, АСА – антисоветская агитация)].

Vierzehn Jahre später, noch vor der Rehabilitierung, fragte ich [meine Frau]*:
»Was haben sie dir [hineingeschrieben] in deine eigenen Aussagen? Was konntest du in einem Jahr wie 1937 Überflüssiges sagen?«
»Meine Aussage war so: ich kann natürlich nicht sagen, was du in meiner Abwesenheit getan hast, aber in meinem Beisein warst du mit keinerlei trotzkistischen Tätigkeit befasst[26 - mit irgendeiner Tätigkeit befasst sein – заниматься чем-либо].«
»Na, wunderbar.«
»Du wirst dich einmal im Monat mit Pasternak treffen, und hierher wirst du, na, sagen wir, einmal pro Woche kommen.«
»Pasternak«, sagte ich, »braucht mich mehr als ich ihn. Pasternak hat mir gegeben, was er konnte, in seinen frühen Gedichten, den Gedichten ›Meine Schwester – das Leben‹: Pasternak schuldet mir auch nichts mehr.«
»Gib mir dein Wort, dass du Lenotschka in Frieden lässt und ihre Ideale nicht zerstörst. Sie ist von mir persönlich, ich betone dieses Wort, in offiziellen Traditionen erzogen, und ich will für sie keinen anderen Weg. Mein Auf-dich-Warten über 14 Jahre gibt mir das Recht auf diese Bitte.«
»Na und ob, diese Verpflichtung gehe ich ein und erfülle sie. Noch etwas?«
»Das ist noch nicht das Wichtigste, das Allerwichtigste – du musst alles vergessen.«
»Was alles?«
»… Na, zurückkehren zum normalen Leben …«

Der Weg in die Hölle
Der Dampfer »Kulu« beendete seine fünfte Überfahrt in der Nagajew-Bucht am 14. August 1937. Fünfundvierzig Tage hatte man die »Volksfeinde« – einen ganzen Transportzug von Moskauern – hergefahren. Die warme Stille der Sommernächte, die dumme Freude derer, die man in heizbaren Güterwaggons[27 - der Güterwaggon – товарный (грузовой) вагон] zu sechsunddreißig Mann transportierte. Die Menschen waren, während sie sich die blasse Gefängnishaut vom heißen Wind aus allen Waggonritzen verbrannten, auf kindliche Art glücklich. Die Untersuchung ist abgeschlossen. Jetzt hat sich ihre Situation geklärt, jetzt fahren sie an die goldene Kolyma, in die fernen Lager, wo das Dasein, wie man hört, märchenhaft ist. Zwei Männer im Waggon lächelten nicht – ich (ich wusste, was das ferne Lager ist) und ein schlesischer Kommunist, der Deutsche Weber, ein Häftling von der Kolyma, den man für irgendwelche Aussagen nach Moskau gebracht hatte. Als einmal wieder ein Ausbruch des Gelächters[28 - ein Ausbruch des Gelächters – взрыв смеха], des nervösen Häftlingsgelächters, verhallt war, gab mir Weber einen Wink mit seinem schwarzen Bart und sagte: »Das sind Kinder. Sie wissen nicht, dass man sie zur physischen Vernichtung bringt.«
Ich erinnere mich noch an Omsk mit seinem vortrefflichen Badehaus, einer militärischen Entlausungsanstalt[29 - die Entlausungsanstalt – санпропускник], bei der wir, gewaschen und nach der Desinfektion in feuchter, nach Lysol riechender Kleidung, auf irgendeinem Hof lagen und in die warme, von kleinen grauen Wölkchen umgebene Herbstsonne schauten. Das Laub der Bäume war tiefrot. Zu uns kam ein Oberleutnant des NKWD, fett und rasiert, beide Daumen unter den Ledergürtel geklemmt, der den riesigen Bauch mit Mühe zusammenhielt. Das war der »Repräsentant« des NKWD, der den Transport begleitete. Klagen? Nein, wir klagten nicht, und auch nicht, um Klagen zu hören, war der Leutnant zur Etappe gekommen. Seine Visage, von Fett aufgeschwemmt[30 - von Fett aufgeschwemmt – заплывшее жиром], und die blassen mageren Figuren und die eingefallenen Augen der Häftlinge haben sich mir gut eingeprägt.
»Na, Sie zum Beispiel«, er stieß mit dem Lackstiefel meinen Nachbarn an, »was haben Sie in Freiheit gemacht?«
»Ich bin Mathematikdozent an einer Hochschule.«
»Na, meine Herren Dozenten, ihr werdet kaum in euren Beruf zurückzukehren. Ihr werdet euch anderer Arbeit widmen müssen, nützlicherer …«
Alle schwiegen. Der Leutnant entwickelte seinen Gedanken fort: »Natürlich, ich kann der Regierung und der Partei keinen Rat geben, aber wenn man mich fragte, was mit euch tun, dann wäre mein Rat: alle auf eine nördliche Insel schaffen – na, sagen wir, auf die Wrangelinsel*, dort zurücklassen und die Verbindung zur Insel einstellen. Die ganze Aufgabe wäre im Nu gelöst[31 - die ganze Aufgabe wäre im Nu gelöst – вся задача была бы вмиг решена]. Aber sie schaffen euch ins Gold und wollen, dass ihr in den Gruben arbeitet. Arbeiten werdet ihr, ihr Dozenten …«
»Und warum bist du hier?« Der Leutnant richtete den Blick auf Wolodka Iwanow, einen Rotschopf, von Kopf bis Fuß mit Kriminellen-Tätowierungen bedeckt. Man hörte deutlich das Wohlwollen in der Stimme des Oberleutnants.
»Ich bin Erzieher in der Kolonie Bolschewo*. Als Achtundfünfziger. Mit Kürzel.«
»A-ha …«
Und der Leutnant zog weiter.
Ich erinnere mich an den Bauch des Dampfers, wo sich unserer Gruppe ein gewisser Chrenow anschloss, ein Aufgedunsener[32 - der Aufgedunsene – одутловатый человек], Langsamer. Gepäck hatte Chrenow nicht dabei für die Kolyma. Dafür ein Bändchen von Majakowskij-Gedichten mit Widmung des Autors. Und für alle, die das wollten, suchte er die Seite und zeigte »Chrenows Erzählung von Kusnezkstroj«* und las:
Ich weiß – die Stadt wird werden,
Ich weiß – der Garten prangt.
Wenn solche Menschen leben
Im großen Sowjetland!
Chrenow war schwerer Herzpatient. Doch man trieb Beinlose wie Siebzigjährige wie Tuberkulosekranke im letzten Stadium an die Kolyma. Für »Volksfeinde« gab es kein Erbarmen. Seine schwere Krankheit rettete Chrenow. Er erlebte als Invalide das Ende der Haftzeit, wurde entlassen und starb an der Kolyma schon als Freier, als einer der wenigen »Glückspilze«.
Ich weiß nämlich nicht, was Glück ist – am Leben bleiben nach großen Qualen oder sterben, ehe die Leiden beginnen.
Ich erinnere mich gut, wie die fünfte Überfahrt der »Kulu« endete.

In der Nagajew-Bucht kam der Dampfer nachts an, und das Ausladen wurde auf den Morgen verschoben. Am Morgen ging ich auf Deck und schaute, und mein Herz zog sich zusammen von gewaltiger Unruhe.
Es fiel feiner kalter Regen. Am Ufer kahle rotstichige Bergkuppen, umgeben von dunkelgrauen Regenwolken. Baracken, umzäunt von Stacheldraht[33 - der Stacheldraht – колючая проволока]. Eine in die Ferne und in die Höhe führende schmale Straße, und unzählige Bergkuppen …
Drei Tage in der Etappe, in Segeltuchzelten, durchnässt von dem ununterbrochenen Regen. Die Arbeit – Verlegen einer Straße in die Wesjolaja-Bucht. Verladung auf Autos, die Chaussee windet sich zwischen den Bergen, immerzu in die Höhe, mit jeder Kurve wird es immer kälter, die Luft immer trockener, und am zwanzigsten August dann lädt man uns im Bergwerk »Partisan« der Nördlichen Bergwerksverwaltung aus.
Warum erinnere ich mich denn, dass die Überfahrt des Dampfers »Kulu« in der Schifffahrtsperiode des Jahres 1937 eben die fünfte war?
Weil ich es mir fünfzehn Jahre lang in Erinnerung rufen musste bei den endlosen Zählungen, die sich dort »Generalappell « nannten. Weil man sich bei der Überführung von Ort zu Ort, von einem Lagerpunkt zum anderen, jedes Mal derselben Befragung unterziehen musste.
Der Häftling wird im Lager jeden lieben Tag genötigt, auf mehrere Fragen zu antworten.
Name?
Vor- und Vatersname?
Artikel?
Haftdauer?
Ankunft an der Kolyma?
Auf welchem Dampfer?
Mit welcher Überfahrt?
Die drei letzten Fragen werden bei den Appellen gestellt. Und die ersten – jeden Tag mehrmals.
Der Mensch mag sich nicht an das Schlechte erinnern. Man erinnert sich öfter an das Gute. Das ist eines der weisen Gesetze des Lebens, ein Element der Anpassung wohl und des Glättens scharfer Kanten[34 - das Glätten scharfer Kanten – сглаживание острых углов]. »Wenn ihr einem jeden begegnen wolltet, wie er’s verdient, wer würde dem Staup-Besen entgehen.«* Diese Hamlet-Worte sind kein Scherz, kein Bonmot. Wenn der Mensch nicht imstande wäre zu vergessen, wer könnte dann leben. Die Kunst zu leben ist die Kunst zu vergessen.
Das ist der Grund, warum unter sehr schwierigen Bedingungen keine Freundschaft geknüpft[35 - Freundschaft knüpfen – завязать дружбу] wird. Und an sehr schwierige Bedingungen keiner zurückdenken möchte. Freundschaft knüpft man in Situationen »mittlerer Schwierigkeit«, wenn das Fleisch auf den menschlichen Knochen noch ausreicht. Das letzte Fleisch aber nährt nur zwei Gefühle: Erbitterung oder Gleichgültigkeit.
Alles, wovon ich erzählen werde, wird zwangsläufig geglättet und abgemildert sein.
Die Zeit wird die wahre Größenordnung einer Begebenheit nur verzerren.
In Moskau waren schon ermordet: Tuchatschewskij, Jakir, Dsidsijewskij und Schmidt*. Jeshow hatte auf einer Sitzung des Zentralen Exekutivkomitees schon in einem drohenden Vortrag gesagt, in den Arbeitslagern sei »die Disziplin erschlafft«, in Zeitungsartikeln fanden sich immer häufiger Sätze über die »physische Vernichtung des Feindes«, »über die Notwendigkeit der Liquidierung der Trotzkisten«, während das Goldbergwerk, in das wir kamen, noch das frühere »glückliche« Leben lebte.
Den Ankömmlingen wurde eine neue Wintermontur ausgegeben. In der Schuhmacherei stand ein Fass mit Lebertran, aus dem man auch das Schmiermittel schöpfte. Den Ankömmlingen gab man eine dreitägige Ruhepause und machte sie mit der »Produktion« bekannt – Grube, Schaufel, Hacke, Fördersteg und Schubkarre.
Die Maschine des OSO* —
zwei Griffe, ein Rad.
Die Sanitätsstelle war leer. Die Neulinge interessierten sich nicht einmal für diese Einrichtung.
Die Arbeit – ein Profil öffnen, Sprengungen[36 - die Sprengung – взрыв], Abtransport per Hand in den Bunker, von wo aus Pferdeloren alles zur Waschtrommel[37 - die Waschtrommel – промывочный барабан] schaffen, der Waschvorrichtung.
Schwere Arbeit, dafür lässt sich viel verdienen – bis zu zehntausend Rubel in einem Monat der Sommersaison. Im Winter weniger. Bei großer Kälte, über 50 Grad, wird nicht gearbeitet. Im Sommer arbeitet man zehn Stunden mit Schichtpause alle zehn Tage. Die Ruhepause wird »angespart« und dann vorschussweise am 1. Mai und »auf Abrechnung« am 7. November »überreicht«.* Im Dezember wird sechs, im Januar vier, im Februar sechs, im März sieben, im April acht, im Mai und dem ganzen Sommer zehn [Stunden] gearbeitet.
»Wenn ihr gut arbeitet, könnt ihr etwas nach Hause schicken«, sagten die »Inspektoren« den Neulingen während der Führung.
Rationen gab es dreierlei – die Stachanow-, die Stoßarbeiter- und die Produktionsration. Bei der Stachanowration gab es drei Kilo Brot und gutes warmes Essen. Bei Normerfüllung von 110 % gab es die Stoßarbeiterration und von 100 % und darunter die Produktionsration —achthundert Gramm Brot und weniger Gerichte.
Die medizinische Untersuchung teilte alle in vier Kategorien ein.
Die vierte – Gesunde.
Die dritte – die nicht vollkommen Gesunden, aber Leute, die für jede physische Arbeit taugen.
Die zweite – lft (leichte physische Tätigkeit).
Die erste – Invaliden.
Ein Häftling mit der zweiten Kategorie hatte Anrecht auf einen Nachlass von 30 %. Darum tauchten »Stachanowarbeiter der Krankheit« auf, die Hilfsarbeiten erledigten und einen Nachlass bei der Festlegung der Ration bekamen.
Die ungünstigste war die dritte Gruppe – meist eine Gruppe von Menschen der intellektuellen Arbeit.
Das waren die Bersinschen Regeln, die noch bestanden, als unsere Etappe im »Partisan« ankam.
Schon war in Moskau Bersins Schicksal entschieden. Schon wurden die Befehle vom neuen Wein in alten Schläuchen[38 - neuer Wein in alten Schläuchen – (Еванг.) новое вино в ветхие мехи] vorbereitet und vervielfältigt.
Schon wurde eine Instruktion vorbereitet, wodurch die alten Schläuche zu ersetzen wären.
All das brachten uns Feldjäger an die Kolyma hinterher.
Die Disziplin war so, dass dem Häftling kein Haar ausfällt, wenn es Moskau nicht befiehlt. Moskau weiß alles und entscheidet das Schicksal jedes der Millionen Häftlinge.
Die Entscheidung wird im Zentrum gefällt und geht »auf dem Befehlsweg« nach unten, an die Peripherie.
Was ist hier am Werk – eine Kettenreaktion oder das Reibungsgesetz? Weder noch. Alle fürchten sich, alle führen die Befehle von oben aus. Alle sind bemüht, sie zu erfüllen. Und das Erfüllen zu vermelden.
Natürlich sind hier Leben und Tod realer. Ein schmächtiger Journalist schreibt in Moskau einen vernichtenden Artikel über die Liquidierung der Feinde, und an der Kolyma nimmt ein Ganove eine Brechstange und bringt einen Alten, einen »Trotzkisten« um. Und hält sich für einen »Volksfreund«.
Mitten im Bergwerk stand ein Zelt, das jedem Neuankömmling mit besonderem Respekt gezeigt wurde. Hier lebten 75 Mann »Trotzkisten«, die die Arbeit verweigerten. Im August bekamen sie die Produktionsration. Im November wurden sie erschossen.

Furchtlosigkeit
Im Januar achtunddreißig wurde unsere Brigade im »Partisan« doch vom Zelt in eine Baracke verlegt. Der Unterschied war gering. Neben dem Zelt hatten die Zimmerleute ein Lärchenholzgerüst[39 - das Lärchenholzgerüst – каркас из лиственницы] montiert, mit einem Balkenabstand von je 3 oder 4 Metern, es in eine Pfahlnut[40 - die Pfahlnut – паз столба] gesetzt, die Pfähle steckten oben und unten in einer großen Einfassung, aus dickeren und längeren Balken montiert als die Balken für die Wände. Aber beide Einfassungen waren ebenfalls zusammengefügt, zusammengesetzt – denn an der Kolyma, noch dazu in der Waldtundra, gibt es keine hohen Bäume. Die längsten Lärchenstämme von bis zu fünfzehn Metern – man hebt sie auf für die Hochspannungsmasten[41 - der Hochspannungsmast – опора высоковольтной линии] – sind selten, genauso wie die Schneeleoparden, und man nimmt sie nicht für Barackenwände. Jeder Balken jeder Reihe einer solchen Barackenwand wurde auf Moos gestellt, das üppig wuchs in den endlosen Sümpfen der Kolyma. Purpurfarbenes oder hellgrünes Moos bis zu drei Metern Dicke gibt es an der Kolyma überall. Die Moosschicht schwindet und verliert ihre Farbe, sie wird zu braun, schwarz und grau, nur auf bewuchslosen Anhöhen, auf flachen Bergen, auf den offenen Flächen der Kuppen.
Dieses Moos nun, das selbstverständlich jede Brigade für sich holte, an der Kolyma gibt es keinerlei gemeinsame Moosbeschaffung – all das sind die Buchhalterkunststückchen des Lager-Sozialismus. Die Moosbeschaffung wird man mit einem anderen Marschbefehl, auf andere Rechnung machen, oder aber man wird den Gehilfen des Chefs bezahlen.
Auf Werg wurden die Balken nur in Magadan gesetzt, in der Wohnstätte des USWITL-Chefs oder des Direktors von Dalstroj. Dort wurde Werg vom Großen Land* angefahren.
Das flauschige Moos trocknete und zerkrümelte schnell und verwandelte sich in Staub. Zwischen den Balken bildeten sich Ritzen, aber diese Ritzen waren für russische Menschen. Jeder sollte, so der Gedanke der Moskauer, nicht der Magadaner Chefs, seine Ritze verkitten oder zum Beispiel mit den eigenen Fingern zustopfen. Sämtliche Baracken waren im Innern voller Flecken.
Das Gerüst wurde direkt auf die Erde gestellt, auf den Stein, ohne schlaue Tüftelei[42 - ohne schlaue Tüftelei – (зд.) не мудрствуя лукаво] in Bezug auf die Horizontale oder Vertikale – Lot und Wasserwaage wurden hier wenig genutzt. Wegen der Überraschungen des Dauerfrostbodens grub man die unteren Rahmen niemals in den Boden ein. In der Baracke verlegte man einen Boden aus Treibholz, ebenfalls gewellt und einem Fußboden wenig ähnlich. Eine Decke aber gab es gar nicht. Die Decke war das Dach des erwähnten Segeltuchzelts. Das Segeltuchzelt, eben das, in dem wir im Sommer gewohnt hatten, wurde auf dieses Gerüst aufgezogen, das man neben dem Zelt hingesetzt hatte – und die Winterbaracke war fertig.
Mitten in der Baracke stand ein Ofen – der einzige Ofen der Baracke. Ein Fassofen. An der Kolyma sind alle Öfen so – solche Öfen fressen viel Holz, dafür lassen sie sich leicht anzünden, und würden die Baracke schnell erwärmen, wenn die Ritzen nicht wären.
Als Barackentür dienten einfach Bretter, etwas fester zusammengezimmert und schief angenagelt[43 - schief angenagelt – косо прибитый] an die Gummischarniere – Stücke von Autoreifen. Und auch innen an der Tür war die Türklinke, in der Länge ähnlich wie die Klinke in Moskauer Restaurants, so dass man sie mit beiden Händen fassen und die angefrorene Tür losreißen konnte. So eine Baracke wurde nicht warm, und wenn man darin hundert Kubikmeter Holz verbrannt hätte. Doch für Holz gab es ebenfalls strengste Normen. Vor allem musste jede Brigade das Holz »auf dem Buckel« herbringen[44 - das Holz »auf dem Buckel« herbringen – нести дрова на себе], d. h. zwei, drei Kilometer in die Talkessel, in die Berge laufen und sich dort einen Stock nach den eigenen Kräften suchen und ins Lager schleppen. All das wurde nach der Arbeit in der Grube absolviert. Mit jedem Tag waren die Holzstapel weiter entfernt, immer höher in den Bergen, war es immer schwerer hin- und von dort zurückzukommen. Brigadiere und Begleitposten sahen darauf, dass du, Gott bewahre, keinen zu leichten »Stock« nimmst – sie zwangen dich, ihn gegen einen schwereren einzutauschen.
In der Baracke, an den Türen zur Zone empfingen Aufseher und Lagerältester die Brigade – beide sahen darauf, dass jeder seinen »Stock« hatte und dass er nicht klein, leicht und mickrig[45 - mickrig – (зд.) мелкий] war.
Jedes Mal um dieselbe Abend- oder schon Nachtstunde stellte sich heraus, dass ein Teil des Holzes in die Wachabteilung gebracht werden musste. Einen Teil wählten sie auf der Wache für die Diensthabenden aus, und nur das Allerwenigste – das dünne, kurze, —gelangte in den Ofen der Brigade. Bei jedem Konflikt wurde die gesamte Brigade bei sechzig Grad Frost vom Begleitposten vor der Wache festgehalten. Diese ganze Holzpflicht (da wurde Holz ins Badehaus, in die Wäscherei, in die freie Siedlung gebracht – überallhin) ist eine meiner schlimmsten Erinnerungen. Holz schleppte im Winter die gesamte Brigade, Stachanowleute wie dochodjagi. Bis heute spüre ich das Gewicht irgendeines Stocks, am dicken Stammende[46 - ein Stock, am dicken Stammende gefasst – палка, взятая с «комельком» (комель – тостый нижний конец бревна)] gefasst – einen langen Stamm ließ man uns zu zweit schleppen.
Ich bin groß gewachsen, und das war für mich die gesamte Zeit meiner Haft über Quelle aller möglichen Häftlingsqualen. Mir war die Ration zu gering, ich wurde schneller schwach als alle und sah früher als die anderen, dass die physische Arbeit der Fluch des Menschen ist. Noch dazu ist die Häftlings-, die erzwungene Arbeit auch eine unendliche, alltägliche Erniedrigung. Das wusste ich übrigens auch aus meiner ersten Haftzeit an der Wischera*. Die Unendlichkeit der Erniedrigung durch schwere Arbeit, durch Schläge. Wenn die Ganoven im Goldbergwerk gemeinsam mit der Leitung den Plan aus der Brigade herausprügeln – all das beobachtete ich schon von den ersten Monaten 1938 an.
In mir lebte mit außerordentlicher Stärke ein unendlicher Geist des Widerstands, des rastlosen Protestes gegen all unser Elend, unsere Erniedrigungen. Diesen Protest, diesen Kampf führt man an der Kolyma nicht kollektiv. Ich habe niemanden aufgerufen, meinem Beispiel zu folgen.
Aber schon seit dem »Partisan«, seit der ersten , seit dem ersten all dessen – ich hatte nicht bis zur »Normerfüllung« gearbeitet – beschloss ich: ich werde für diesen Staat nicht arbeiten. Einen Staat, der mich Unschuldigen im Gefängnis gehalten, mich hinter den Polarkreis verbracht hat und mit Hunger, Kälte und Schlägen umbringt. Einen Sklaven wird er aus mir nicht machen. Gebrandmarkt, doch kein Sklav*. Die Norm war nicht zu schaffen, das war nicht nur mir klar, sondern auch meinen Kameraden, all meinen Chefs – den Brigadieren, Vorarbeitern, Begleitposten, dem Minenchef, dem Volkskommissar für Inneres und schließlich meinem Untersuchungsführer in Moskau. Alle wussten, wozu sie mich verdammen.
Sollen sie mich umbringen, Arbeit werden sie von mir nicht bekommen.
Ich bin nicht der Erste und nicht der Letzte. Meine katorga-Entdeckung, scheinbar nicht so sehr groß. Doch an der Kolyma gab sie mir geistige Kraft, gab die Kraft zu leben.
Für das schlimmste Verbrechen an der Kolyma halte ich die Chefarbeit als Brigadier. Andere zum Arbeiten zu zwingen, Menschen zum Arbeiten zwingen, die zum Tod verdammt sind.
Dieser Ansicht war ich im August 1937 und im Mai 1959 und habe diese Ansicht niemals geändert.
Die Arbeit offen und öffentlich verweigern – wozu, ebenfalls offen und öffentlich, alle Chefs der gesamten Kolyma aufrufen: »Wenn du nicht arbeiten willst, weigere dich.« Dieses Gekreisch habe ich bis heute im Ohr.
Für jede Arbeitsverweigerung wurde man 1938, und nicht nur damals, erschossen. Zur Arbeit hat man auszurücken[47 - ausrücken – выступить]. Das schlimmste Häftlingsverbrechen nach Stalins Kodex ist die Arbeitsverweigerung. Ein Staatsverbrechen, darum ist das Verweigern der Arbeit schon in der Baracke unmöglich. Zur Arbeit hat man auszurücken.
1938 wollte es im »Partisan« kein einziger Chef mit den »Schwachmatikern«[48 - »Schwachmatikern« – «слабосилка»] riskieren. Jeder, der eine ärztliche und Sanitär-Bescheinigung hatte, war ein Stachanowmann – so lautet die , der die Theorie des »Stachanowarbeiters der Krankheit« entsprang. In unserem Bergwerk war zum Beispiel auch Chrenow, der ehemalige Chef von Kusnezkstroj – um ihn geht es in dem bildhaften Majakowskij-Verschen zu dem Garten, der prangen wird, oder der Gartenstadt.
Der Stachanowarbeiter der Krankheit wurde zu leichten Arbeiten eingesetzt, und er wurde nicht unter dem Knüppel, dem Gewehrkolben der Begleitposten in die Grube getrieben. Aber die Chefs wollten nichts riskieren, die Norm nicht erfüllt – schlecht gearbeitet —, in die RUR mit ihm, in die Rotte mit verschärftem Regime, oder in die BUR, wie die RUR seit einiger Zeit genannt wurde – es scheint den Moskauer Chefs, dass Rotte antisowjetisch klingt und an die Häftlingsrotte erinnert, darum wurde die RUR in allen Bergwerken umbenannt in BUR – Baracke verschärften Regimes.
Für die RUR trug im »Partisan« der Chef ein, sehr rasch – gleich von der Arbeit brachte dich der Begleitposten weg und sperrte dich in die riesige Isolator-Baracke mit Konvoj, mit Posten. Und dorthin kamen viele Menschen. Ihr Aufenthalt in der RUR wurde irgendwie eingetragen, im Buch des RUR-Kommandanten vermerkt, und auch in den Lagerakten der Häftlinge sollte eine Spur hinterlassen bleiben. Aber Spuren in der Akte sind nicht Schläge bei 60 Grad Frost, nicht der Hunger[49 - der Hunger – «сосущий» голод].
In der RUR gab es auch Essen, das gewöhnliche Lageressen, was für einen Menschen, der nur von der Lagerverpflegung lebt, noch günstiger war, als in der Lagerkantine zu essen, die von Dieben, Brigadieren, Aufsehern und Begleitposten bestohlen wurde.
Die RUR-Verpflegung war für unsereins besser als im Lager.
Die RUR arbeitete beim Holzeinschlag, beim Gräbenziehen – aber ohne Plan, ohne Goldnorm —, also war auch das Arbeitsregime weniger hart.
Ich habe viele Male in der RUR gesessen. Kaum ist meine Zeit dort zu Ende und ich komme ins Bergwerk – heute sind die Arbeits<-Register> schneller —, zu Arm oder Breshnikow, zu Anissimow – und zurück in die RUR.
Und in dieser RUR nun, im »Partisan«, entdeckte ich im Januar oder Februar 1938 in mir eine Eigenschaft …
Der Mensch kennt sich selbst nicht. Die Möglichkeiten des Menschen zum Guten und zum Bösen haben unendlich viele Abstufungen. Die Verbrechen der übertreffen – es findet sich immer Neues, noch Schrecklicheres.
Der Grund der menschlichen Seele hat keinen Boden, immer passiert noch Schrecklicheres, noch Gemeineres, als du es gekannt, gesehen und begriffen hast.
Wahrscheinlich hat auch die menschliche Fähigkeit zum Guten unendlich viele Abstufungen – das Wesentliche ist nur, dass der Mensch nicht unter die Bedingungen des höchsten Guten gestellt ist. Der höchsten Probe auf das Gute. In der menschlichen Seele gibt es nicht die absolute Kälte, oder höchstens bei den Ganoven[50 - der Ganove – (разг.) вор, блатной], und nicht die Temperatur der Sonne. Auf der Erde würde diese Temperatur die menschliche Seele erbarmungslos verbrennen, ebenso wie die absolute Kälte. Aber nicht nur Gut und Böse. Jede menschliche Eigenschaft hat unendlich viele Ausprägungen – und was positive und was negativ ist, lässt sich im Voraus nicht sagen. Der Weg des Menschen ist das Entdecken seiner selbst, vom ersten bis zum letzten Lebenstag.
Im »Partisan« in der RUR also eröffnete sich mir im Januar 1938 eine objektive Wahrheit.
Der Arbeitstag der RUR war immer gleich, zwei Holztouren vor dem Mittagessen und eine Tour nach dem Mittagessen. Natürlich werden wir nicht kutschiert, sondern eingespannt, acht Mann auf einen Pferdeschlitten – es werden solche Zugriemen gemacht – im Winter, nach Art der Rentierschlitten.
Vier Schlitten fuhren, an der Spitze jedes Schlittens ein Ganove mit Stock, um die Trotzkisten anzutreiben, und Begleitposten gab es zwei – für die gesamte Pferdegruppe.
Man musste die Schlitten etwa zwei Kilometer bis zum Talkessel schaffen; sie dann hochwuchten und auf einem ziemlich steilen Weg über den Schnee schleppen, und dort gab es Stapel – von Baumstümpfen oder Brennholz oder Krummholzwurzeln, all das war schneebedeckt, doch auf dem Berg lag wenig Schnee – alles davongeblasen.
Man musste alle Schlitten beladen – jeder belud seinen Schlitten getrennt – und sich auf den Rückweg machen, jetzt schon abwärts. Auf der – steilen – Talfahrt war der Schlitten unmöglich zu halten, und man ließ ihn langsam per Hand an den Seilen, an den Zugriemen hinunter.
Dann waren alle auf der Straße und fuhren in die Zone, in die RUR.
Jeden Tag belieferten zwei Schlitten vor dem Mittagessen die Wachabteilung, ohne Einfahrt in die Zone, und nach dem Mittagessen fuhren sie nur ins Lager, in die RUR.
Wir wussten nie, wie unser Arbeitstag endet, und unser Tun und Lassen und das unserer Chefs war eine Art Gewohnheitsrecht, nicht mehr.
Gerade traf im Lager eine zusätzliche Abteilung Begleitposten zur Arbeit ein, die Bewachung des Bergwerks und der Häftlinge wurde an der ganzen Kolyma rasch verstärkt. In unserem Bergwerk war die Baracke für die Wache schon gebaut, und nun füllte sie sich mit Bewohnern.
Anstatt selbst nach Holz zu fahren, hatte die Leitung der Abteilung und des Lagers beschlossen, dass wieder die RUR das Holz transportieren wird und doch nicht die Soldaten es »auf dem Buckel« tragen. Die ganze Kolyma würde lachen.
An diesem Tag hielten sie unsere Pferdebrigade nach der dritten Tour fest und versuchten, uns ein viertes Mal nach Holz zu schicken. Sie machten es noch schlimmer – sie befahlen, diese dritten Schlitten in die Wachabteilung zu schaffen. Das Lager blieb ohne Holz. Alle weigerten sich zu fahren.
Drohungen halfen nichts. Es erschien der Chef der Abteilung, der Lagerchef, der Bergwerkschef, der Bevollmächtigte des NKWD.
Vierzig Leichname standen fest für ihre schattenhaften Häftlingsrechte ein – gestern sind wir dreimal gefahren, und zum vierten Mal fahren wir nicht.
Es eine Menge von Chefs, Begleitposten, Soldaten und Vorarbeitern, sie versammelten sich, um zu schauen, wie die Geschichte endet.
Unsere gesamte Brigade umringten Soldaten mit Gewehren und Hunden.
»Hinlegen!«
Die Brigade legte sich in den Schnee.
»Aufstehen!«
Die Brigade stand auf.
»Hinlegen!«
»Aufstehen!«
»Hinlegen!«
»Aufstehen!«
Beim Kommando »hinlegen« erklangen Schüsse.
Nach dieser Vorbereitung trat der Bergwerkschef Anissimow vor und sagte, wer nicht ins Holz geht, bekommt eine Haftzeit angehängt.
Alle lagen, und kein Einziger stand auf.
Da trat der Bevollmächtigte hervor – und ließ antreten.
»Du gehst zur Arbeit?«
»Ja.«
»Zur Seite.«
Schließlich hatten sie Freiwillige für zwei Schlitten zusammen.
»Hinlegen!«
»Aufstehen!«
Sie hatten einen weiteren Schlitten. Übrig blieben wir drei: ich, Uschakow, ein junger [unleserl.] Dieb, und jemand Drittes mit Artikel achtundfünfzig, mit Bart, an seinen Namen erinnere ich mich nicht. Aber auch dieser Dritte mit Bart wurde von uns losgerissen und rannte den in die Berge aufgebrochenen Schlitten hinterher.
Es begann derselbe Spaß.
»Aufstehen!«
Und Schüsse über dem Kopf.
»Den Hund her!«
Sie hetzten den Hund[51 - einen Hund auf j-n hetzen – натравить на кого-л. собаку] auf uns. Mir zerfetzte der Hund die Kleidung und zerriss die Mütze, aber Uschakow war heil. Wir standen nebeneinander, Uschakow hielt in der Hand eine zerbrochene Rasierklinge und zeigte sie dem Hund, und der Hund stürzte davon – die Erfahrung ist eine große Sache.
Es war klar, wenn man uns nicht auf der Stelle erschießt, dann bringt man uns in die Baracke. Der Hund wurde zurückgerufen, wir kehrten in die kalte, ausgekühlte Baracke zurück, ohne einen einzigen Holzspan[52 - ohne einen einzigen Holzspan – без единой щепки], aber das war trotz allem ein Sieg, ein Test.
Am nächsten Tag fuhren wir genau dreimal Holz, zweimal vor dem Mittagessen und einmal nach dem Mittagessen.
Während all dieses Tohuwabohus [53 - während all dieses Tohuwabohus – во время всей этой кутерьмы с собаками] spürte ich unter anderem auch, dass ich keinerlei Angst empfinde. Und das war eine objektive Wahrheit, die mir im »Partisan« aufgegangen ist. Oft wurde ich später mit Hunden gehetzt und geschlagen, hat man gedroht, mich einzusperren und im Isolator, der Spezialzone, im Karzer zu halten.
Ich habe niemals Angst verspürt. Kürzlich fand ich in einem medizinischen Werk heraus, dass Furchtlosigkeit einfach ein verlangsamter Reflex in der menschlichen Natur ist.
Möglich.

<1969>

Neunzehnhundertachtunddreißig
Ich kann mich an das Gesicht jedes Menschen erinnern, den ich an einem vergangenen Tag gesehen habe, vielfach habe ich zu prüfen versucht, bis in welche Tiefen des Hirns dieser Film denn reicht, und die Bemühungen aus Angst vor Erfolg beendet. Der Erfolg ist fruchtlos. Möglich ist jedoch, nicht mein gesamtes Leben zu erinnern und zurückzuholen, sondern sagen wir das Jahr 1938 an der Kolyma.
Wo liegt es, in welcher Ecke, was davon ist vergessen, was geblieben? Ich sage gleich, geblieben ist nicht das Wichtigste, geblieben ist nicht das Eindrücklichste und nicht das Größte, sondern quasi das Unnötige des damaligen Lebens. Es gab 1938 kein jähes Eintauchen ins Elend, in die Hölle, ich versickerte und versackte dort tagtäglich und stündlich[54 - …ich versickerte und versackte dort tagtäglich und stündlich – я уходил, увязал туда каждодневно и повсечасно], alltäglich und allnächtlich.
Das wohl Schrecklichste, Erbarmungsloseste war die Kälte. Denn Arbeitsbefreiung gab es erst ab 55 Grad. Man haschte nach diesem 56. Grad Celsius, den man an der Spucke bestimmte, die in der Luft gefror, am Geräusch des Frostes, denn der Frost hat eine Sprache, die auf Jakutisch* »Sternenflüstern« heißt. Dieses Sternenflüstern hatten wir uns schnell und grausam angeeignet. Die allerersten Erfrierungen: Finger, Hände, Nase, Ohren und Gesicht, alles, was mit der kleinsten Luftbewegung Frost abbekommt. In den Bergen der Kolyma gibt es keinen Ort, an dem nicht Winde blasen. Die Kälte ist wohl das Schrecklichste. Ich habe mir einmal den Bauch erfroren – der Wind schlug die Wattejoppe auf, während ich in die Kantine lief. Ich bin aber auch nicht gelaufen, an der Kolyma läuft niemand – alle schieben sich nur voran. Ich hatte nicht daran gedacht, als mir in der Kantine der Tabaksbeutel mit Machorka entrissen wurde. Als naiver Mensch hatte ich den Beutel in der Hand gehalten. Ein junger Ganove riss ihn mir aus den Händen und rannte los. Ich rannte ihm hinterher, aber konnte keinen Sprung machen, um meine Beute zu schnappen. Der junge Kerl sprang in die Baracke, ich ihm nach, und sofort wurde ich von einem Schlag mit einem Holzscheit auf den Kopf betäubt – und aus der Baracke hinausgeworfen. Und diesen Schlag habe ich behalten, weil in mir noch irgendwelche menschlichen Gefühle waren, Rache, Wut. Später war all das zerschlagen und verloren.
Ich erinnere mich auch, wie ich hinter einem Tanklaster krieche, er hat Sonnenblumenöl geladen, und mit einem Brecheisen[55 - das Brecheisen – лом] den Tank nicht einschlagen kann – mir fehlen die Kräfte, und ich werfe das Brecheisen weg. Doch die erfahrene Hand eines Ganoven liest das Brecheisen auf, schlägt auf den Tank, und Öl fließt in den Schnee, das wir im Schnee auffangen und gleich mitsamt dem Schnee hinunterschlucken. Natürlich, das meiste räumen die Ganoven ab in Kochgeschirre und Dosen, bis der Laster . Ich krieche mit irgendeinem Kameraden hinter dieser Ölspur her, sammle die fremde Beute ein. Ich spüre, dass ich dünner und dünner werde, geradezu ausdörre von Tag zu Tag – mir fehlt es an Nahrung, ich bin immer hungrig.
Der Hunger ist die zweite Kraft, die mich in kurzer Frist zerstört, in zwei Wochen vielleicht, nicht mehr.
Die dritte Kraft sind die mangelnden Kräfte. Man lässt uns nicht schlafen, der Arbeitstag beträgt 14 Stunden gemäß Anweisung im Jahr 1938. Ich schleppe mich um die Grube herum, schlage irgendwelche Pfähle ein und hacke mit den erfrorenen Händen ohne Hoffnung, etwas zu schaffen. 14 Stunden plus zwei Stunden für das Frühstück, zwei Stunden für das Mittagessen und zwei Stunden für das Abendessen. Wie viel bleibt dann für den Schlaf, vier Stunden? Ich schlafe, ich lehne mich an, wie es kommt, und wo ich stehenbleibe, schlafe ich gleich ein.
Die Schläge sind die vierte Kraft. Den dochodjaga schlagen alle: der Begleitposten, der Arbeitsanweiser, der Brigadier, die Ganoven, der Kompaniekommandeur, und selbst der Friseur findet es angebracht, dem dochodjaga eine Kopfnuss zu verpassen. Zum dochodjaga wirst du dann, wenn du ausgezehrt bist von der kräfteübersteigenden Arbeit, ohne Schlaf, unter Schwerarbeit, bei fünfzig Grad Frost.
Was wird das Gedächtnis hier auswerfen?
Dass ich mich nicht schnell bewegen kann, dass jedes Hügelchen, jede Unebenheit mir unüberwindlich erscheint. Eine Schwelle zu übertreten[56 - eine Schwelle übertreten – перешагнуть порог] fehlt die Kraft. Und das ist keine Verstellung, sondern der natürliche Zustand des dochodjaga.
Besser erinnere ich mich an anderes – nicht an heitere, im Licht erstrahlende Handlungen, an Kummer oder Not, sondern an ganz und gar gewöhnliche Zustände, in denen ich zwischen Wachen und Schlafen lebe. Meine Größe hat mir viel geschadet. Die Verpflegung wird ja nicht nach Größe ausgegeben.
Aber auch all das betrifft alle, wie ich erst später, während der Unterbrechungen* verstand, oder auch erst nach meiner Abreise von der Kolyma. Dort dachte ich über nichts dergleichen nach, und mein Gedächtnis musste Muskelgedächtnis sein – wie am geschicktesten fallen nach dem unausweichlichen Schlag. Ich erinnere mich an keinen einzigen damaligen Wunsch von mir, außer essen, schlafen, ausruhen. An einen Sturm erinnere ich mich, es ist finster, eine Sirene dröhnt, um in der Finsternis den Weg zu weisen, blitzartig zieht sich ein Schneesturm zusammen, und ich erinnere mich, ich krieche durch einen eisigen Hohlweg, habe mich längst verirrt, aber lasse den Passierschein in die Baracke nicht aus den Händen – den »Stock« Brennholz. Ich falle, krieche und stoße plötzlich auf ein Bauwerk, eine Erdhütte am Rand unserer Siedlung. Und – komme in eine fremde Baracke, man lässt mich natürlich nicht rein, aber ich kann mich schon orientieren und laufe nach Hause unter dem Pfeifen des Schneesturms[57 - unter dem Pfeifen des Schneesturms – под свист метели]. Diese Baracke ist dieselbe, in der die 75 Verweigerer und Trotzkisten gesessen hatten, die zur Zeit des Schneesturms schon abtransportiert und erschossen waren.
Jeden Tag bringt man uns zum Ausrücken und verliest beim Licht der Fackeln die Listen der Erschossenen. Lange Listen. Verlesen wird jeden Tag. Viele meiner Barackenkameraden waren in diese tödlichen Handschläge des Oberst Garanin geraten.
Auch an Garanin erinnere ich mich. Viele Male habe ich ihn gesehen im »Partisan«.
Doch nicht davon, dass ich ihn gesehen habe, will ich erzählen, sondern von den Muskelschmerzen, vom Schmerzen der abgefrorenen Beine, von den Wunden, die nicht heilen wollen, von den Läusen, die sofort zur Stelle sind und den dochodjaga beißen. Ein Schal, voll mit Läusen, taumelt im Licht der Lampe. Aber das war schon wesentlich später, auch 1938 gab es viele Läuse, doch nicht so, wie in der Spezialzone während des Kriegs.
Die Schüsse, die Pferdeschlitten, die wir ziehen anstelle der Pferde, zu sechst ins Geschirr gespannt. Arbeitsverweigerung – Schüsse über die Köpfe hinweg und das Kommando: »Hinlegen! Aufstehen!« Und Hetze mit dem Hund, der mir die ganze Wattejoppe und die Hosen in Fetzen gerissen hat. Doch zum Arbeiten konnten sie mich auch mit dem Hund nicht zwingen. Nicht, weil ich ein Held bin, sondern weil ich noch die hatte für den Starrsinn, für den Kampf um Gerechtigkeit. Das war im Frühling 1938. Unsere ganze Brigade wurde gezwungen, einmal nach Holz zu fahren – zwei weitere Stunden. Versprochen war, dass sie uns freigeben, und jetzt haben sie uns betrogen und schicken uns ein weiteres Mal. Sechs Schlitten. Geweigert haben sich nur ich und der Ganove Uschakow. Und wir sind auch nicht gegangen, man brachte uns in die Baracke, und damit war die Sache beendet.
Doch auch das ist es nicht, was ich in meinem Gedächtnis suche, ich suche eine Erklärung, wie ich zum dochodjaga wurde. Wovor hatte ich Angst? Welche Grenzen habe ich mir gesetzt?
Hoffnungen zumindest hatte ich gar keine, ich plante nicht über den heutigen Tag hinaus.
Was noch? Die Einsamkeit – es ist klar, dass du ein Aussätziger bist, du merkst, dass alle vor dir Angst haben, weil jeder spürt, du gehörst zu den KRTD, den Kürzelträgern. Wir verfügen nicht über unser Schicksal, aber ich werde jeden Tag irgendwohin zur Arbeit aufgerufen, und ich gehe hin. Bei der Arbeit spüre ich – ich packe den Griff der Hacke, von ihm sind meine Finger gekrümmt[58 - von ihm sind meine Finger gekrümmt – по ней согнуты мои пальцы], und ich kann sie nur im Badehaus aufbiegen oder auch im Badehaus nicht – an diese Empfindung erinnere ich mich. Wie ich mit der Hacke fuchtele[59 - fuchteln – размахивать, махать], endlos mit der [unleserl.] Schaufel fuchtle, und es kommt mir nur so vor, als ob ich gut arbeite. Ich habe mich längst in einen dochodjaga verwandelt, auf den man nicht rechnen kann. Ich besitze Geschick und auch Geduld. Es fehlt nur das Allerwichtigste, das Wertvollste für die »Kader« der Kolyma —physische Kraft. Das erkenne ich nicht sofort, allerdings ein für alle Mal, für mein ganzes siebzehnjähriges Leben an der Kolyma. Meine Kraft ist geschwunden und nie mehr zurückgekehrt. Geblieben ist das Können. Eine neue Haut ist gewachsen, nur die Kraft hat mich verlassen.
Gern würde ich den Tag und die Stunde gewahr werden, als die Kraft erlahmte. Die Vorbereitung begann mit der Etappe, mit der Butyrka-Etappe. Wir fuhren los ohne Geld, allein mit der Brotration. Fuhren fünfundvierzig Tage, plus fünf Tage übers Meer, dann zwei Tage mit dem Auto nach dreitägiger Erholung im Durchgangslager in Magadan, nach drei Tagen ununterbrochener Arbeit im Regen – Gräbenziehen an der Straße in die Wesjolaja-Bucht. Was dachte ich, was erwartete ich 1938? Den Tod. Ich dachte, ich verliere die Kräfte, falle um und sterbe. Und kroch doch, lief und arbeitete, fuchtelte mit der kraftlosen Hacke, schlurfte mit der fast leeren Schaufel und schob die Schubkarre auf dem endlosen Fließband der Goldgrube. Für die Schubkarre bin ich ausgebildet bis zum Tod. Irgendwie fiel mir die Karre leichter als Hacke oder Schaufel. Die Schubkarre ist, gekonnt geschoben, eine große Kunst – all deine Muskeln müssen beteiligt sein an der Arbeit des Karrenschiebers. An die Schubkarre erinnere ich mich, [unleserl.] mit breitem Rad oder schmalem mit großem Durchmesser. Das Schlurfen dieser Schubkarren auf dem zentralen Steg, der Abtransport per Hand über zweihundert Meter. Und ich probierte irgendwelche Karren, stritt mich, riss jemandem das Instrument aus der Hand.
Das Badehaus als Strafe, denn das Badehaus ist gestohlen von eben den vier Stunden der offiziellen täglichen Ruhepause. So ein Badehaus ist kein Scherz.
[Ich erinnere mich an] die Grenzenlosigkeit der Erniedrigungen, und jedes Mal erweist sich, man kann noch tiefer erniedrigen, noch heftiger schlagen.
Die Angehörigen wiederholten ständig – nicht willentlich ihr Schicksal erschweren. Aber wie das tun? Dich umbringen ist nutzlos. Das rettet die Angehörigen nicht vor Strafe. Aber sie bitten, keine Päckchen zu schicken und sich an das eigene Glück, das eigene Gelingen zu halten bis zum Schluss? Das war es.
Und wo war das Zelt, die neue Baracke, wo ich meinen Partner Gussew bat, mir den Arm mit dem Brecheisen zu brechen, und wo ich, als der sich weigerte, mehrfach mit dem Brecheisen zuschlug, mir eine Beule holte[60 - j-m eine Beule holen – набить шишку], und das ist alles. Alle sterben, und ich laufe und laufe noch immer herum.
Die Verhaftung im Dezember 1938* hat meine Lage schroff verändert, ich kam ins Gefängnis zur Untersuchung, wurde aus dem Gefängnis entlassen nach der Verhaftung des SPO-Chefs Hauptmann Steblow und kam ins Durchgangslager und schaute mit neuen Augen auf die Lagerwelt.
Woran erinnert sich der Körper?
Die Beine werden schwach, auf die obere Pritsche[61 - die obere Pritsche – верхние нары], wo es wärmer ist, kommst du nicht mehr hinauf, und du besitzt nicht die Kraft oder besitzt den Verstand, dich nicht mit den Ganoven zu streiten, die die besten warmen Plätze besetzen. Das Gehirn wird schwächer. Die Welt des Großen Landes wird so fern, so unnötig mit all ihren Problemen. Die Zähne wackeln, das Zahnfleisch schwillt[62 - das Zahnfleisch schwillt – десны опухают], und der Skorbut[63 - der Scorbut – цинга] siedelt sich für lange in deinem Körper an. Die Spuren der Pyodermie und des Skorbuts auf meinen Waden und Schenkeln sind noch immer da. Im Jahr 1939 in Magadan wichen alle vor mir zurück im Badehaus – Blut und Eiter flossen aus meinen offenen Wunden. Kratzspuren auf Bauch und Brust, Kratzspuren von den Läusen.
Ein Fetzen Zeitung, im freien Friseurladen aufgelesen, ruft keinerlei Emotionen hervor, außer der Berechnung – wie viel Machorka-Zigaretten ergibt dieser Zeitungsfetzen. Keinerlei Wunsch, vom Großen Land zu wissen, obwohl wir von Moskau an, schon ungefähr ein Jahr, keine Zeitungen gelesen haben. Viele Jahre werden auch noch vergehen, ehe du voller Furcht und Vorsicht versuchen wirst, etwas aus der Presse zu lesen. Und wieder nicht verstehst. Und die Zeitung wird dir unnötig vorkommen, so wie 1938. Die Nägel habe ich immer abgekaut, abgebrochen, abgespalten – wir hatten jahrelang keine Schere. Skorbutwunden und Pyodermie-Geschwüre erschienen irgendwie sofort auf dem Körper. Wir mieden die Ärzte – der Feldscher Ljogkoduch, Chef des Ambulatoriums im »Partisan«, war berühmt für seinen Hass auf Trotzkisten. Bald wurde Ljogkoduch verhaftet und kam an der Serpantinka um. Aber auch zu den anderen ging ich nicht hin. Nicht, dass ich nicht krank gewesen wäre, meine Kameraden gingen hin und erhielten die Einbestellung vor irgendwelche Kommissionen. Der Effekt war ein und derselbe – der Tod. Ich lag in der Baracke und war bemüht, mich möglichst wenig zu bewegen, oder schon außerstande, mich zu bewegen, schlief oder lag und war bemüht, diese vier Erholungsstunden liegen zu bleiben.
Ich war ein schlechter Arbeiter und war darum überall an der Kolyma in der Nachtschicht. Schlimmer als der Grubensommer war der Winter. Der Frost. Die Arbeit, wenn auch zehn Stunden – man muss Behälter mit Erde karren, den Torf von der Goldschicht abnehmen —, die Arbeit ist leichter als die sommerliche, aber Bohren, Sprengen und Beladen des Behälters mit der Schaufel[64 - Bohren, Sprengen und Beladen des Behälters mit der Schaufel – бурение, взрыв и погрузка лопатой в короб] und Abfuhr per Hand auf die Halde, mit vier Mann pro Behälter. Sehr quälend ist der Frost. Die Geschwüre schmerzen immerzu. In die guten Brigaden nimmt man mich nicht.
Alle Brigaden haben während einer Goldsaison, in vier Monaten, ihre Belegschaft zweimal und dreimal ausgetauscht. Am Leben ist nur der Brigadier und sein Helfer, der »Barackendienst« – die übrigen Brigademitglieder sind unter der Erde oder im Krankenhaus, oder in der Etappe. Jeder Brigadier ist ein Mörder, eben jener Mörder, der die Arbeiter persönlich und mit eigenen Händen ins Jenseits befördert. Selbst ein Brigadier mit Artikel 58, der Staatsanwalt des Gebiets Tscheljabinsk Parfentjew, witzelte, als er sah, dass ich in seinem Beisein einfach an der Grube entlanggehe, um mich zu wärmen, Schalamow fühlt sich auf dem Boulevard.
»Nein«, antwortete ich, »auf der Galeere.«
All das wurde selbstverständlich irgendwo vorgetragen, irgendwo hintertragen, um auf einmal als »Juristenverschwörung«[65 - »Juristenverschwörung« – «заговор юристов»] hochzugehen. Auch das betrifft das Jahr 1938, noch den Dezember.
Es schüttet. Alle Brigaden sind von der Arbeit entlassen wegen des Regens, alle außer unserer. Ich werfe die Arbeit hin, werfe die Hacke hin, dasselbe tut mein Partner. Ich erinnere mich nicht an seinen Namen. Man führt uns durchs Lager zum diensthabenden Kommandanten. Das sind nur Erinnerungen – wahrscheinlich Frühling 1938 … An der Kolyma unterscheidet sich der Frühling nicht vom Herbst. Irgendwie gab es im Mai 1938 in der Zone noch keinen Isolator, es gab nur den diensthabenden Kommandanten. Man führte uns in die Baracke und stellte uns an der Wand auf.
»Sie wollen nicht.«
Ich erklärte, dass alle Brigaden wegen des Regens entlassen wurden und nur …
»Still, du Aas …«
Der Kommandant trat nah an mich heran und streckte … Er schlug nicht, schoss nicht, knuffte nur – und durch die durchnässte Wattejoppe, Feldbluse und Wäsche brach er mir eine Rippe.
»Weg hier.«
Ich hinkte und kroch los in Richtung Baracke. Ich begriff von Anfang an, dass die Gesetze nur Märchen sind, und schonte mich, wie ich konnte, aber konnte mir nichts bewahren. Außerdem ging ich diesen ganzen Sommer jeden Tag Brennholz sägen oder in die Bäckerei, oder irgendwo in die Baracke der bytowiki. Es ist so, dass im Lager jeder Diener seinen Diener haben will. Und diese Rationen, eine Wassersuppe über die Ration hinaus, waren, obwohl wir keine Kräfte hatten, von Bedeutung für die Erhaltung des Lebens. In der Grube arbeitete ich schlecht und rief keinen dazu auf, gut zu arbeiten, ich habe keinem einzigen Menschen an der Kolyma gesagt: los, los.
… Eben hier, in den Einbrüchen des Gedächtnisses[66 - in den Einbrüchen des Gedächtnisses – в провалах памяти], verliert sich auch der Mensch. Der Mensch verliert sich nicht sofort. Der Mensch verliert die Kraft, und zusammen mit ihr auch die Moral. Denn das Lager ist der Triumph der physischen Kraft als moralischer Kategorie. Hier ist die Intelligenz von einer doppelten, dreifachen, vierfachen Gefahr umgeben. Iwan Iwanowitsch* wird niemals einen Kameraden unterstützen, und der Kamerad wird zum Ganoven, zum Feind, um sein Schicksal zu retten. Das ist ein Bauer, natürlich. Der Bauer wird sterben, wird ebenfalls sterben, aber nach der Intelligenz. Stirb du heute, und ich morgen. Die Ganoven stehen außerhalb des Moralgesetzes. Ihre Stärke ist die Zerstörung, doch auch bis zu ihnen wird Garanin kommen. Der Ganove, der Liebling Bersins, ist für Garanin ein Verweigerer. Doch es geht nicht darum, ich muss irgendeinen Schritt zu fassen bekommen, einen persönlichen eigenen Schritt, mit dem ein wichtiges Zugeständnis gemacht wurde: Beim Durchgehen im Gedächtnis, diesem Filmstreifen des Gehirns, sieht man, dass es auch kein Zugeständnis gab. Dieser Prozess ist zeitlich sehr kurz – du bist noch nicht einmal zum Zuträger geworden, man bittet dich nicht einmal darum, sondern jagt dich einfach zur Arbeit in die Kälte und in den endlosen Arbeitstag, in den Frost der Kolyma, der keine Schonung kennt.
Jemandes Augen überfliegen dich, wählen, bewerten und bestimmen deine Eignung zum Arbeitsvieh und ob deine letzten Schritte ins Paradies kurz oder lang sein werden. Du denkst nicht ans Paradies, denkst nicht an die Hölle – du spürst einfach jeden Tag Hunger, den nagenden Hunger[67 - der nagende Hunger – сосущий голод], [unleserl.]. Und dein Kamerad, der stärker ist als du, der schlägt und rempelt[68 - rempeln – толкать] dich und weigert sich, mit dir zu arbeiten. Ich habe damals gar nicht begriffen, dass ein Bauer, der sich beim Brigadier und den Chefs über Iwan Iwanowitsch beschwert, einfach seine Haut rettet. All das war mir tief gleichgültig, all diese Sorgen um mein Schicksal als noch lebender Mensch.
Ich denke zurück, versuche an alles zurückzudenken, das im ersten Winter geschah – das heißt von November 1937 bis Mai 1938. Denn die übrigen Winter, es waren viele, habe ich irgendwie auf gleiche Weise aufgenommen – mit Gleichgültigkeit und Erbitterung, mit einer Beschränkung der Mittelressourcen zur Rettung: bei einem Schlag – umfallen, bei einem Fußtritt – sich zum Knäuel ballen[69 - sich zum Knäuel ballen – сжаться в комок] und den Bauch stärker schützen als das Gesicht.
Denunzianten sind alle, man denunziert einander gegenseitig von den allerersten Tagen an. Der Bauer aber verpfiff all die, die in den Gruben neben ihm standen und ein paar Tage vor ihm selbst starben.
»Sie sind es, Iwan Iwanowitsch, der uns vernichtet hat, Sie sind der Grund für all unsere Verhaftungen.«
Alles, um den Nachbarn ins Grab zu stoßen – durch ein Wort, mit dem Stock, mit der Schulter, mit einer Denunziation.
In diesem Kampf starben die Intelligenzler stumm, und wer hätte auch auf ihre Schreie gehört unter den erbitterten fuchsteufelswilden Charakteren – keinen Visagen natürlich, sondern ebensolchen dochodjagi. Doch sofern sich an einem Bauern, einem dochodjaga auch nur ein Stückchen Fleisch, ein Nervenfragment gehalten hatte – dann nutzte er es, um zu denunzieren oder seinen Nachbarn Iwan Iwanowitsch zu beleidigen, zu stoßen, zu schlagen, sich abzureagieren. Er selbst wird sterben, aber bevor er tot ist, soll zuerst der Intelligenzler ins Grab gehen.
Einer der Allerersten hat sich im [Gedächtnis] erhalten. Derfel, ein französischer Kommunist, aus Cayenne, ehemaliger TASS*-Mitarbeiter, flink und klein, was sehr günstig war – an der Kolyma ist es günstig, klein zu sein. Derfel hackte, und ich füllte in die Karre.
Derfel:
»In Cayenne, wo ich vor der Kolyma war, gibt es auch solche Steinbrüche, habe ich ebenfalls gehackt, Hacke und Karre, bloß gibt es dort nicht solche Kälte.«
Und es war noch goldener Herbst, darum habe ich mir auch den Tag gemerkt, den grauen Stein und das kleine Figürchen Derfels, der plötzlich mit der Hacke ausholte und umfiel, tot.
In dieser Zeit wurden alle in eine einzige Baracke getrieben, in ein Segeltuchzelt, wo man uns stehen ließ, etwa vierhundert Mann. Sie überprüften irgendetwas und schossen in die Luft. Und ich merkte, dass mein Nachbar, ein holländischer Komintern*-Mann im Samtwestchen, an meiner Schulter schläft, vor Schwäche das Bewusstsein verliert. Ich stieß ihn an, aber Fritz wachte nicht auf, sondern wurde langsam schwach und glitt auf den Boden. Doch da fingen sie an, uns aus dem Zelt hinauszuführen, hinauszustoßen, und er wachte auf und lief zusammen mit mir, und beim Rausgehen fiel er an der Baracke hin, und ich habe ihn nie wieder gesehen.
All das – Derfel, den Holländer Fritz – hat mein Gedächtnis eingefangen, aber an das Namenlose, das starb, haute, schubste und einen großen Teil meines Wesens füllte, jene Tage und Monate – kann ich mich einfach nicht erinnern.
Was war denn dort?
Als Vertreter der »Intelligenz« fühlte ich keinerlei »Schuld« vor dem Volk. Karrieristen und Geschäftemacher aber wittere ich dafür mit aller Kraft des Spürsinns[70 - mit aller Kraft des Spürsinns wittern – чувствовать всей силой чутья] – und täusche mich nicht.
All das – Derfel wie auch das Festhalten bei der Arbeit der Kljujew-Brigade im Dezember 1937 – all das sind sozusagen die oberen Etagen meines Körpers. Schwer rückrufbar ist das, was das Gedächtnis nicht behielt – der Schmerz des Körpers und allein des Körpers.
Wir hatten keine Zeitungen, und die Korrespondenz wurde mir schon von einem Moskauer Papier* entzogen. Ich hatte keinen Wunsch, irgendetwas von Ereignissen außerhalb unserer Baracke zu wissen. All das war so unendlich unwichtig und auf lange, ein Dutzend oder noch mehr Jahre, aus dem Kreis meiner Interessen verdrängt.
Wie ist denn das passiert an meinem persönlichen Beispiel, dem Beispiel meines Körpers?
Schon die zweimonatige Etappe mit der Hungerration war Vorbereitung auf ernstere Dinge – die Schläge, die Kälte, die unendliche Arbeit, die mich im Dezember 1937 im »Partisan« empfing.
Die Beine wurden schwer, die Haut eiterte, es kamen Läuse, und die Hände erfroren und bekamen Blasen[71 - die Hände erfroren und bekamen Blasen – руки обморозились в пузыри]. Doch all das war nicht das Wichtigste. Das Wichtigste war der ständige Hunger. Ich lernte schnell, das Brot getrennt von der Suppe zu essen, es später in einer Konservendose aufzukochen und aufzublähen[72 - aufblähen – вздуваться] und aus dieser Dose zu schlürfen. Keinerlei Interesse an irgendeinem der Gespräche in der Baracke. Ich wollte meine Wäsche eintauschen gegen Brot, aber kam zu spät – es gab eine Durchsuchung, und alles Überzählige ging als Einnahme an den Staat. Aber auch das war mir egal. In Teilen meines Gehirns empfand ich wohl zwei . Die vollkommene Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens. Dass der Tod ein Glück wäre. Doch zum Tod konnte ich mich nicht entschließen aus irgendwelchen sonderbaren Gründen – der Schmerz in den Fingern nach der Erfrierung, ins Ambulatorium ging ich nicht, der Krankenhausfeldscher Ljogkoduch würde mich, wie damals alle Feldscher, als Intelligenzler und Trotzkist gleich zu den »Soldaten« geben. So machten es alle Feldscher und Ärzte in den Bergwerken, so machten es Lunin wie auch Mochnatsch. Acht Jahre nach 1937 taten dasselbe auch Winokurow, auch Doktor Doktor, auch Jampolskij – Kontakt mit dem Krankenhaus war gefährlich. Jedoch nicht qua Logik, sondern mit dem Instinkt eines Tiers begriff ich, dass ich nicht hingehen sollte, wo sich die »Stachanowarbeiter der Krankheit« drängen. Und tatsächlich, sie alle wurden in Garanins Tagen erschossen als Ballast. Und wer machte die Erschießungslisten? Für das »Partisan« waren das der Arbeiter Rjabow, Anissimow – der Bergwerkschef, Kowalenko, Chef des Lagerpunkts, und Romanow, der Bevollmächtigte.
Die Schlafstellen neben mir waren leer. Unsere Brigade wurde mal in eine andere Baracke verlegt und mit einer anderen vereinigt, mal aufgelöst, und ich zog von Baracke zu Baracke. Als Arbeiter war ich mies, mein Erscheinen in der Baracke war für den Brigadier keine Freude. Aber mir und vielleicht auch ihnen war es ganz egal. Mir ist nicht mal im Gedächtnis geblieben, wann sie anfingen mich zu schlagen, wann ich zum dochodjaga wurde, den jeder stoßen und schlagen will: der Bauer, um die Aufmerksamkeit der Chefs auf seine politische Ergebenheit gegenüber der Sowjetmacht zu lenken, der Ganove …
Hier kommt es zu einem Zustand, dass du selbst schwach wirst und außerstande bist, Rückgeld zu geben. Und sofort beginnt man dich auch zu stoßen und zu schlagen. Ich bin diesen Weg etwa 1938 gegangen. Aber auch im Dezember 1937 schon wurde ich gestoßen und geschlagen …
Ich kroch über irgendeinen Schneeweg und sammelte Reste von Kohlblättern, um sie in der Konservendose aufzubrühen, abzukochen. Ich kroch eine ganze Ewigkeit, aber sammelte nichts zusammen – es war schon jemand vor mir gekrochen, und aus dem, was ich sammelte, ließ sich keine Suppe kochen. Ich schluckte die Stücke gefroren herunter.
In diesem Moment verlegte man unsere Brigade, die im zweiten Abschnitt arbeitete, in den ersten, und in diesem ersten Abschnitt in Sujews Brigade. Hier fragte Sujew, ein Bauernbursche so um die 30, nach Schreibkundigen, die ihm eine Beschwerde schreiben konnten, und so, dass alle Staatsanwaltsherzen weich werden. Sujew suchte nach einem solchen Autor in der Brigade. Sujew hatte gerade eine Haftstrafe für Bestechlichkeit bekommen – doch er versicherte seine Unschuld. Wichtig war, die Beschwerde gut abzufassen. Als er sah, dass ich neu bin in der Brigade, nahm mich Sujew beiseite und sagte: »Du wirst im Warmen sitzen und mir die Beschwerde schreiben.«
»Gut«, sagte ich. »Gib mir Papier, gleich morgen fangen wir an.«
Nicht mal ein Stück Brot gab mir Sujew für die Beschwerde, doch, so schwer es dem Hirn auch fiel sich zu rühren, ich fasste diese Beschwerde ab.
Am folgenden Tag las sie Sujew den Arbeitsanweisern vor, sie fanden, dass die Beschwerde schlecht geschrieben ist und den Staatsanwälten nicht ins Herz stechen wird. Sujew tat es leid um seine Brotration, noch dazu hatte jemand gesagt, dass er sich um die literarische Hilfe an einen Volksfeind, einen Trotzkisten gewandt hatte.
Am folgenden Tag gab es statt der fortgesetzten Arbeit an der Beschwerde ein Verprügeln des Advokaten. Sujew warf mich mit einem Schlag um und trampelte, trampelte auf mir herum im Schnee. An diese Backpfeife erinnere ich mich gut. Ich bin schon allzu leicht gefallen – war alles, was ich dachte. Und obwohl mir die Zähne blutig geschlagen waren, tat es aus irgendeinem Grund nicht weh.
Die Kampagne zur physischen Vernichtung der Volksfeinde hatte begonnen an der Kolyma, und Sujew teilte dem Bevollmächtigten eilig mit, dass er, der Arbeitsanweiser, ein solch schreckliches Verbrechen vor dem Staat begangen und einen Trotzkisten gebeten hat, ihm eine Beschwerde zu schreiben. Ebendarum ging es im Dezember 1938, als man mich im Bergwerk verhaftete und nach Jagodnoje brachte, zum Chef des örtlichen NKWD, Genosse Smertin*.
»Jurist?«
»Jurist, Bürger Natschalnik.«
»Du hast Beschwerden geschrieben?«
»Ja.«
»Gegen Brot?«
»Gegen Brot und auch so.«
»Ins Gefängnis mit ihm.«
Aber all das war ein Jahr später, und erst heute denke ich, dass sich Sujew beeilt hat, seinen Fehler zu gestehen, als er im Dezember 1937 die Denunziation gegen mich, das Geständnis schrieb.
Ich erinnere mich, all diese Zeit bemühte ich mich, noch irgendwo sonst zu arbeiten: Putzen und Holzsägen gegen eine dünne Brühe oder Brotrinde. Auf so eine Arbeit nach 14 Stunden Grube war mein ganzer Körper, meine ganze Person ausgerichtet, unter Mobilisierung sämtlicher physischen und geistigen Kräfte. Manchmal gelang es – mal in der Bäckerei, mal beim Putzen, obwohl es maßlos schwer war. Anschließend, wenn ich mich zur Schlafstelle schleppte[73 - sich zur Schlafstelle schleppen – добраться до койки], fiel ich auf ein, zwei Stunden in einen Todesschlaf, bis zum nächsten Arbeitstag. Doch auch Sujew – all das ist schon auf den »oberen« Etagen des menschlichen Willens.
Ich arbeitete schlecht vom ersten Tag an. Und damals wie heute halte ich die physische Arbeit für einen Fluch des Menschen, und die erzwungene physische Arbeit auch für die größte Beleidigung des Menschen.
Natürlich waren für einen Trotzkisten alle Anrechnungen von Arbeitstagen und weitere Lager gestrichen.
Die totale Schlacht zu erfahren – wer bleibt auf den Beinen und wer stirbt – war jedem gegeben, eben gegeben.
Die Gewalt über einen fremden Willen hielt und halte ich noch heute für das schwerste menschliche Verbrechen. Darum war ich auch niemals Brigadier, denn der Lagerbrigadier ist ein Mörder, ist der Mensch, die physische Person, mithilfe deren der Staat seine Feinde umbringt.
Und die über das Jahr 1938 angehäufte Erfahrung war eine organische Erfahrung, wie ein unbedingter Reflex. Auf die Anweisung »Los!« antwortet der Häftling mit sämtlichen Muskeln – nein. Das ist ein physischer wie auch geistiger Widerstand. Auf dem Pfad in die Goldgrube begegnen sich Staat und Mensch von Angesicht zu Angesicht in der intensivsten, offensten Form, ohne Künstler, Literaten, Philosophen und Ökonomen, ohne Historiker.
Manchmal regt sich ein Gefühl: wie schnell bin ich schwach geworden. Doch genauso schwach geworden waren meine Kameraden rundum, und ich konnte mich mit niemandem vergleichen. Ich erinnere mich, man bringt mich irgendwohin, führt mich raus, stößt mich mit dem Kolben[74 - der Kolben – приклад] und dem Stiefel, ich krieche irgendwohin, schleppe mich rempelnd dahin unter einer ebensolchen Menge von abgefrorenen, hungrigen Zerlumpten. Das sind Winter und Frühling 1938. Vom Frühjahr 1938 an gab es an der ganzen Kolyma, besonders im Norden, im »Partisan«, Erschießungen.
Eine panische Furcht, uns irgendeine Hilfe zu gewähren, eine Brotrinde hinzuwerfen.
Selbst heute noch schreibt man Bände von Erinnerungen – ich habe jene erschossen und vernichtet, die vom Hauch des tödlichen Windes berührt wurden, der auf Stalins Befehl Trotzkisten vernichtete, die keine Trotzkisten waren, sondern bloß Antistalinisten, und noch nicht einmal Antistalinisten – Tuchatschewskij, Krylenko*. Die Trotzkisten selbst trugen ja keinerlei Schuld.
Wäre ich Trotzkist gewesen, ich wäre längst erschossen, vernichtet worden, doch schon die zeitweilige Berührung hat mir ein ewiges Brandmal[75 - ein ewiges Brandmal – вечное клеймо] beschert. So sehr fürchtete sich Stalin. Wovor fürchtete er sich? Vor dem Verlust der Macht – nichts sonst.

Das Waskow-Haus*
Ein Soldat, heißt es, braucht einen Löffel. Der Häftling im Lager braucht auch den Löffel nicht. Suppe wie Nudeln kann man »über Bord« trinken und den Boden mit einer Brotkruste auswischen.

Vor dem Lager habe ich Schuhgröße 44 und Mützengröße 59 getragen. Nach dem Lager Mützengröße 58, und Schuhgröße 45.

Warum lässt man sich die Haare nicht scheren und trägt eine »freie« Frisur? Aus Protest, einer Regung, die manchmal psychotischen Charakter annimmt: der alte Sawodnik – ein ehemaliger Kommissar im Bürgerkrieg – stürzte sich mit dem Feuerhaken auf die Wächter, die dem Lagerfriseur halfen. Und verteidigte seinen Bart.

Die ersten Schläge von Brigadieren und Begleitposten 1938, im Januar, Februar. Das Gespräch mit Wawilow in der Nacht.
»Was wirst du tun, wenn sie zuschlagen?«
»Ich weiß nicht. Ertragen wahrscheinlich.« Das ist Wawilow.
Und als sie anfingen zu schlagen – Sujew, der Brigadier, schlug als Erster —, war klar, dass die Kräfte fehlten. Sie schlagen die Schwachen, die Geschwächten. Mich schlugen sie unendlich viele Mal.
Poljanskij Ende 1938:
»Als ich sah, wie du läufst, mit den Sohlen über die Erde schlurfst, dachte ich: er tut als ob. Und jetzt habe ich selbst begriffen, dass die Kräfte fehlen, den Fuß zu heben, den Schritt über eine Schwelle, ein Hügelchen zu tun.«

Die erste Begegnung mit den Ganoven. Sie rissen mir einen Tabaksbeutel mit Machorka aus der Hand. Ich rannte dem Dieb nach, lief ihm hinterher in irgendeine Baracke, und der Barackendienst brachte mich mit einem Schlag mit dem Holzscheit zu Boden. Ich stand auf und ging. Danach habe ich mir bis zum Krankenhaus, bis ich Feldscher wurde, ganze acht Jahre lang keinen Tabaksbeutel mehr angeschafft. Die Machorka schüttete ich gleich in die Tasche. Das hatte einen besonderen Häftlings-Charme:
»Kratzen wir zusammen?«
»Lass uns zusammenkratzen.«

Zusammenkratzen konnte man beinahe endlos, denn wenigstens drei Tabakkrümel[76 - der Tabakkrümel – крошка табака] fanden sich unbedingt. Zwar ist das Rauchen dieser drei Krümel etwas Relatives, aber trotzdem.
»Gib mir, Wronskij, ein bisschen Tabak.«
Wronskij, der Bergbauingenieur:
»Ich habe keinen.«
»Na, drei Krümel.«
»Drei Krümel meinetwegen.«
Einander um Brot zu bitten ist unanständig, unzulässig. Aber um einen Hering zu bitten ist üblich. »Erlauben Sie nachzusalzen?« Übrigens war auch mit solchen Bitten anzukommen nicht überall üblich.
Den Hering aß man immer mitsamt der Haut, dem Kopf, den Gräten …
Der vollkommenste Schurke, den ich im Leben gesehen habe, ist Doktor Doktor, der ehemalige Chef des Zentralkrankenhauses der USWITL am Linken Ufer (und vorher an Kilometer 23); das war ein rachsüchtiger Nichtsnutz, grausam und gewissenlos, der den Leuten das Allerschlechteste wünschte. Selbst bestechlich, ein Profiteur und Speichellecker[77 - der Speichellecker – подхалим], hielt er endlose Vorträge über die Wachsamkeit. Verjagt und rausgeworfen wurde er von Schtscherbakow, einem etwas kleineren Schurken.
Doktor Utrobin, der oft betrunken operierte, erwarb sich aufgrund der Ergebnisse seiner Operationen bei den Kranken und Ärzten den Spitznamen »Ugrobin«*.

Doktor Lunin, Sergej Michajlowitsch, ein Urenkel des Dekabristen, mit der unbezähmbaren Leidenschaft, den Chefs näherzukommen. Man ließ ihn in Arkagala frei dank seiner Verbindung zu einer Krankenschwester, einem Parteimitglied »mit Verbindungen«. Sie hatte Lunins Freilassung erkämpft und erkämpfte für ihn noch in der Stalinzeit die Erlaubnis, in Moskau das Medizinische Institut abzuschließen und das Arztdiplom zu erwerben. Sie heiratete Lunin, opferte (zu jenen Zeiten das gewöhnliche Risiko bei einer Verbindung mit einem »Nichtarier«) den Parteiausweis, und als Lunin das Diplom hatte, verließ er sie, dieser Urenkel des Dekabristen. Ich kannte sowohl ihn als auch sie. Als ich fragte:
»Warum haben Sie sich getrennt?«, lachte S. M. laut und sagte:
»Zu viele Verwandte, und alle, weißt du, von einer bestimmten Nation.«
Ich redete nicht mehr mit ihm. In der chirurgischen Abteilung begann der Suff, kurz, er war der Urenkel des Dekabristen…
Ein Leutnant der Panzertruppen, beschuldigt nicht der Menschenfresserei, sondern der Leichenfresserei. Rotwangig, mit blauen Augen.
»Ja, Bruder, ich habe im Leichenhaus immer ein Stückchen abgeschnitten. Gekocht und gegessen. Wie Kalbfleisch. Ich habe Hunger.«

Der Menschenfresser Solowjow, der klassischen katorga-Menschenfresserei beschuldigt. Auf die Flucht hatten sie einen Dritten mitgenommen, einen frajer*.
»Am zehnten Tag dann haben wir ihn nachts mit der Axt. Ganz haben wir ihn nicht gegessen. Haben ihn in einem kalten Bach unter einem Stein gelassen.«
Beide Freunde wurden von der Operativgruppe eingefangen und waren geständig.

Menschenfresser, zwei Menschenfresser wohnten an der Transport-Außenstelle bei Baragon (wohin Korolenko* verbannt war). Sie waren längst entlassen und sparten »fürs Festland«. Sie töteten einzelne Durchreisende, die über Nacht blieben, wie bei Ostrowskij, »Am verkehrsreichsten Platz«* – sie raubten sie aus, und das Fleisch aßen sie auf. Nach der Verhaftung zeigten sie die Schädel der Getöteten und die Knochen. Diese Menschenfresser kenne ich nur aus Erzählungen.

Ein russischer Rockefeller der ersten Generation, ein Sammler von Besitztümern – Aleksej Schatalin, aus Tula. Verurteilt zur Erschießung, Ersetzung durch zehn Jahre. Zulieferung von Pferden an die Armee, aller möglicher Untergrundhandel »von der Nähnadel bis zur Fabrik«, wie sich Schatalin ausdrückt.
»Als Kind, wenn ich in den Laden ging, dachte ich – wenn ich groß bin, will ich auch so einen haben, und dann erweitere ich ihn. Als Jugendlicher habe ich überlegt: was verschafft dem Menschen eine feste gesellschaftliche Position. Und die Antwort: Kapital und Bildung.
Bildung – das bedeutet 10–15 Jahre angestrengter Arbeit. Ich wählte das Kapital. Und begann als Händler. Dann sofort – die Revolution, und kein Ende absehbar. Mein Vater, er war Kutscher in Tula, stellte dem Grafen Bobrinskij die Pferde für die letzte Abreise. Du kanntest den Grafen Bobrinskij? Der eine Bäuerin geheiratet hat, deren Vater gräflicher Leibeigener war? Vier Sprachen konnte sie, hatte das ganze Leben im Ausland verbracht. Jetzt ist sie wahrscheinlich gestorben. Bobrinskij selbst wurde wegen dieser Ehe nirgends empfangen in adligen Häusern.
Die Bildung hat mich trotzdem reingelegt. Ich habe Steine verkauft gegen Valuta und beim Dollarkurs danebengehauen. Gründliche ökonomische Kenntnisse besitze ich nicht.
Den Umsatz hat bei mir der Untersuchungsführer reingeschrieben: zwei Millionen im Jahr. Das war 1932. Bei der Durchsuchung haben sie mir, weißt du, zweihundertfünfzigtausend in bar abgenommen. Mir tut es darum nicht leid. Gibt es ein Leben, dann gibt es auch Geld.«
Bystrow (Vorarbeiter):
»Du, Schatalin, arbeitest schlecht. Sieh zu, ich gebe dir die Strafmahlzeit.«
Bystrow schimmert rosig vor Zufriedenheit. Zu mir hatte er bei unserer ersten Begegnung gesagt:
»Soll ich Ihnen schmutzige Arbeit geben oder saubere?«
»Ganz egal.«
»Es gibt sowieso nur schmutzige.«
Jetzt bin ich nicht beim Bau, sondern beim Bergbau, und mein Herr ist Kassajew, Gitarrenspieler. Schnell gab er seine Spitzen an Schatalin weiter.
»Du, Bystrow«, sagt Schatalin gemächlich, »gib mir doch wenigstens eine halbe Schüssel, aber dass die Schüssel groß ist wie ein Pferdeeimer.«
Kassajew läuft täglich die Schurfgräben[78 - der Schurfgraben – разведочная траншея] ab. In Friseur Genkas Grube ist der Schurfgraben nicht tief, einen halben Meter vielleicht. Kassajew springt hinunter in den Schurfgraben, die Gummistiefel klatschen. Genka, auf dem Rand der Grube sitzend, steht auf. Kassajew hebt Genkas Hacke hoch und schaut sie an.
»Eins kann man sagen – schonender Umgang mit dem Gerät.«
Genka schweigt und lächelt respektvoll. Plötzlich fängt Kassajew an, die Sohle zu hacken und den Schurfgraben zu verbreitern. Zehn Minuten Arbeit, und der Schurfgraben ist zugeschüttet mit Gestein. Kassajew stellt die Hacke in eine Ecke des Schurfgrabens.
»So muss man arbeiten. Ich könnte ein guter Hauer sein, nur«, sagt der Ingenieur, »wozu zum Teufel brauche ich das.«
»Ich denke auch, Valentin Iwanowitsch«, sagt Genka respektvoll, »wozu zum Teufel brauche ich das.«
Der Weg zur Arbeit – um die sieben Kilometer. Auf der Hälfte des Wegs ein Hügel, bläulich von Rentiermoos, und eine riesige umgestürzte morsche Lärche. Hier ruht man sich immer aus. Wir sind drei, Kassajew, Schatalin und ich.
Kassajew:
»Und wofür sitzt du, Schatalin?«
Mich fragt niemals jemand von den Chefs. Schatalin hebt den Kopf, und eine Art Grinsen geht über sein Gesicht.
»Ich, Valentin Iwanowitsch, habe ein Trennfutter verkauft.«
»Was?«
»Ein Trennfutter.«
»Was ist das denn, ein Oberteil?«
»Das Fell aus einem Wintermantel.«
»H-hm. Und für wie viel hast du es verkauft?«
»Für hundert Rubel.«
Man sieht, dass Kassajew sich anstrengt, etwas zu begreifen.
»Und … gekauft hast du es für wie viel?«
»Für vierzig«, sagt Schatalin bescheiden.
»Für vierzig? Aber das ist ja Spekulation«, schreit Kassajew.
»Das haben sie vor Gericht auch gesagt, Valentin Iwanowitsch: Spekulation.«
»M-hm … Und wie viel haben sie dir gegeben?«
»Erschießung mit Ersetzung durch zehn Jahre.«
»Erschießung? Für Trennfutter?«
»Ja, Valentin Iwanowitsch.«
»Na, wir müssen los«, ärgerlich steht der Geologe auf.
Kassajew:
»Und dann habe ich noch in Sibirien in der Forstwirtschaft gearbeitet.Eine große Forstwirtschaft, staatliche Pferde. Den Pferden waren allen die Mäuler zugebunden. Dort sind die Pferde krank. Das Futter ist gut, und das für die Menschen auch – der Löffel bleibt stecken, so einen Borschtsch kochen sie. Und sie zahlen gut. Mit einem Wort – eine ›Potz Wirtschaft‹.«
»Rotz-Wirtschaft? Die Pferde haben den Rotz.«
»Nicht Rotz, sondern Potz, ich rede Russisch mit dir.«

Bei Tomtor Ojmjakonskij, wo man im Herbst 1958 einen gigantischen Seenfisch fand, wo die jakutischen Kühe wie Ziegen über die Felsen springen und man die Pferde, kaum größer als Rentiere, im Winter nicht füttert – die Herde wandert im Schneesturm durch die Wälder und »scharrt« den Schnee, wie die Rentiere. Für unseren Traktor haben wir Winterwege angelegt mit einem Dreimeter-Schneerand. Ich bin über zehn Kilometer zu Fuß gelaufen, zweimal vielleicht hat mich eine Herde überholt. Und beim dritten Mal blieb von der Herde etwas liegen. Ich ging näher ran – ein totes neugeborenes Fohlen[79 - das Fohlen – жеребенок], noch warm, das schon Reif ansetzte[80 - … das schon Reif ansetzte – начинающий индеветь].

Der freie Zimmerhäuer Gnesdilow wurde im Frühjahr aus dem Bergwerk entlassen, begann mit der Produktion von Preiselbeereis und machte über den Sommer Zehntausende Rubel. In der Siedlung Arkagala-Kohle leben dreihundert Mann, und im Lager tausend.

In der chirurgischen Abteilung ein frischer Fall: Autounfall. Brüche beider Ober- und Unterschenkel, Rippenbruch[81 - Brüche beider Ober- und Unterschenkel, Rippenbruch – переломы обоих бедер, голеней, ребра]. Kopfverletzung. Der Barackendienst aus der Nachbarsiedlung fuhr in der Nacht nach Debin, war auf die »Trasse« getreten und hatte, als er ein Auto kommen sah, die Hand gehoben. Weiter erinnert er sich an nichts. Das Auto wurde ermittelt. Zum Unglück des Barackendienstes saß in der Kabine der Kassierer, er fuhr Geld auf die Bank. Das Gericht sprach den Fahrer frei, der nachts mit voller Geschwindigkeit einen Menschen überfahren hat.

Kadyktschan. Ich habe auf dem Pfad Rübenschalen gesehen, noch nicht gefroren, nur mit einer Eishaut bedeckt. Nur ein Freier kann einen solchen Schatz wegwerfen. Ich sammelte alle auf und aß sie.

Im »Vitaminkombinat« kocht man einen Krummholz-Extrakt aus den Nadeln der Zirbel. Vorbereitet werden die Nadeln an sogenannten »Vitaminaußenstellen«, wo es eine Hungerration gibt, wo »dochodjagi« die Nadeln »zupfen« und in Säcke stopfen und die Geschickteren Steine in den Sack stecken für das Gewicht. Hunderte hungriger Sammler, die den Plan erfüllen oder nicht erfüllen. Das Scheußlichste ist, man wird überall mit Gewalt genötigt, das Krummholz, eine äußerst bittere widerwärtige Flüssigkeit, zu trinken, und Vitamin C ist in dem Extrakt überhaupt nicht enthalten. Jahrzehntelang quälte man die Leute, in den Kantinen war es verboten, das Mittagessen auszugeben, bevor die »gesundheitsfördernde« Dosis getrunken war – um später zu sagen, das war keine Arznei. Die Therapie selbst wurde in eine Folter verwandelt. Die klügeren, gewissenhafteren Ärzte verstanden das.

Als Kind spielte er Pistonkornett, und das führte zu seiner Karriere als Militär.

Es schüttete im Sommer 1938. Platzregen den dritten Tag. Alle Brigaden saßen zu Hause, und nur die »Trotzkisten« wurden im Regen herausgeführt. Der Begleitposten kroch unter den Pilz, und wir bohrten. Mein Nachbar im Schurfgraben (Poljanskij) schrie los:
»Hör mal! Hör mal! Ich habe begriffen, dass das Leben keinen Sinn hat. Keinen Sinn.«
Ich schwieg.
Am nächsten Tag legte sich Poljanskij unter einen Förderwagen, der von der Halde den steilen Hang hinabfuhr, der Förderwagen sprang über Poljanskijs Beine und schrammte sie ein wenig. Er stand auf und drohte dem Förderwagen mit der Faust.

Orlow, einer der Referenten Kirows*, mein Partner bei »leichter Arbeit« – Holzsägen für den Boiler.
»Kannst du die Säge schärfen[82 - die Säge schärfen – точить пилу]?« Das frage ich Orlow.
»Ich denke, jeder Mensch mit Hochschulbildung kann eine Quersäge schärfen.«
Kliwanskij zu mir:
»Unsere Brigade hat die Norm zu 40 % erfüllt – Strafration! Außerdem gibt es die Produktions-, die Stoßarbeiter- und die Stachanowration. Und zwei aus unserer Brigade haben die höchste Bewertung erhalten. Das sind die Stachanowarbeiter der Krankheit«, schrie Kliwanskij, »sie haben einen Rabatt.«

Den ganzen Krieg (vier Jahre) gab es amerikanisches Brot aus weißem kanadischen Weizen mit Maismehl. Die Häftlinge liebten dieses üppige Brot, die gewaltigen »Rationen«, aber Skeptiker sagten:
»Was ist das für ein Brot – keinerlei Scheiße, schon den zehnten Tag kann ich nicht austreten.«
Die Verteiler hassten dieses Brot. Das Brot bekamen sie nach Gewicht am Vorabend aus der Bäckerei, und über Nacht trocknete es ein. Wenn sie es nachts zu Rationen schnitten, zu 300, zu 400 Gramm, waren am Morgen, im Moment der Verteilung, 20–30 Gramm in jeder solchen »Ration« verloren. Eine große Tragödie mit Tränen, und manchmal auch mit Blut. Mit Fluchen und Eingaben und Schlägen auf jeden Fall. Nach den vier Jahren seufzten die Verteiler erleichtert.

Der Bauch des Dampfers[83 - der Bauch des Dampfers – трюм парохода] »Kulu« in Wladiwostok. Serjosha Kliwanskij, Wawilow und ich – möglichst nah ans Licht, möglichst nah an die Treppe. Mit uns lässt sich auch ein älterer, gefängnishaft bleicher Mann nieder, mit grünlichgelbem Gesicht. In der Hand hält er ein Buch, das einzige im Schiffsbauch. Und dazu noch etwas wie die »rothäutige Passportina«*, der Majakowskij-Band im roten Kartoneinband.
»Wir sind die-und-die.«
»Und ich Chrenow. Erinnern Sie sich bei Majakowskij«, er blättert in dem rothäutigen Band, »Chrenows Erzählung von Kusnezkstroj«.
»Steht hier die Gartenstadt?« Wawilow lacht laut.
»Genau, genau.«
»Die rothäutige Passportina wird Sie hier nicht retten«, erklärt Kliwanskij.
Chrenow fürchtet sich, er ist schwerer Herzpatient. Doch das Paradox – die Krankheit hat Chrenow gerettet. Er schaffte es, seine Haftzeit zu beenden und als freier Bergwerkschef zu arbeiten, doch aufs »Festland« zurückzukehren schaffte er nicht. Er war »lebenslänglich«* ortsgebunden und starb, glaube ich, bald nach dem Krieg.

Die Brotausgabe im Durchgangslager in Sussuman. Eine Riesenschlange. Die Bude des Brotschneiders steht im Freien. Um sie herum vier Soldaten mit gefälltem Gewehr. Jeder Häftling kommt heran, erhält aus dem Fenster einen »Sechshunderter« und verschlingt ihn gleich, würgend, eilig – wenn er es nicht schafft, ihn aufzuessen, dann rauben, dann entreißen ihn ihm die Ganoven, die unweit sich drängen. Die vier Begleitposten bewachen ebendiesen Stehimbiss. Man hat versucht, das Brot in der Baracke auszuteilen – die Ganoven rauben es. Ohne Begleitposten zu verteilen – sie rauben es. Jetzt schafft es jeder, seine Tagesration hinunterzuschlingen.

Erziehungsarbeit unter den Ganoven. Ein Bergwerk, »Partisan«, 1938, im Winter – Januar – Februar, der Erzieher der Kultur- und Erziehungsabteilung Scharow:
»Der Staat sieht in euch seine Freunde, seine Helfer. Helft uns in unserem Kampf gegen die Faschisten, die Trotzkisten. Diese Volksfeinde wollen nicht arbeiten. Es sind die Leute, die euch in Freiheit verhöhnt haben.«
»Darf ich austreten?«
»Geh!«
Nach einer halben Stunde:
»Darf ich austreten?«
»Geh.«
Der Begleitposten erhebt sich von seinem Platz und kommt hinter die Halde:
»Zeig deine Scheiße vor, Dreckskerl! Ihr drückt euch hier.«

Ich liege im Krankenhaus, 1958, mit einem Neuropathologen. Ich erzähle:
»Vor meinen Augen empfing während des Kriegs ein Begleitposten eine Etappe von fünfundzwanzig Mann, setzte sie in ein Auto, stieg auf die Seitenwand und erschoss mit Salven aus der Maschinenpistole alle bis auf den letzten Mann.«
»Ein typischer epileptischer Anfall.«

Schilow 1942 (?) in Arkagala. Schilow ist ein junger Kerl von 25 Jahren, ehemaliger Häftling.
»Junggesellensteuer[84 - der Junggesellenssteuer – налог на холостых]? Verstehe ich nicht, das ist ungerecht. Denk doch selbst: hier gibt es überhaupt keine Weiber. Ich quäle mich und leide und soll auch noch Steuer zahlen für meine Quälerei. Auf dem ›Festland‹ ist es was anderes. Da lebt einer mit Frau, legt sich Kinder, eine Familie zu – und zahlt keine Junggesellensteuer. Ich kann mir keine Frau zulegen – und zahle Steuer. Das ist ungerecht.«

Das schrecklichste Jahr an der Kolyma ist 1938. 1939 sagte mir Iwan Bossych (ein Freier, ehemaliger Häftling), der Topograph, in der Kohleerkundung am Schwarzen See:
»Wir beide haben überlebt, weil wir Reporter, Journalisten sind. Verstehst du? Ich werde leben, obwohl ich Dinge gesehen habe, dass man danach nicht mehr leben sollte, aber ich werde leben, ich werde meinen jüngeren Bruder treffen – er glaubt an mich wie an Gott, und ich sage ihm die ganze Wahrheit über Stalin.«
Die Adresse von Iwan Nikolajewitsch Bossych – Ischim, Woroschilow-Str. 16.
Die einzige Möglichkeit zu überleben für einen »Trotzkisten« ist, Brigadier zu werden. Aber wie kann man kommandieren, jemandes Befehle ausführen, über jemandes Willen verfügen und nicht nur den Willen, auch über Leben und Tod von Menschen – es bedeutet, jemand wird sterben, und du bleibst am Leben. Nein, schon 1937 habe ich mir das Wort gegeben, niemals Brigadier zu werden, mich niemals mit Bitten oder Klagen über mein Schicksal an die Chefs zu wenden, nicht zu bitten und Pakete vom Festland abzulehnen – nur auf mich selbst zu zählen, auf mein »Glück«. Der einzige für mich mögliche Posten war die Tätigkeit als Feldscher, doch das erschien neun Jahre lang als Phantasie, und im zehnten wurde es plötzlich Wirklichkeit.
Die drei großen Lagergebote:
Glaube nicht – glaube niemand.
Fürchte nicht – fürchte nichts und niemand.
Bitte nicht – bitte niemanden um irgendetwas. Zähle auf nichts.
Die schreckliche Redensart im Lager »Stirb du heute, und ich morgen«.

1938 und 1937 arbeiteten wir in Bergwerken mit Abtransport bis zu 200 Metern[85 - arbeiteten wir in Bergwerken mit Abtransport bis zu 200 Metern – мы работали в забоях с откаткой до 200 метров], und uns fehlten die Kräfte, die Schubkarre auf die Förderbrücke hochzubringen. Hilfshaken habe ich erst Ende 1938 gesehen. Über den zentralen Steg rollt man im Laufschritt.
Ich habe gelernt, die Karre zu kippen, auszuschütten und zurückzufahren über den »Leer-«Steg – die Schubkarre mit dem Rad voraus, mit den Griffen nach oben, dass die Arme ausruhen. Ich habe gelernt, mit der Schaufel zu arbeiten, habe irgendwann begriffen, warum der Stiel bis unters Kinn gehen muss, habe gelernt zu hacken, einen Fels abzutragen, zu bohren, aber ein Hauer ist aus mir nicht geworden – ich hungerte damals schon.
Den Winter mochte ich nicht. Ich hasste ihn. Jeden Tag stand ich auf wie zur Hinrichtung. In der Kälte kann man ja auch nicht denken. Du denkst an gar nichts – nur daran, dich zu wärmen. Ich habe gut verstanden, was ein Pferd fühlt. Ich fing an, wie ein Pferd, die Zeit für das Mittagessen ohne Uhr zu erraten – die Pferde in der Grube wiehern nämlich schon fünf Minuten vor dem Signal.

Die ersten Läuse erschienen schon Ende 1937. Die völlig verlauste Wollweste zog man mir von Mai an im Badehaus aus, der Badewärter bedampfte sie und wollte sie für sich nehmen, und ich fing an zu streiten, sie ihm »abzuschreien«, und wieder sammelten sich die Läuse. Es gab keine Desinfektionskammer, und bis in den Januar 1939 hatten wir ununterbrochen Läuse. Als man für einige Tage – ich hatte eine schöne Handschrift, und im März 1938 holte man mich ins MChTsch* (im Bergwerk »Partisan« waren um die dreitausend Häftlinge), die Lebensmittelkarten zu schreiben, da schlugen die Kameraden auf mir Läuse tot und beschwerten sich beim Chef, und der, der auf mein Verbrechen hingewiesen hat, übernahm meinen Platz im MChTsch. Der Platz war ja temporär.
Läuse sind etwas Schreckliches. Besonders viele hatte ich in Dshelgala 1943. Der gestrickte Baumwollschal bewegte sich, so viele waren sie da.

Kolesnikow Gawriil Semjonowitsch, ein Kamerad von Kossarjow, einer der wenigen, die sich das »Menschentum« bewahrt hatten, war in Dshelgala Sanitäter und Barackendienst. Er sagte zu mir:
»Was ist das Wichtigste in unserem Leben? Die Verschiebung der Maßstäbe. ›Etappen‹ und ›Durchgangslager‹ haben mir immer gefallen, weil hier auf ungreifbare Weise der Geist der Freiheit lebte, den es im Lager niemals gibt.«

Jeder ist für sich verantwortlich. Den Kameraden, den Partner nicht belehren, was er tun soll. Alles, was einen fremden Willen betrifft, ist nicht deine Sache – so die schlichten, aber schweren Lagergebote, die Erfahrung, Selbstbeherrschung und Furchtlosigkeit verlangen. Die Lagerchefs nahmen keinerlei kollektive Beschwerden und Proteste an. Jede Eingabe muss persönlich sein. Als aber die Frage der Bekämpfung von Fluchten anstand, da bestätigte die gesamte Brigade kollektiv, dass jeder den anderen beobachten und für Fluchten büßen wird. Und büßen mussten sie in Verhören, oder auch mit einem »Strafmaß«.
Ein beeindruckender Lagerausdruck, einer der geschliffensten: »Das Strafmaß in Gewicht ausgeben«, d. i. in den sieben Gramm der Kugel, erschießen.
Oder: »Das Strafmaß als Trockenration ausgeben«.

In der »Vitaminaußenstelle«. Schewzow, mein Partner:
»Gib mal das Beil.«
Er nahm mir das Beil aus den Händen und ging zu dem Baumstumpf, auf dem wir Brennholz gesägt hatten. Er legte die Hand auf den Stumpf, holte mit dem Beil aus, wurde blass, wurde blau, das Blut spritzte auf den Schnee und erstarrte sofort, ohne einzuziehen[86 - erstarrte sofort, ohne einzuziehen – сейчас же застыла, не всасываясь] – es war sehr kalt —, die drei abgehackten Finger verzogen sich und lagen im Schnee, kaum bemerklich, schmutzigen Holzspänen ähnlich. Schewzow krümmte sich zusammen und verstopfte mit dem Ärmel der Wattejacke das Blut.
Ich hob das weggeworfene Beil auf.
Schewzow wurde zum Krankenhaus geführt. Er wusste natürlich, dass man ihn im Krankenhaus nicht behalten wird, Gliederabhacker im Krankenhaus zu behalten war verboten – aber wenigstens einen Verband werden sie machen, das Blut zum Stillstand bringen.
Die Arbeit wurde wieder aufgenommen.
»Gute« Kaderakten-Daten sind: Russe, nie im Ausland gewesen, keine Fremdsprachen. Viele hielten ihre Sprachkenntnisse geheim.
Im Lager sagt man nicht: »zur Arbeit geführt« oder »zur Arbeit gegangen«, man sagt: »zur Arbeit getrieben, gejagt, gescheucht«[87 - zur Arbeit getrieben, gejagt, gescheucht – выгнали, выгоняли, гоняли на работу]. So und nur so sagen alle – die Chefs wie die Hftl./
Hftl.* selbst.

Der Schwarze See
Jeder Barackendienst hat seine Arbeiter, die alles tun für ein Süppchen, für ein Stück Brot – so auch im Bergwerk.
Aber es ging nicht seine Sympathie oder sein Mitleid mit den dochodjagi. Er hätte dieses winzige Zimmer auch selbst putzen können, aber dass ein Barackendienst des MChTsch – und er hätte keinen eigenen Sklaven gehabt —, das ist unvorstellbar in den russischen Lagern.
Ich denke, der freie Chef meines Barackendienstes hätte ihn, wenn er erfahren hätte, dass der das winzige Kabinett selbst putzt, hinausgejagt zu den allgemeinen Arbeiten, weil er die ihm zustehende Macht nicht zu nutzen weiß und ihn, den Chef, mit Schande befleckt. Ganz Magadan hätte laut gelacht: das ist der Chef, dessen Barackendienst selbst die Böden wischt. Ich bekam Brot, der Barackendienst schüttete mir Machorka für eine Selbstgedrehte ab und [gab] mir einen Kupon für die Kantine, und [ich] habe entweder gegessen oder ihn meinen Nachbarn gegeben. Das Durchgangslager fing sogar an mir zu gefallen. Aber die Chefs waren nicht so einfach. Der riesige Speicher mit den vierstöckigen Pritschen[88 - die Pritsche – нары] im Durchgangslager war leer. Bei einem Appell waren wir noch hundert Mann, und manchmal noch weniger. Nach dem nächsten Aufrufen entließ uns der Arbeitsanweiser nicht in die Baracke. Wohin sonst?
»Wir gehen in die URTsch zum Fingerabdrücke machen.«
Wir kamen in die URTsch.
»Wie ist dein Name?«
»Schalamow.«
»Und was meldest du dich zwei Monate nicht?«
»Ich habe nichts gehört, jeden Tag gehe ich zum Appell, man hat mich nie aufgerufen.«
»Weg hier, Kanaille.«
Wir mussten uns fertigmachen für die Etappe, und man schickte uns los, aber nicht in die Landwirtschaft oder zum Fischfang, sondern zur Kohleerkundung an den Schwarzen See. Zum Glück als Invaliden zur Versorgung von Freien, von Freien – gerade freigelassenen Häftlingen – ebenfalls aus dem Durchgangslager, aber Freien, die mit Dalstroj einen Jahresvertrag unterschrieben hatten, um sich etwas dazuzuverdienen. Der Chef des neuen Kohlereviers Paramonow, dem man keine Häftlinge gab – die wurden ins Gold gejagt —, erbat sich wenigstens sechs Mann zur Versorgung seiner freien Arbeiter. Ich sollte als Wassersieder[89 - der Wassersieder – кипятильщик] fahren, Gordejew als Wächter, Filippowskij als Badewärter, Nagibin als Ofensetzer, Frisorger als Tischler.
Die Freien hatten keine Kopeke, alles, bis auf die Wäsche, war verkauft oder verspielt im freien Durchgangslager, am sogenannten Karpunkt, der Quarantänestation, was dasselbe war wie die Etappe für die Häftlinge, nur kleiner – dieselbe Zone, dieselben Baracken. Der Karpunkt lag ganz dicht an der Etappe. Dieselben leeren Pritschen. Der Karpunkt hatte sich ebenfalls geleert. Die Dampfer waren abgefahren.
Und diese Habenichtse also hatte Paramonow an den Schwarzen See zur Kohleerkundung geholt, wo man nach Kohle suchte. Kohle und nicht Gold. Als wir zum ersten Mal in Atka übernachteten, im Klub der Straßenbauer, breiteten wir auf den Pritschen das Zelt aus, mit dem wir uns unterwegs auf dem Auto bedeckt hatten, und schliefen und schliefen. Die Freien hatten keine Kopeke Geld. Wir mussten Tabak kaufen. Es gab auch Machorka im freien Lager, und sie hatten das Recht, sie zu kaufen, sie waren schon keine Häftlinge mehr. Aber Geld hatte niemand. Der alte Nagibin gab ihnen einen Rubel, und für diesen Rubel wurde Machorka gekauft, unter allen gleich verteilt – Häftlingen wie Freien – und geraucht. Am nächsten Tag kam der Chef angereist und gab irgendwelches Geld aus.
Der Revierchef Paramonow war ein Kolyma-Veteran. Ein Lagerrevier des NKWD eröffnete er nicht zum ersten Mal. So hatte eben Paramonow Maldjak eröffnet, den berühmten Bergwerksgiganten an der Kolyma – mit bis zu zwanzigtausend Mann Listenbelegschaft[90 - mit bis zu zwanzigtausend Mann Listenbelegschaft – до двадцати тысяч человек списочного состава]. Und die Sterblichkeit lag 1938 sogar über der gewöhnlichen Sterblichkeit an der Kolyma. Als General Gorbatow* Maldjak erreicht hatte, verwandelte er sich in zwei Wochen in einen Invaliden. Das sieht man aus den Erfassungen der Zeit; angekommen – ausgeschieden. Angekommen als Arbeiter, ausgeschieden als Invalide. Der so kurzzeitige Aufenthalt in Maldjak gab General Gorbatow nicht die Möglichkeit, sich dort zurechtzufinden – er schreibt: In Maldjak waren 800 Mann, und gerettet hat ihn der Feldscher, er schickte ihn als Invaliden nach Magadan. Kein Lagerfeldscher hatte das Recht und die Möglichkeit dazu. Gorbatow »lief auf Grund« in einem der Abschnitte von Maldjak, dem Bergwerksgiganten. In Schturmowoj waren zu dieser Zeit vierzehntausend Mann, in Werchnij At-Urjach zwölftausend. In drei Wochen auf Grund laufen, das ist die normale Frist für jeden Menschen – unter Schlägen, Hunger, Kälte und vierzehnstündiger Arbeit. Genau drei Wochen sind die Frist, die aus einem Athleten einen Invaliden macht.
Paramonow hatte im Gespräch mit den Freien eine ständige scherzhafte Redensart: »Ihr fahrt im Zylinder nach Hause …«
Paramonow war kein schlechter Chef, wenn er unterwegs war, steuerten das Leben des Schwarzsee-Staates gemeinsam der freie Einsatzleiter Kassajew und der Bauvorarbeiter Bystrow. Bystrow war ehemaliger Häftling und Kassajew Ingenieur und Geologe, oder Geologietechniker, ein Vertragsarbeiter, ein Freier.
Als in Paramonows Abwesenheit Kassajew und Bystrow die Ausgabe von Wodka an uns Häftlinge nicht erlaubten – an allen möglichen Kognaks und Bränden gab es im Lagerhaus Unmengen, die Polarration – und wir uns bei Paramonow beschwerten, wies er an, uns sogar für die vorigen Tage auszugeben.
»Die Tajga ist für alle dieselbe«, sagte er düster.
Wir aßen aus einem gemeinsamen Kessel[91 - aus einem gemeinsamen Kessel essen – есть из общего котла] mit den Freien (sechs Häftlinge und fünfundzwanzig Freie). Wir konnten alles Mögliche bestellen, Zwieback, Butter, Zucker.
Kostenlos – wer nicht wollte, zahlte das Geld auf ein laufendes Konto. Das tat nur einer von uns, der Tischler Pikuljow, der später gekommen war. Nachher, als diese Bezüge abgeschafft wurden, Pikuljow sehr betrübt, dass alles verfallen war.
Ich aber handelte nach dem ewigen Lagergesetz: »Fang das Essen mit dem Besten an.«
Paramonow war selten am Schwarzen See. Er arbeitete mehr in Magadan – setzte sich ein, bemühte sich für das Revier um alles, was ihm zustand. Durch seine kamen mehrere Dutzend Menschen an den Schwarzen See für die entlassenen Freien, die, mäkelnd[92 - mäkeln – ворчать] und ohne Zylinder, an der Kolyma nicht lange leben wollten.
Plötzlich wurde Paramonow abgelöst wegen Veruntreuung – der Entwendung, dem Diebstahl und direkten Verkauf von Konzentraten, Nudelaufläufen, Fleisch- und Milchkonserven. Man wollte ihn vor Gericht stellen, aber tat es nicht – er wurde aus dem Dalstroj entlassen.
An seiner statt übernahm den Schwarzen See Bogdanow, ein ehemaliger Bevollmächtigter des MWD und des Prozesses von 1938*.
Bogdanow gab täglich Befehle zu Disziplin und Wachsamkeit aus und baute einen Karzer. Er war derselbe Chef, der Briefe entgegennahm, Briefe an mich von meiner Frau – zu der die Verbindung etwa drei Jahre abgebrochen war – und diese Briefe in meinem Beisein zerriss, wozu er mich in seine Wohnung lud. Und die Fetzen warf er in den Müll. All das habe ich in der Erzählung »Bogdanow« beschrieben, mit aller dokumentarischen Verantwortung.
Bogdanow trank Tag und Nacht. Und trug den Alkohol sogar vom Lagerhaus zu sich in die Wohnung. Sein Sekretär Fedja Kartaschow sagte, dass sein Chef vom Morgen an trinkt, vom Aufstehen an, und bis in den Abend – das letzte Mal zur Nacht. All die drei Monate, die Kartaschow bei ihm als Sekretär arbeitete.
In einer Mondnacht, im Winter, erschien am Schwarzen See ein Mann im Mantel mit Pelzkragen von deutlich anderer Machart als an der Kolyma.
Er erschien im Kontor, dem Nachtwächter hatte er einen gezeigt, und weckte den Sekretär des Chefs. Kartaschow wollte den Revierchef wecken, doch der Angereiste verbot das und legte sich auf dem Tisch schlafen.
Kartaschow beschloss, Bogdanow trotzdem zu wecken – ihm war klar, Bogdanow würde ihm dieses Versäumnis nicht verzeihen.
Bogdanow zog seine militärische Majorsuniform an und trat ins Kontor. Der Ankömmling wies ein Dokument vor: »Das Revier innerhalb von 24 Stunden an Gen. Plutalow übergeben.«
»Ich bitte ins Zimmer«, sagte Bogdanow. Plutalow lehnte ab. Er bat, ihm umgehend den Alkohol zu bringen, und versiegelte das Fass mit seinem Siegel. Und blieb gleich im Kontor sitzen die 24 Stunden, in deren Verlauf er das Revier übernahm.
Bogdanows Familie, er hatte nämlich eine schöne Frau und zwei Kinder, reiste auf irgendwelchen zufälligen Rentierschlitten[93 - der Rentierschlitten – оленьи нарты (сани)] ab, ihre Habe aufgeladen.
Bogdanow reiste ab, ohne im mindesten sein großartiges Aussehen und seine Zuversicht zu verlieren. Später erklärte mir Kartaschow, diese ewige Zuversicht Bodgdanows gründe darin, dass er immer benebelt[94 - benebelt sein – быть навеселе], immer angeheitert war.
Seine Frau prügelte Bogdanow, ohne sich jemandes Beiseins zu schämen.
Früher Winter unter der sicheren und heiteren Hand von Viktor Iwanowitsch Plutalow – einem Bergbauingenieur, der ohne Reserve angereist war, um eine reine Bergbau- und Produktionsabteilung zu eröffnen, und der natürlich nicht nach Kassajew und nach Disziplin fragte.
Es begann eine tatkräftige Arbeit. Man fing an, Schurfund Randgräben zu hauen.
Eine massive Kohlespur führte zur Entfaltung aufwendiger Tätigkeit.
Es war so, dass dieses Revier vom Erkundungsingenieur Popow entdeckt wurde, dem heutigen Chefingenieur von Dalstroj-Kohle. Im Winter wurde die Kohle abgeschlämmt – Popows Prognose sollte bestätigt werden. Für das Revier wurden Mittel bereitgestellt.
Die Kohle verschwand in Verdrückungen und zog sich in die Bergkuppen. Industrielles gab es hier nichts.
Und so hatte man hier nichts gefunden. Schließlich kam die Stunde, als die Oberste Ingenieurkommission das gesamte Revier inspizierte. Zum letzten Mal war an der Kommission auch Popow beteiligt, und sie machte es dicht.
Jetzt fing man an, den Rest der Leute an die Bergwerke zu übergeben – Chejt war nebenan, und dorthin verschwanden sie schnell. Nach Berichten, nach Gesprächen, nach Gerüchten war in Chejt Anatolij Gidasch Barackendienst – er konnte noch vor dem Krieg nach Moskau zurückkehren.
Ich hatte keine solche Bekanntschaft, alle meine Bekannten wurden 1937 erschossen.
Ich ging zu Plutalow und bat ihn offen, mich nicht ins Bergwerk zu schicken, falls man mich losschickt.

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notes
Примечания

1
Bekräftigung von Leben und Glauben – утверждение жизни и веры
* См. прим. перев.

2
als ausgemacht gelten – считаться бесспорным

3
der Späher der Leserwelt – соглядатай читательского мира

4
ringen mit der künstlerischen Wahrheit im Namen der Wahrheit des Lebens – бороться с художественной правдой во имя правды жизни

5
viele Male kam mir in aller Augenfälligkeit in den Sinn – много раз со всей убедительностью приходило мне в голову

6
»Segen der Erde« – «Соки земли», роман норвежского писателя Кнута Гамсуна (Нобелевская премия, 1920)

7
wie eine Schale abfallen – слететь, как шелуха

8
physischer Verfall – физический распад

9
der Untersuchungsrichter – судебный следователь

10
geistige Überlegenheit – духовное преимущество

11
ein Gesetz herleiten – вывести закон

12
das Geschraubte – вычурность, витиеватость

13
sich in diesen Zustand zurückversetzen – вернуть себя в прежнее состояние

14
Exzerpte aus der Literatur – выписки из книг

15
die Wahrheit meines heutigen Weltempfindens – правда моего сегодняшнего мироощущения

16
der Untersuchungsführer – следователь

17
wegen des bürokratischen Kreisens dieses Todesrades – из-за бюрократического вращения этого смертного колеса

18
die Winzschrift – мелкий шрифт

19
aller magischen Kreise würdig – достойный всяких магических кругов

20
wie »der letzte Lump« – как «последнюю падлу»

21
Aussagen der Zeugen – показания свидетелей

22
Sie sind hier nicht Untersuchungshäftling, Sie sind hier ein Verurteilter… – Вы у нас не как следственный, вы у нас как приговоренный…

23
herauspressen – выжимать

24
die Verbannung – ссылка

25
Ich passte für das Kürzel – Я угодил под литерку (т.е. обвинялся в политическом преступлении, которое обозначалось аабревиатурой, например, АСА – антисоветская агитация)

26
mit irgendeiner Tätigkeit befasst sein – заниматься чем-либо

27
der Güterwaggon – товарный (грузовой) вагон

28
ein Ausbruch des Gelächters – взрыв смеха

29
die Entlausungsanstalt – санпропускник

30
von Fett aufgeschwemmt – заплывшее жиром

31
die ganze Aufgabe wäre im Nu gelöst – вся задача была бы вмиг решена

32
der Aufgedunsene – одутловатый человек

33
der Stacheldraht – колючая проволока

34
das Glätten scharfer Kanten – сглаживание острых углов

35
Freundschaft knüpfen – завязать дружбу

36
die Sprengung – взрыв

37
die Waschtrommel – промывочный барабан

38
neuer Wein in alten Schläuchen – (Еванг.) новое вино в ветхие мехи

39
das Lärchenholzgerüst – каркас из лиственницы

40
die Pfahlnut – паз столба

41
der Hochspannungsmast – опора высоковольтной линии

42
ohne schlaue Tüftelei – (зд.) не мудрствуя лукаво

43
schief angenagelt – косо прибитый

44
das Holz »auf dem Buckel« herbringen – нести дрова на себе

45
mickrig – (зд.) мелкий

46
ein Stock, am dicken Stammende gefasst – палка, взятая с «комельком» (комель – тостый нижний конец бревна)

47
ausrücken – выступить

48
»Schwachmatikern« – «слабосилка»

49
der Hunger – «сосущий» голод

50
der Ganove – (разг.) вор, блатной

51
einen Hund auf j-n hetzen – натравить на кого-л. собаку

52
ohne einen einzigen Holzspan – без единой щепки

53
während all dieses Tohuwabohus – во время всей этой кутерьмы с собаками

54
…ich versickerte und versackte dort tagtäglich und stündlich – я уходил, увязал туда каждодневно и повсечасно

55
das Brecheisen – лом

56
eine Schwelle übertreten – перешагнуть порог

57
unter dem Pfeifen des Schneesturms – под свист метели

58
von ihm sind meine Finger gekrümmt – по ней согнуты мои пальцы

59
fuchteln – размахивать, махать

60
j-m eine Beule holen – набить шишку

61
die obere Pritsche – верхние нары

62
das Zahnfleisch schwillt – десны опухают

63
der Scorbut – цинга

64
Bohren, Sprengen und Beladen des Behälters mit der Schaufel – бурение, взрыв и погрузка лопатой в короб

65
»Juristenverschwörung« – «заговор юристов»

66
in den Einbrüchen des Gedächtnisses – в провалах памяти

67
der nagende Hunger – сосущий голод

68
rempeln – толкать

69
sich zum Knäuel ballen – сжаться в комок

70
mit aller Kraft des Spürsinns wittern – чувствовать всей силой чутья

71
die Hände erfroren und bekamen Blasen – руки обморозились в пузыри

72
aufblähen – вздуваться

73
sich zur Schlafstelle schleppen – добраться до койки

74
der Kolben – приклад

75
ein ewiges Brandmal – вечное клеймо

76
der Tabakkrümel – крошка табака

77
der Speichellecker – подхалим

78
der Schurfgraben – разведочная траншея

79
das Fohlen – жеребенок

80
… das schon Reif ansetzte – начинающий индеветь

81
Brüche beider Ober- und Unterschenkel, Rippenbruch – переломы обоих бедер, голеней, ребра

82
die Säge schärfen – точить пилу

83
der Bauch des Dampfers – трюм парохода

84
der Junggesellenssteuer – налог на холостых

85
arbeiteten wir in Bergwerken mit Abtransport bis zu 200 Metern – мы работали в забоях с откаткой до 200 метров

86
erstarrte sofort, ohne einzuziehen – сейчас же застыла, не всасываясь

87
zur Arbeit getrieben, gejagt, gescheucht – выгнали, выгоняли, гоняли на работу

88
die Pritsche – нары

89
der Wassersieder – кипятильщик

90
mit bis zu zwanzigtausend Mann Listenbelegschaft – до двадцати тысяч человек списочного состава

91
aus einem gemeinsamen Kessel essen – есть из общего котла

92
mäkeln – ворчать

93
der Rentierschlitten – оленьи нарты (сани)

94
benebelt sein – быть навеселе
Über die Kolyma  О Колыме. Книга для чтения на немецком языке Варлам Шаламов
Über die Kolyma / О Колыме. Книга для чтения на немецком языке

Варлам Шаламов

Тип: электронная книга

Жанр: Современная русская литература

Язык: на немецком языке

Издательство: КАРО

Дата публикации: 18.10.2024

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О книге: В книгу «О Колыме» замечательного поэта и писателя Варлама Тихоновича Шаламова (1907–1982) вошли автобиографические рассказы, которые пронизаны нестерпимой болью человека, находящегося на грани своих физических возможностей, но не теряющего при этом внутреннюю стойкость. Шаламов пишет, что «лагерь – отрицательная школа жизни целиком и полностью», а дорогу на Колыму называет «дорогой в ад». Но даже в самых страшных, самых тяжелых условиях человек способен сохранить себя, свою духовную независимость.

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