Apostasie
Marie Albes
Elena und Chiara: zwei Frauen, zwei unterschiedliche Schicksale, eine gemeinsame Liebe. Elena prägt ein rebellischer Charakter. Nur schwer kann sie sich an Regeln halten, von denen die Welt regiert wird. Ihr Leben strotzt vor Leidenschaft. Chiara hingegen ist eine sanftmütige, ausgeglichene Frau, die alles mit einem Lächeln meistert. Seit zehn Jahren lebt sie in einem kleinen Kloster in der Nähe von Florenz. Wie eine Blume im Licht sprießt ihr Gelübde. Elena dagegen kann die klösterliche Einengung nicht nachvollziehen. In Ihren Augen stutzt sie die Flügel, um sie in einer dunklen Schublade zu verschließen. Beide Straßen folgen ihrem Lauf, bis eines Tages José Velasco erscheint. Der junge Spanier ist nach Italien gekommen, um einer Geheimhaltung nachzuforschen, die seine Familie bedrückt. Er kreuzt das Leben von Chiara und bringt Verwirrung. Gemeinsam durchlaufen sie die Vergangenheit auf der Suche nach der Wahrheit. Verschiedene Hinweise sind mit der Zeit verloren gegangen. Doch die Vergangenheit hält nicht nur José in ihren Klauen. Sie trübt auch Chiaras Überzeugung, auf der ihre Welt wurzelt. Während dem Sommer verfolgen sie einen mitreißenden Faden. Ihre Enthüllungen sind nicht mehr zu ignorieren, sondern sie müssen sich ihnen stellen. Zugleich sind sie schockiert darüber, was sich gefährlicher als ein religiöser Eid erweist. Elena weiß dies sehr wohl, beobachtet sie, schweigt aber: Sie ist überzeugt, dass der freie Wille existiert, dieser aber äußerst zerbrechlich ist.
Marie Albes
Verlag: Tektime
(https://www.traduzionelibri.it (https://www.traduzionelibri.it))
Register der Kapitel
uno (#u81e74619-a81f-5b77-9000-5e39a1f257e1)
dos (#u94d40937-583c-50c1-aee5-ab4ec316113d)
tres (#u099ab8eb-36ce-5e6a-a2db-1c745738d266)
Kokon (#udef8c928-6f89-597c-b42e-abd2668cd4de)
cuatro (#u6e95084b-0de4-5794-b4d8-d1693c8888af)
cinco (#ub8bf70f5-9454-5691-94d8-af8771f06d73)
ZWEI JAHRE VORHER (#uef94b840-75c7-5ffe-8d64-efc82f72edfd)
seis (#ucb61cf8d-fe1b-5f5d-b59f-3124aa0defbd)
siete (#u3eecc85e-b8bb-584e-9855-074905c0fb74)
Gentile (#u536cc5ef-b17e-50c6-a640-7efcf4e1c13e)
ocho (#u7d1726e8-d625-5b2a-828e-1d15367f889c)
Abstand (#u3730c66b-24f3-5660-b9af-296828c09593)
nueve (#u3f3a1ec5-b276-5079-b1aa-6b73d8a8c922)
diez (#u9125ddc3-0f55-5e22-8a74-2231adb82350)
Priesterschule (#ud522d428-aab5-5026-a1b6-e7afa813d7b7)
once (#uedde6fb3-a0dd-53db-b2bd-c02d8a50e34b)
doce (#u05c49452-f48f-5ca1-a4d3-b3a12eff5059)
Briefe (#litres_trial_promo)
trece (#litres_trial_promo)
catorce (#litres_trial_promo)
quince (#litres_trial_promo)
Der Gast (#litres_trial_promo)
dieciséis (#litres_trial_promo)
diecisiete (#litres_trial_promo)
Verwirrung (#litres_trial_promo)
dieciocho (#litres_trial_promo)
Metamorphose (#litres_trial_promo)
diecinueve (#litres_trial_promo)
veinte (#litres_trial_promo)
Veränderung (#litres_trial_promo)
veintino (#litres_trial_promo)
Schmetterling (#litres_trial_promo)
veintidós (#litres_trial_promo)
Brand (#litres_trial_promo)
veintitrés (#litres_trial_promo)
Hölle (#litres_trial_promo)
veinticuatro (#litres_trial_promo)
veinticinco (#litres_trial_promo)
veintiséis (#litres_trial_promo)
veintisiete (#litres_trial_promo)
veintiocho (#litres_trial_promo)
veintinueve (#litres_trial_promo)
treinta (#litres_trial_promo)
treinta y uno (#litres_trial_promo)
treinta y dos (#litres_trial_promo)
treinta y tres (#litres_trial_promo)
H E U T E (#litres_trial_promo)
treinta y cuatro (#litres_trial_promo)
treinta y cinco (#litres_trial_promo)
treinta y seis (#litres_trial_promo)
E P I L O G (#litres_trial_promo)
E N D E (#litres_trial_promo)
Danksagung (#litres_trial_promo)
Dieser Roman ist ein Werk der Fantasie. Alle Ereignisse, Dialoge und Charaktere sind vom Autor erfunden und nicht real.
Bezüglich existierenden Personen oder solchen, die existiert haben, übereinstimmenden Situationen, Ereignissen und Dialogen sind diese frei erfunden. Ich beabsichtige nicht, authentische Episoden zu imitieren oder das fiktive Wesen des Werks zu entstellen.
Jegliche Ähnlichkeit mit einer wahren Person, einem Ort und einem Ereignis ist rein zufällig.
2016 © Marie Albes Alle Rechte vorbehalten.
www.mariealbes.com (http://www.mariealbes.com/)
A P O S T A S I E
Die Wahrheit über Leben und Tod
MARIE ALBES
Aus dem Italienischen von
Janine Occelli-Vieler
Dieses Buch widme ich meiner
fabelhaften Mutter,
denn ohne sie
wäre es nie entstanden.
Vielen Dank Maman!
Zusammen mit Papa bist du meine Kraft.
Vor ein paar Jahren reiste ich mit meinen Eltern und meiner Schwester in die Toskana. Wir verweilten in einem Dorf, das auf einem Hügel erbaut war und von einem riesigen Turm überblickt wurde, dessen Uhr die Lebenszeit tickt.
Hinter dem Turm umgab ein verwilderter Garten ein unbewohntes Schloss, dessen Wände steil über dem darunter gelegenen Tal ragten.
Wir pausierten für eine halbe Stunde, um uns vom Panorama und der seltsamen Nostalgie der Umgebung verzaubern zu lassen. Schließlich ging unser Ausflug weiter.
Ich stolperte über einen Stein und fiel zu Boden. Wollte es das Schicksal? Schmunzelnd wandte ich mich an meine Familie, die sich über mein Missgeschick amüsierte. Ein kleiner Felserweckte mein Interesse, der von der Wurzel einer Linde umwachsen war. Beim genaueren Hinschauen bemerkte ich einen geschnitzten Holzgegenstand, der aus der Erde ragte. Neugierig näherte ich mich dem Fund. Mit den Fingern und anschließend mit einem flachen Stein fing ich an, ihn auszugraben.
Meine Eltern und meine Schwester schauten mir verwundert zu. Nach ein paar Minuten zog ich eine kleine Holzschachtel aus der Erde, deren Metallgelenke an manchen Stellen mit Rost besetzt waren.
Mein Herz raste: Wie jeder Teenager war ich anfällig für die Geheimnisse des Lebens. In diesem Moment hatte ich einen Schatz entdeckt, den ich beabsichtigte, sorgfältig zu behüten.
Ich öffnete die Schachtel und fand ein Bündel handgeschriebener Blätter, manche zerrissen, andere an den Rändern gealtert. Das Papier ist mit der Zeit gegilbt und brüchig geworden. Die Schreibart hingegen strotzte vor Arroganz und Lebenslust.
Sofort fiel mir die emotionale Stärke des Verfassers auf. Zuhause fing ich an, die Seiten zu lesen, besessen von der Stimme, die in meinem Geist erzählte.
Die Geschichte, die ich Euch berichte, ist diesem Manuskript entnommen, das die Witterungseinflüsse von Leben und Tod überstanden hatte.
Im Grunde ist das Gedächtnis die einzige Form des Unvergänglichen, diewir kennen.
Freiheit,
die intensivste Farbe.
uno
Ein schwacher Lichtschleier durchdringt die Fensterrosen der Kirche und färbt alles mit gläsernen, warmen Farben. Sie lassen alles weit entfernt erscheinen, wie das Paradies auf Erden, versteckt vor dem blauen Himmel. In ihrem verdorbenen Herzen ist das Paradies mittlerweile ausgeschlossen.
Chiara kniet mit gesenktem Kopf und betet zu Gott, der sie erhören muss. Er, der in den vergangenen Jahrhunderten barmherzig war, wie auch in der Gegenwart, trotz der Geschehnisse in dieser Welt.
„Gib mir die Kraft!“, in Tränen drückt sie den Rosenkranz fester. Aber bald trocknet sie sich die rosigen Wangen mit dem Bemühen, beherrscht oder zumindest ausgeglichen zu wirken.
Dann hört sie den Hall von Schritten hinter ihrem Rücken. Zum ersten Mal erschreckt sie sich vor dem in der Kirche typischen Geräusch, die von glücklichen Gemütern sowie Menschen auf ihrer Suche nach Frieden und Trost aufgesucht wird.
Ruckartig dreht sie sich um, um zu sehen, wer es ist. Es ist ein alter Mann, der sich in die Reihe neben ihrer Reihe kniet, um mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen zu beten.
Flüchtig schaut er sie an, bevor er sich in sein Gebet vertieft. Aber Chiara ist überzeugt, dass dieser Blick eine Art Vorwurf ist. Alle sehen sie mittlerweile vorwurfsvoll an: die Welt und vielleicht sogar Gott. Vor allem er.
Sie wischt sich eine weitere Träne weg. Erneut starrt sie auf die Fensterrose, als wäre sie ein Bote des Himmels.
Der Sonnenuntergang hat seinen Höhepunkt erreicht. Ein intensiver Sonnenstrahl durchdringt die Fenster und färbt Chiaras Haare karmesinrot und rosa, ähnlich einer Blüte, die im Frühling zum Leben erblüht.
Ihr rutscht eine Strähne aus dem Zopf. Eilig steckt sie diese hinter ihr Ohr. Sie nimmt sich vor, sich zu beherrschen und wieder heiter zu werden, genau wie einst.
„Gib mir Kraft“, wiederholt sie in einem Flüstern, das wie ein Schrei in dieser religiösen Stille klingt.
Dann dreht sie sich erneut um, um zu sehen, ob der Mann sie gehört hat. Dieser ist reglos in seinem Gebet versunken.
Im Frühling eines gottverlassenen Jahres sprach man zuerst in einem kleinen toskanischen Dorf, dann in der gesamten Region und schließlich im gesamten Land über nichts anderes als über den Mord an Elena Gentile. Sie war in einer kleinen Dorfkirche tot aufgefunden worden.
Ausserordentlich Hübsch, selbst im gewaltsamen Tod
hieß die Schlagzeile einer Zeitung,
Mord in einem Kloster
hieß ein anderer Titel, selbst wenn es sich gar nicht um ein Kloster handelte.
Das Geheimnis des Falls Elena Gentile
las man in Großbuchstaben in einer anderen Zeitung. Es wurde keine Rücksicht auf das Gefühlschaos derjenigen genommen, die den Fall kannten, noch auf das Leiden der Personen, die mit Elena Gentile eng verbunden waren.
Wie dem auch sei, alle fragten sich:
Was ist Elena Gentile tatsächlich zugestossen?
Die süße, starke und charismatische Elena Gentile wurde leblos zu Füßen des gekreuzigten Jesus Christus aufgefunden.
Er kannte die Wahrheit, konnte aber nicht reden.
dos
Vor zwanzig Jahren, zehn Jahre nach Elena.
Die freundlichsten Stimmen nannten sie Schönauge; Skeptiker, die im Schönsein einen Fehler sahen, nannten sie das Mädchen mit den sonderbaren Augen. Bezaubernd waren Chiaras Augen auf jeden Fall. Ihre dunklen, südländischen Wimpern wurden durch ihre braunen Haare betont, die von honigblonden Strähnen markiert waren. Das seltsame der Augen waren die verschiedenfarbigen Iris. Die Iris von Chiaras rechtem Auge war schimmernd hellbraun wie Tee. Das linke Auge hingegen war zur Hälfte mit tannengrünen Flecken gesprenkelt und mischte sich mit der Teefarbe wie ein Tropfen Öl mit Wasser: die Transparenz der Flüssigkeit kontrastiert sich zur energischen Welle.
Wer Chiaras Augen begegnete, blieb nicht gleichgültig gegenüber diesen beiden Perlen ihres reinen, aufmerksamen Blicks, derart hoben sie sich in ihrem lächelnden Gesicht ab.
„Um Gottes Willen, wie kann ich Nein sagen, wenn du mich so ansiehst?“, war der Satz, den sich ihr Vater regelmäßig sagen hörte, wenn das süße Mädchen ihn um ein Geschenk wie eine Puppe oder ein Buch bat.
Vielleicht wurde sie als kleines Mädchen aus diesem Grund von allen in ihrem Geburtsort derart geliebt. Selbst diejenigen, die sie „das Mädchen mit den sonderbaren Augen“ nannten, blieben von den honigfarbenen Locken verzaubert, welche weich das Wesen der achtjährigen Chiara widerspiegelten. Oft spielte sie am Brunnen des Dorfplatzes und machte sich nass wie ein Entenküken.
Jedes Mal wenn sie durchnässt nach Hause kam, wurde sie von ihrer Mutter ausgeschimpft. Chiara hielt den Kopf gesenkt. Sie starrte ihre Füße an, die mit Heu und Erde beschmutzt waren, schuldig, wie ein ertappter Welpe, der in einer schlammigen Pfütze geplanscht hat. Schließlich schaute sie mit tränenden Augen auf. Selbst die Mutter konnte nicht mehr mit ihrer Predigt fortfahren, sondern schloss sie in ihre Arme und brachte sie zur Badewanne. Nach dem Trockenrubbeln flocht sie ihr gewöhnlich die Haare zum Zopf, den sie selbst nach zwanzig Jahren auf dieselbe Weise trug.
Jeden Sonntag besuchte sie die Messe.
In ihrem Dorf, fern von Großstädten, die sie ausschließlich aus Bildern kannte, waren alle Einwohner streng katholisch gläubig. Und mit allen meine ich alle: vom Metzger zum Leichenbestatter, vom Gemüsehändler bis zum Dieb, vom Friseur bis zur Hure. Seltsam war, die Dorfbewohner in der kleinen Dorfkirche vereint zu sehen, nahe beieinander und kunterbunt in ihrer verschleierten Heuchelei.
Menschen, die sich hassten, Menschen, die sich fürchteten, Menschen, die sich betrogen. Aber sie waren anwesend, um sich gemäß Gottes Wille das Zeichen des Friedens auszutauschen.
Am Morgen eines Feiertages begriff Chiara, wie ergeben sie sich gegenüber der Person fühlte, die im Himmel lebte (dies war ihr Bild von Gott). Chiara wusste nicht, was Heuchelei ist und betrachtete die Zusammenkunft der Menschen als ein kostbares Geschenk, das nicht zu verachten war.
Vor wenigen Tagen hatte sich ihr Vater mit dem Onkel gestritten, der nahe bei ihnen wohnte. Nach einem regen Wortgefecht, welches Chiara in einem Nachbarzimmer mitgehört hatte, redeten die beiden Brüder nicht mehr miteinander. Die Zimmerwand hatte sie vor dem Anblick geschützt, aber nicht vor der Enttäuschung. Die Erwachsenen verhielten sich eigenartig!
„Es kann nicht wahr sein, Gott“, hatte sie mit Tränen in den Augen geflüstert, „die sind blöd!“
An diesem Sonntag, aus irgendeinem seltsamen Grund, reichten sich im Haus des Herrn im Zeichen des Friedens ihr Vater und ihr Onkel die Hände und redeten seitdem erneut miteinander. Sie waren überzeugt, auch zukünftige Streitereien, die ihnen das Leben bringen würde, zu bewältigen.
Denn es gibt nicht ausschließlich die Heuchelei; es gibt auch die Vergebung.
„Du hast mich erhört!“, bemerkte sie an diesem Abend glücklich bevor sie schlafen ging und krempelte sich die Bettdecke bis zum Mund hoch. „Du weißt, wie wichtig mir ihr Frieden ist. Danke, dass du mich erhört hast!“.
Von diesem Moment an wusste Chiara, dass Gott alles vollbringen konnte. Sie war überzeugt, egal was sie ihn fragte, sofern Gutes, dass er es ihr gewähren würde, einschließlich dem Glücklichsein.
tres
Vor eineinhalb Jahren, Neunundzwanzigeinhalb Jahre nach Elena.
Chiara kehrte mit klopfendem Herzen in ihr Zimmer zurück. Ein Gefühl der Erschöpfung belastete ihre Seele und ihren Körper.
Sie wünschte keine Besuche, schloss schnell den Türriegel und setzte sich auf das Bett.
Nachdem sie sich das Kopftuch abgenommen hatte, hob sie den Ärmelsaum der Tunika an, um ein kleines, steifes Silberarmband freizulegen, das ihr rechtes Handgelenk zierte. Sie betrachtete es lange, ließ den Stoff nach unten gleiten, stand auf und starrte auf die Tür.
Diese war verriegelt, so dass niemand ohne ihre Erlaubnis das Zimmer betreten konnte.
Sie hob einen Teil der Matratze an. Zwischen Matratze und Lattenrost zog sie ein weißes Bündel hervor. Sie legte es auf die Bettwäsche und öffnete es. Es enthielt ein paar Jeans und einen weißen Pullover, der am linken Ärmel mit Schokolade befleckt war. Sie lächelte zuerst bei den Erinnerungen, dann wurde sie ernst und traurig.
Erneut blickte sie zur Tür (um sicher zu gehen), zog sich die Tunika aus und die Jeans sowie den Pullover an. Sie spürte die Kleider an ihrer Haut anliegen, wie die Rüstung eines mittelalterlichen Ritters: stark und sicher.
Im Zimmer hatte sie keinen Spiegel, der ihr erlaubte, sich in voller Größe zu betrachten, sondern nur einen kleinen für das Gesicht. Sie nahm ihn von der Wand und beschaute das Spiegelbild von jedem Teil ihres Körpers, indem sie ihn von unten nach oben wandern ließ.
In Höhe des Gesichts hielt sie inne. Ihre Melancholie und der Terror, den sie sah, gefielen ihr nicht. Sie hängte den Spiegel zurück an die Wand. Die Rückseite ließ sie zu ihr gerichtet, damit nicht der geringste Schatten gespiegelt werden konnte.
Mit einem Seufzer des Unbehagens ließ sie sich auf das Bett fallen. Ihre Gedanken gruben in ihrer Vergangenheit und wanderten von ihrer Kindheit und Jugend bis zum heutigen Tag.
Noch immer wohnten ihre Mutter und ihr Vater in ihrem Dorfhäuschen auf dem Lande. Sie dachte an jenen Sonntag in der Kirche, als alles perfekt war, dank der Kraft Gottes. Sie erinnerte sich an ihren ersten Tag hier, bereit, um sich einem neuen und vor allem vollkommen anderen Leben zu widmen.
„Chiara, es ist Zeit für das Abendessen“, eine Stimme auf der anderen Seite der Tür rüttelte sie aus ihren Gedanken.
„Ich bin heute Abend nicht hungrig“, antwortete sie.
„Du weißt, dass du nicht in deinem Zimmer bleiben kannst, wenn es Zeit ist, sich zu versammeln ...“
Claudias Stimme (schlaue Freundin seit ihrem ersten Tag) hatte einen leicht besorgten sowie bedauernden Ton. Sie hatte Recht.
„Ich komme sofort“, erwiderte sie schnell.
Sie stand auf, zog sich ihr Gewand an und legte Jeans und Pullover zurück in das Geheimversteck. Gedankenlos band sie ihre Haare zum gewöhnlichen Zopf zusammen und ließ sie unter dem Kopftuch verschwinden. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie zu dieser Entscheidung geführt hatte.
Sie wusste es nicht mehr.
Als sie aus dem Zimmer kam und die Tür schloss, gestand sie sich ein, dass nicht ihr Gedächtnis vergessen hatte, sondern ihr Herz.
Für ein Mädchen wie sie war dies der entscheidende Unterschied.
Kokon
Elena verlangte kein außergewöhnliches Leben zu führen, sondern wünschte sich von jemandem geliebt zu werden. Alle kannten sie als Amazonen-Kriegerin, die bereit war, die Welt zu erobern. Ihre Seele hingegen war eher ruhig, wenn Elenas Eltern ihr erlaubten, was sie wollte.
Ja, ihr einzig wahrer Grund war, eine Rebellin zu sein.
Aber was ist letzten Endes falsch an dem Wunsch, frei zu sein?
Wenn sie mitten in der Nacht den überwältigenden Drang verspürte, am Strand spazieren zu gehen, warum sollte sie es nicht tun?
Eines Nachts im Alter von sechzehn Jahren, stieg sie eilig aus dem Bett und zog sich leise an. Auf Zehenspitzen schlich sie in das Zimmer ihres Bruders und legte ihm eine Hand auf den Mund bevor er aufwachte.
Michele (das war sein Name) öffnete die Augen und sprang auf, ohne einen Laut von sich zu geben, da ihn die Hand seiner Schwester blockierte.
„ Ich möchte am Strand spazieren gehen“, flüsterte sie ihm ruhig zu, als gäbe es des Nachts nichts Seltsames an diesem Wunsch.
„ Bist du verrückt?“, antwortete Michele.
„ Nur weil ich spazieren gehen will?“
„ Aber es ist ein Uhr nachts!“, entgegnete er. Elena gab ihm einen Schlag auf den Arm, damit er leiser sprach.
„ Willst du alle aufwecken, alter Esel?“
„ Da ich ein alter Esel bin, warum bist du dann hier in meinem Zimmer und behauptest, dass du das Bedürfnis hast, unbedingt an der Promenade spazieren gehen zu müssen?“
„ Am Strand, auf dem Sand, nicht an der Promenade.“
„ Weitere Wünsche?“
„ Du hast den Führerschein, ich nicht.“
„ Und warum sollte ich das?“
„ Weil ich deine Lieblingsschwester bin und du nicht Nein sagen kannst.“
„ Du bist die einzige Schwester, die ich habe. Das bedeutet noch lange nicht, dass du meine Lieblingsschwester bist.“
Beide schmunzelten.
Das Problem war, dass Michele ihr wirklich nichts abschlagen konnte. Ohne Weiteres hinzuzufügen stand er auf und zog sich einen Jogginganzug an. Elena wartete an der Tür und klopfte mit einem Fuß leicht auf den Boden, um ihn zur Eile zu drängen.
Als sie sich im Garten befanden, legte Michele im Auto den Leerlauf ein. Gemeinsam schoben sie das Auto auf die Straße, wo sie es starteten konnten, ohne jemanden aufzuwecken.
„ Ist dir klar, dass wir vier Stunden hin und zurück fahren werden? Dein Strandspaziergang wird somit nicht länger als fünf Minuten sein.“
„ Nur fünf Minuten, du hast Recht. Es werden die intensivsten fünf Minuten seit langem sein und vor allem verbringen wir sie zusammen.“
Das Fenster war geöffnet. Die blonden Haare von Elena flatterten im Fahrwind, fast als suchten sie in dieser Frühsommernacht die Flucht.
„ Du wirst mir fehlen, weißt du“, offenbarte sie und drehte sich zu ihrem Bruder. „Wenn Du gehst, und mittlerweile ist es nicht mehr lange, bleibe ich allein zurück.“
„ Du wirst nicht alleine sein, Elena! Mama und Papa sind auch da. Außerdem gehe ich nicht weit weg.“
„ Nein, gewiss werde ich nicht allein sein“, beteuerte sie und drehte sich wieder zum Fenster. „Du bist aber der Einzige, der mich versteht.“
„ Ich werde nicht weit weg sein. Außerdem wirst du mit Lernen beschäftigt sein und nicht mehr an mich denken.“
„ Du weißt genau, dass das nicht stimmt.“
Den Rest der Fahrt verbrachten sie schweigend, jeder in den eigenen Gedanken verloren. Am Strand stieg Elena aus noch bevor Michele den Motor ausschaltete. Barfuß lief sie im Sand, während sie ihre Sandalen an den Riemen hielt.
Michele stieg gelassen aus (er hatte einen ruhigen Charakter). Er ergötzte sich am Anblick seiner Schwester, die fröhlich geradewegs zu den nächtlichen Wellen des Tyrrhenischen Meers rannte. Ihr Haar flatterte wie ihr Kleid im Wind.
„ Auf, Michele!“, rief Elena, drehte sich um und winkte fordernd, ihr zu folgen. Dann schmiss sie sich samt ihrer Kleider mit einem amüsierten Lächeln im Gesicht ins Meer. Als ihr Bruder sie am Wasser erreichte, zwang sie ihn, ihr gleichzutun und riss an seinem Arm.
Silberne Wasserspritzer zersprangen in der Luft; das Lachen von zwei jungen Personen, beleuchtet vom Mondschein. Bruder und Schwester, die sich in einem kurzen Moment des Wahns vergnügten und sich ihrer bevorstehenden Trennung bewusst waren.
„ Spürst du es?“, fragte Elena während sie an der Küste entlang liefen und versuchten, trocken zu werden.
„ Was?“, erwiderte Michele.
Elena schloss die Augen ohne anzuhalten.
„ Das Leben. Das bedeutet zu leben: sich frei und glücklich zu fühlen. Mit dem Glücksgefühl im Herzen Kälteschauer auf der Haut zu spüren.“
Michele wusste nicht was er erwidern sollte, fühlte sich aber von den Worten seiner Schwester erfüllt. Er war stolz auf ihre Weisheit und ihre Lebensfreude. „Du hast Recht“, flüsterte er bloß und strich ihr durchs Haar.
„ Lele, meinst du ich werde mich je verlieben?“, fragte sie und öffnete ihre Augenlider.
Michele lächelte. „Da bin ich mir nicht sicher.“
„ Und wie ist die Liebe?“
„ Sie ist schön, Elena, in all ihren Formen.“
„ Ich meine nicht in all-ihren-Formen, Lele. Die kenne ich bereits im Leben zum Bruder und zu Freunden ... ach ja, und zur Familie“, erklärte sie wenig überzeugt. „Aber ich kenne die wahre Liebe nicht. Die Liebe zu einem Mann, der mich genauso liebt, wie ich ihn liebe.“
„ Du bist noch jung, du wirst sehen, dass sie bald kommen wird.“
„ Unsinn, das Alter spielt keine Rolle.“
„ Das ist wahr, wahrscheinlich hast du Recht ... Aber mach dir keine Sorgen, Elena. Wenn sie kommt, weißt du es sofort.“
„ Und wie weiß ich das?“
„ Ganz einfach, von einem Kokon wirst du zu einem Schmetterling.“
Als sie in der Morgendämmerung nach Hause kamen, dachten Michele und Elena, dass ihre Eltern noch schliefen. Als sie aber die knarrende Eingangstür öffneten, erwartete sie ihr Vater bereits mit verschränkten Armen und strengem Blick.
„ Wo seid ihr gewesen“, fragte er ohne den Frageton zu verwenden, sondern den Befehlston. „Es war deine Idee, nicht wahr?“, wandte er sich an Elena. Ihr trotzender Blick irritierte ihren Vater mehr als alles andere. Mit einem Schritt ging sie auf ihn zu.“
„ Ehrlich gesagt war es meine Idee“, fiel Michele dazwischen bevor die Situation ausartete.
Er wusste, dass sein Vater niemals die Hand gegen den zweiten Mann der Familie richten würde. Ihn hätte jedoch nichts gehalten, seiner Schwester eine schallende Ohrfeige zu verpassen.
„ Ich konnte nicht schlafen und wollte spazieren gehen ... Ich habe Elena gefragt, ob sie mich begleite, um etwas Zeit miteinander zu verbringen, da ich bald fortgehe.“
Ohne weitere Worte drehte sich der Vater um. Er ging zurück ins Schlafzimmer und ließ Michele und Elena allein.
Sie umarmte ihn.
„ Danke, Lele... Du bist mein Held.“
Er streichelte ihren Kopf. „Du bist mein kostbarster Schatz, obwohl du mich oft in Schwierigkeiten bringst.“ Er hörte sie kichern. „Geh jetzt schlafen, du musst bald in die Schule!“
Elena ging die Treppen hinauf, drehte sich um und blies ihm mit der Hand einen Kuss zu. Sie ging hoch und legte sich ins Bett.
Elena hatte Recht: Es war herrlich zu leben und es lohnte sich, Nächte wie diese zu erleben.
cuatro
Vor zehn Jahren, zwanzig Jahre nach Elena.
Es war tiefe Nacht als die Tragödie passierte; Chiara hasste die Nacht.
Vor allem passierten in den Büchern, die sie als Kind gelesen hatte, die schlimmen Dinge immer bei dunkler Nacht. Auch prasselnder Regen oder ein Rabe in der Nähe bedeutete nichts Gutes. Aber eigensinnig widmete sich vor dem Schlafengehen beängstigender Literatur. Dadurch wollte sie sich ihrer Angst vor der Dunkelheit stellen, sowie dem, was die Literatur hergab.
Dies hielt so lange an, bis sie eines nachts, im Alter von zwölf Jahren Albträume hatte. Diese waren so haarsträubend, dass sie die Literatur vom Horror und vom Okkultismus aufgab. Sie hatte entschieden, dass vor dem Schlafen Jane Austen besser war als Edgar Allan Poe.
Dies war ihre emotionale Auslegung für ihr Verachten der Nacht, hinzu kam noch die wissenschaftliche Erklärung:
Während tagsüber alles hell und klar ist, und somit leicht kontrollierbar, waren die Schatten der Nacht vage. Der menschliche Geist weiß schwer einzuschätzen, was er nicht kennt.
Um das Bild zu vervollständigen, gab es den religiösen Aspekt ihrer Kultur. Sie lehrte, dass sich das Böse (so nannten es ihre Mutter und ihre Freundinnen) nicht hinter einem Sonnenstrahl versteckte, sondern eher hinter einer Wolke, die das Mondlicht verschleierte.
Chiara wusste als die Tragödie passierte nicht, ob es aufgrund der Literatur, der Wissenschaft oder des Bösen geschah.
Tatsache ist, dass sie die Nacht verabscheute.
Chiara erinnert sich deutlich an jenen Augenblick, als wenn es gestern passiert wäre: zuerst die läutenden Glocken um ein Uhr nachts, die sie aus dem Schlaf weckten. Dann das düstere Gesicht ihres Onkels im Türrahmen und das Weinen ihres Bruders Alberto, als dieser die Nachricht vernahm.
Dann kam alles wie im Flug: Sie stieg in das Auto des Onkels, in welchem Alberto bereits auf dem Rücksitz wartete. Die Blaulichter, der Krankenwagen vor dem Krankenhaus, die quietschenden Räder der Krankenbahren in Richtung Notaufnahme, als würden sie Ware tragen und schließlich das Wort, das ihr gesamtes Lebens veränderte: Koma.
An diesem Juni-Abend waren ihre Eltern mit Freunden zum Abendessen ausgegangen, während Chiara und Alberto zu Hause geblieben waren, um zu lernen. Chiara stand vor ihrem Abitur und Alberto hatte die Prüfung zur Oberstufe vor sich. Sie wollten lernen.
Aber auf dem Rückweg ihrer Eltern passierte es. Das Krankenhaus berichtete, dass ein LKW auf der Straße umgekippt war, die sie auf ihrem Nach-Hause-Weg genommen hatten. Die Kollision war unvermeidlich.
Viele Schläuche für die Infusion und viele elektronische Maschinen mit schrillen Tönen bekam Chiara in diesen endlosen Tagen vor Augen. Es vergingen lange, düstere Stunden, ohne dass die Eltern aus aufwachten.
„Sie liegen im Koma“, hatte der Arzt an dem Abend bedauernd mitgeteilt. „Die Situation ist ernst, aber stabil. Es besteht die Chance, dass sie sich erholen. Ich will dir aber keine Hoffnung machen.“
Chiara nickte mit dem Kopf und brachte kein Wort heraus.
Es vergingen Wochen in diesem qualvollen Stillstand. Chiaras Leben reduzierte sich auf ein Zimmer im Krankenhaus und auf das Piepen vom Elektroenzephalogramm ihrer Eltern. Einerseits verlor es nicht an Frequenz, andererseits erhöhte sie sich nicht.
Chiara war ohne sie verloren. Sie konnte nicht zulassen, dass ihre Eltern sie auf diese Weise verließen. Sie fühlte sich hilflos in dieser Situation, wie ein Blatt, das sich vom Baum löste. Es kann nichts anderes tun, als zu Boden fallen und sich vom Wind tragen zu lassen.
Es gab allerdings eine Möglichkeit, die sie noch nicht versucht hatte. Sie hatte sich im Strudel der Ereignisse verloren. Es handelte sich darum, die Person, die im Himmel lebt um Hilfe zu bitten, den Herrn. Sie war überzeugt, dass er ein offenes Ohr hat. Eines Morgens kam sie im Eilschritt aus dem Krankenhaus und ging zur nächstgelegenen Kirche.
Nach Atem schnappend durchlief sie die Kirche und kniete sich vor die Füße Christi. Mit ergreifender Intensität begann sie zu beten.
Außergewöhnlich war, während sie ihre Gedanken darlegte, fühlte sie sich endlich besser. Zuversichtlich, dass ihr jemand zuhörte.
Jedoch zeigte sich keine Besserung.
Sie betete eine weitere Woche, betete in der Kirche, betete im Krankenhaus oder abends vor dem Schlafengehen und forderte Alberto auf, dasselbe zu tun. Der Herr wollte sie nicht erhören. Chiara konnte es nicht ertragen, überzeugt wie sie war, dass er ihnen helfen würde. Aber dann begriff sie (warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht!). Vielleicht musste sie eine Gegenleistung geben, um eine solche Gnade zu erhalten.
Somit dachte sie stundenlang darüber nach, was sie dem Gott bieten könne, dem sie so zugetan war. Aber alles war trivial im Vergleich zum Leben ihrer Eltern.
Geldspenden hielt sie für erbärmlich und ihre Gebete nicht ausreichend. Es gab nur eines, was das Leben ihrer Eltern gleichwertig sein konnte: Es handelte sich um nichts anderes als ihr eigenes Leben. Sie ging auch an diesem Tag in die Kirche und kniete sich wie vor wenigen Tagen zu den Füßen Christi nieder.
„Ich schwöre, dass ich dir mein Leben bieten werde“, flüsterte sie mit Nachdruck. „Ich schwöre, dass ich mein Leben verbringen werde, um anderen zu helfen und ein Gewand tragen werde, welches mich an deinen Namen bindet, oh Herr. Aber ich flehe dich an, rette meine Eltern!“
Chiara wusste nicht, ob dieser Schwur reichen würde, ihre Mama und ihren Papa zu retten. Für sie bedeutete es kein wahres Opfer, denn ihr Glaube war stark. Sie hatte aber nichts anderes, was sie ihm bieten konnte: Der Herr forderte keine extremen Leistungen, die den eigenen Tod bedeutet hätten, im Gegenzug für das Leben ihrer Eltern, dem war sie sich sicher.
Sie wusste nicht, ob es Zufall war: ob es die Entscheidung der Glücksgöttin oder aus Gnade Gottes war. Tatsache war, dass sich der Gesundheitszustand von Chiaras Eltern sich wenige Tage nach dem Versprechen, das Chiara dem Herrn gegeben hatte, besserte.
Dadurch war die Situation leichter zu bewältigen. Ihr Herz erwärmte sich und sie war sich gewiss, dass ihr der Herr geholfen hatte.
Es vergingen mehrere Monate bis Mario und Cristina (so hießen die Eltern von Chiara) nach Hause kamen. Als dies geschah, feierte das gesamte Dorf ihr neu gewonnenes Leben. Drei Wochen nach ihrer Rückkehr vereinte Chiara ihre Familie, um ihre große Neuigkeit bekanntzugeben.
„Ich habe beschlossen, nach dem Abitur mein Gelübde abzulegen“, teilte sie mit fröhlicher und zittriger Stimme mit. „Ich werde nicht zu Hause wohnen können. Wenn ich aber Glück habe, schicken sie mich in ein Kloster in der Nähe.“
Alle waren von ihrer plötzlichen Entscheidung überrascht. Sie hatten Mühe, sich Chiaras hübsches Gesicht umrahmt von einem schwarzen und weißen Schleier vorzustellen. Aber ihre Entscheidung bereitete einer religiösen Familie wie der ihren eine Ehre.
„Ich habe mit gewünscht, dich in einem Brautkleid zu sehen“, erwiderte ihre Mutter enttäuscht, stand auf und ging auf sie zu. „Aber die Ehe, für die du dich entschieden hast, ist das reinste und tiefste Bündnis, das man eingehen kann, denn diese Ehe bringt dich unserem Herrn näher.“
Chiaras Eltern wurden in den folgenden Tagen von Bedenken geplagt. Seit jenem Abend dachten sie an nichts anderes als an die plötzliche Entscheidung ihrer Tochter.
„Bist du dir sicher was du tust?“, fragte ihr Vater eine Woche nach der Offenbarung.
„Natürlich. Warum fragst du das, Papa?“
„Deine Entscheidung ist ehrwürdig. Trotzdem ist es eine schwere Entscheidung und du könntest sie eines Tages bereuen. Du bist noch so jung ...“
Chiara lächelte. „Ich bin jung, das stimmt, aber ich weiß, was ich will. Es ist dies, was ich mir wünsche.“
Mario hatte den Blick seiner Tochter geprüft, um etwas zu finden, das ihm vielleicht entgangen war. Aber nichts trübte Chiaras seltsamen und bezaubernden Augen.
„Das Wichtigste ist, dass du dir sicher bist und nach vorne schaust, mein Schatz“, bestätigte er sie in ihrem Vorhaben und streichelte ihre Wange.
„Das bin ich und es gibt nichts Bezaubernderes als die Liebe zu Gott und zu meiner Familie.“
Mario lächelte verlegen. Die Worte seiner unbefangenen Tochter beeindruckten ihn, aber ein Teil von ihm war nicht überzeugt.
‚ Bis du die wahre menschliche Liebe triffst‘, dachte er, ‚ aber dann wird es zu spät sein. Vielleicht hast du einen solch starken Glauben, dass du mit deinem neuen Leben glücklich wirst.‘
Wahrscheinlich hätte er Chiara diese Worte mit auf den Weg geben sollen. Er wusste nicht warum, aber er zog es vor, zu schweigen, um sie nicht zu verärgern.
Für viele Jahre wusste niemand, was Chiara dazu geführt hat, ihr Gelübde abzulegen, zumal ihr fröhlicher Gesichtsausdruck keinen Zweifel zuließ.
Chiara verspürte eine echte Freude für den Weg, den sie entschieden hatte zu nehmen. Ihre Eltern lebten und ihr Bruder war nicht fern von ihr. Ihr neues Leben ermöglichte ihr, sich kulturell zu entwickeln und nahe der „ Person zu sein, die im Himmel lebt“ sowie anderen Menschen zu helfen.
Nichts störte für mehrere Jahre ihr Lebensfrühjahr. Eine glücklichere Person gibt es nicht; ihr Blick war rein wie die Sonne. Allerding ist es an hellen Tagen, wenn ein stürmischer Wind aufsteigt, schwer zu wissen, ob Sonne bevorsteht oder ob Wolken das Wetter ändern.
Für Chiara dauerte es zehn Jahre bis diese Wolke kam und leider kam sie.
cinco
Chiara hatte sich entschieden, eine Nonne zu werden. All diese Erinnerungen erschienen vor ihren Augen, während die anderen Ordensschwestern das Vaterunser ertönen ließen, wie sie es regelmäßig vor dem Mittag- und Abendessen taten.
Obwohl Chiaras Lippen die Worte auswendig zitierten, die sie seit Anbeginn ihres Lebens kannte, fiel es ihrem Geist schwer, sich wie einst zu konzentrieren. Ihre Augen sollten während dem Gebet geschlossen sein, wanderten aber von der Linsensuppe in ihrem Teller zu den liturgischen Gemälden der kargen Wände, als versuchten sie zu entfliehen.
Das Leben ist seltsam und schwer zu verstehen. Es lohnt sich, das Leben in all seinen Facetten auszuleben, obwohl der Mensch machtlos ist gegenüber den Entscheidungen Gottes.
Werden alle menschlichen Entscheidungen vom himmlischen Veto bestimmt?
Sie kannte die Antwort nicht.
ZWEI JAHRE VORHER
dreiundzwanzig Jahre nach Elena
seis
Es war ein warmer Mai-Nachmittag. Chiara wusste nicht, ob es Dienstag oder Mittwoch war. Sie hat sich einen langen Spaziergang am Nachmittag nach der Lektüre eines weiteren liturgischen Textes vorgenommen.
Sie hatte in diesen zehn Jahren im Kloster viel gelesen. Chiara bekam nicht genug, um von den verschiedenen Facetten des Glaubens zu erfahren, die jeder Autor mit verschiedenen Worten und Gedanken beleuchtete. Gewiss las sie aus Neugier hin und wieder nicht-kirchliche Texte zu lesen, wenn sie keiner sah. In den Ordensinstituten durfte das Lesen nicht Quelle der Freude sein. Glücklicherweise unterrichtete sie in den ersten Klassen der katholischen Schule des Dorfes und konnte dadurch ihre Kultur durch Geschichte und Erdkunde variieren, ohne sich schuldig zu fühlen. Sicher hatte die Äbtissin ihr das Unterrichten der Kinder anvertraut, um ihre Leidenschaft für Texte aller Art zu unterstützen.
Zurück zum Tag im Mai: Chiara war auf ihrem Rückweg zum Kloster und bewunderte beim Laufen die Umgebung. Die Wiesen blühten und die Bienen summten von einer Blume zur nächsten und transportierten Pollen. Die Idylle wurde begleitet vom Klang des Baches, der entlang der nicht-asphaltierten Straße verlief. Die Olivenbäume standen mit kleinen gelben und weißen Punkten in voller Blüte, als wären sie aus Schnee. Im November würden die Bauern die Oliven ernten, um sie in leckeres Öl zu verwandeln. Auch die leichten Zikaden fingen an, die Wärme zu spüren, und nutzten die Gelegenheit, zu singen.
Alles war herrlich, idyllisch und voller Düfte, so dass die junge Nonne wahre Lebensfreude verspürte.
In jenen Augenblicken fühlte sich Chiara näher an Gott denn je. Sie war sich sicher, dass all diese Herrlichkeit nicht aus einer stoischen Explosion namens Urknall entstanden sein kann.
Sie hielt inne, um sich über einen Wildrosenstrauch zu beugen und den feinen, verführerischen Duft zu riechen, während ihr das schwarze Kopftuch nach unten glitt.
In diesem Augenblick fühlte sie zum ersten Mal in ihrem Leben etwas, das alle normalen Mädchen Verlegenheit nannten.
„¿ Son perfumadas?“, Chiara sprang bei diesen Worten auf, denn sie hatte nicht erwartet, dass jemand in der Nähe ist.
Sie drehte sich ruckartig um. Ihre Pupillen waren geweitet. Als der vor ihr stehende junge Mann ihr ins Gesicht schaute, wich er einen Schritt zurück. Er war überrascht, dass eine monja (wie man sie in Spanisch nannte) so hübsch sein konnte.
„ Perdoname“, entschuldigte er sich. „ No es fácil mich zu erinnern, que ich auf Italienisch sprechen muss und en Italien bin.“
Chiara starrte ihn an, ohne ein Wort zu sagen.
„ Como no es fácil acuerdarmequenoes höflich, von hinten an eine Person heranzutreten. Disculpame si te erschreckt habe.“
Chiara lächelte, denn sie war über den betont ausländischen Akzent belustigt, den sie noch nicht gehört hatte, da sie selten mit Ausländern zu tun hatte. Sie konnte ein paar Worte Spanisch, Französisch und Deutsch, da diese Kenntnisse für wohltätige Zwecke nützlich sein konnten. Bisher hatte sie aber nicht die Gelegenheit gehabt, ihre Fähigkeiten in die Praxis umzusetzen.
„¿ No me comprendes? Oh, perdoname.“ Der junge Mann schüttelte seinen Kopf und berichtigte sich: „Verstehen Sie mich nicht?“
„Ja, ja, ich verstehe ein bisschen Spanisch“, antwortete sie lächelnd. „Keine Ursache, es ist nicht Ihre Schuld. Ich war nur abgelenkt und habe mich deshalb erschrocken.“
Dieses Mal war es der Fremde, der kein einziges Wort herausbrachte, so sehr war er versunken, die monja zu beobachten.
‚ Sie ist bildhübsch‘, dachte er sich, ‚ wie ist es möglich, dass ein so hermosa Mädchen Nonne geworden ist?‘‘
Das weiße Stoffband, das ihr Gesicht unter dem Kopftuch umrahmte, brachte ihre strahlenden, verschiedenfarbigen, harmonisierenden Augen noch mehr zur Geltung. Die rosigen Lippen waren zu aufreizend, um zu einer Braut Gottes zu gehören.
Ihre sanften Gesichtszüge unterschieden sich stark von denen der anderen Frauen, die er bisher gesehen hatte. Ganz zu schweigen die Nonnen, denen er bisher begegnet ist. Sie kamen ihm stets verbittert vor.
Er nahm eine Haarsträhne wahr, die dem Kopftuch entwischen war. Vom Wind animiert tanzte die Strähne vor ihrem Gesicht hin und her, als wollte sie mitteilen, wie lebhaft und pfiffig Chiaras Seele war.
Verlegen fragte Chiara sich, ob der Fremde ihr langes Schweigen wahrnimmt. Beide waren sie tief in ihren Gedanken versunken.
Sie fühlte sich in Gegenwart von dem jungen, gebräunten Mann fremd und anders. Dieser starrte sie an, als hätte er nie zuvor eine Nonne gesehen. Sie fühlte, wie sich ihre Wangen bei seinem Blick erröteten. Den Augen des Fremden entging ihre Gefühlsregung nicht, wodurch sie noch graziöser wurde.
„ Ahora tengo que ir, ich muss gehen, sorella“, verabschiedete er sich. Chiara lächelte amüsiert, als er das doppelte L wie ein „gl“ aussprach.
„ ¿Por qué te ríes?“, fragte er verwirrt.
Chiara führte sich eine Hand vor ihren Mund, um das Lächeln und das Erröten ihrer Wangen zu verbergen.
„Entschuldigen Sie, ich lache, da es lustig ist, sie Italienisch sprechen zu hören. Es ist amüsant, wie Sie die Wörter aussprechen.“
Er schüttelte belustigt den Kopf.
„ Me vergesse siempre, wie man die Wörter ausspricht. Ich brauche tiempo, um das zu lernen“, er zuckte lässig seine Schultern und lächelte Chiara an, dessen Wangen noch mehr Farbe bekamen.
Für einen Moment hatte Chiara Mühe, diesem lächelnden Blick nicht auszuweichen und vor allem, sich auf ihren Beinen zu halten, die schwach wurden. Sie wollte möglichst schnell dieses Gespräch beenden, denn es führte zu nichts, sondern machte sie nur verlegen.
„Geduld ist die Tugend der Starken“, erwiderte sie.
Obwohl es ihm gefiel, sich mit der hübschen Monja zu unterhalten, beabsichtigte der Fremde seines Weges zu gehen, da er Wichtigeres zu erledigen hatte.
„ Hasta la vista“, verabschiedete er sich und deutete eine Verbeugung an, um seinen Weg zu nehmen.
„Auf Wiedersehen“, flüsterte sie mit trockener Stimme und klemmte die entwichene Haarsträhne unter ihr Kopftuch.
Chiara hatte noch Zeit und setzte sich an den Bach, um vor dem Sonnenuntergang die letzte Sonne zu genießen. Die Sonne war zu dieser Tageszeit nicht mehr unerträglich heiß, enthielt aber noch die Wärme des Tages.
Sie fühlte sich langsam müde und ihre Füße schmerzten vom langen Spaziergang. Sie zog sich ihre schwarzen Slipper und die dünnen, weißen Socken aus. Dann hielt sie ihre schneeweißen Füße in das Wasser des Baches, bei dessen Kontakt ihr Körper entspannte. Sie erfrischte sich ihr Gesicht und ließ ihren Blick wandern.
Sie pausierte zehn Minuten und genoss das Panorama hinter dem Bach: ein Mengsel aus angebauten Feldern und blühenden Olivenbäumen (Brüder von denen, die den Weg säumten, den sie entlang gegangen war). Sie fühlte sich außerordentlich glücklich, glücklicher als sie jemals gewesen ist.
Sie betrachtete den Himmel und lächelte: Das Leben und die Welt waren wunderschön! Wenn es nicht das Paradies wäre, das die guten Menschen empfangen werden, täte es ihr Leid, die Welt früher oder später zu verlassen.
Trotz ihres heiteren Gemüts verspürte sie eine eigenartige Müdigkeit, die ihr bis ins Knochenmark ging, unbestimmt wie eine kleine Wolke am stürmischen Himmel.
Sie schaute auf die Uhr: Du meine Güte! Es war halb Fünf. Sie musste sich beeilen, um zum Kloster zu gelangen, sonst würde sie zu spät zum Abendessen kommen. Sie musste ihren Pflichten in der Kantine an Hilfsbedürftige und Personen nachgehen, die im Kloster halfen.
Rasch zog sie sich Socken und Slipper an und rannte zum Kloster. Mit einer Hand hielt sie das Kopftuch fest, um zu verhindern, dass es herunter rutschte.
Chiara gab das Bild einer schwarzen, sich fortbewegenden Gestalt ab. Ihr Kopftuch flatterte hinter ihren Schultern, unentschlossen, ob es auf ihrem Kopf bleiben oder wegrutschen sollte, um die geschmeidigen Haare zu entblößen, die sich unter dem Stoff verbargen.
Unschuldig wie ein Kind lief sie zart wie ein Schmetterling, der seine Flügel nicht vollständig ausgebreitet hatte, unwissend, was ihr die nahe Zukunft bringen würde.
* * *
Als sie die kleine Kirche am Kloster betrat, blieb ihr das Herz stehen.
„Dies ist kein Hotel: Ihr könnt für eine begrenzte Zeit in den Wohnstätten für Hilfsbedürftige bleiben, solange Ihr in der Gemeinschaft integriert seid, wie es sich für jeden Christen gehört“, die Stimme der Äbtissin war streng und wie immer mächtig und entschlossen. „Es gehört dazu, während ihrem Aufenthalt bei uns, im Kloster zu helfen. Da Sie ein Mann sind, werden Sie bei der Feldarbeit helfen.“
„ Muchas gracias, sorella.“ Dieses Mal war seine Aussprache korrekt. „Ich werde alles tun, um Ihrer hospitalidad zu danken.“
„Das Haus des Herrn ist das Haus aller Christen“, beteuerte die Äbtissin feierlich. „Schwester Costanza wird Sie jetzt zu Ihrem Wohnbereich bringen. Das Abendessen nehmen wir abends um halb sieben ein und morgens beginnen wir um fünf Uhr mit der Arbeit.“
Der Gesichtsausdruck des jungen Spaniers fuhr zusammen als er diese Zeiten hörte, was der Äbtissin nicht entging. Obwohl sie die Präsenz eines attraktiven jungen Mannes in ihrem Kloster nicht gern sah, konnte sie einem Christen die Hilfe nicht verwehren.
„Wenn es Ihnen nicht gefällt, früh aufzustehen: Dort ist die Tür!“, sie deutete mit dem Kopf zur Kirchentür und hoffte für einen Augenblick, dass er gehen würde. „Andernfalls können Sie bleiben.“
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
„Gracias señora, die Zeiten sind in Ordnung, ich danke Ihnen vielmals.“
„Äbtissin“, korrigierte sie ihn, „nicht Signora.“
Er stimmte mit dem Kopf zu.
„Da kommt eine weitere unserer Ordensschwestern“, kommentierte die Oberin als sie Chiara an der Kirchentür bemerkte. „Komm Chiara, ich stelle dir einen neuen Gast vor. Er wird sich für einige Zeit bei uns aufhalten und uns bei der Arbeit helfen.“
Chiara bemühte sich, ruhig zu bleiben und vor allem, ihre erneut karmesinroten Wangen unter Kontrolle zu bekommen. Diese Reaktion geschah ihr heute zu oft.
Sie machte ein paar, zaghafte Schritte, ging dann zielstrebiger zur Äbtissin und dem Fremden, der sich in diesem Moment zu ihr drehte.
Als er sie sah, hob der junge Mann eine Augenbraue. Er war überrascht, sie nach so kurzer Zeit wiederzusehen. Chiara bemerkte seinen Gesichtsausdruck sofort.
„Herr ... Wie ist ihr Name?“, fragte die Äbtissin und holte beide in die Gegenwart zurück.
„José Velasco, señora Äbtissin.“
Für einen Moment runzelte die Oberin die Stirn, versteifte den Rücken, holte tief Luft und beherrschte sich.
„Nur Äbtissin, habe ich gesagt“, verärgert schaute sie zum Himmel. „Also Herr ... José, ich stelle Ihnen Schwester Chiara vor, eine der frommsten Nonnen dieses Klosters. Chiara“, sie drehte sich zu ihr, „Herr José ist soeben aus Spanien gekommen, wie du von seiner Aussprache erkennen kannst. Jemand muss ihm bei seinem Italienisch helfen. Da du dich auf das Unterrichten spezialisiert hast, möchte ich, dass du neben deinen humanitären Aufgaben eine Stunde am Tag einplanst, ihm unsere Sprache korrekt beizubringen. Wenn ich mich nicht irre, kannst du Spanisch, oder nicht?“
„Ja, Oberin.“
„Perfekt, somit hätten wir das geregelt.“
„ Encantado, Schwester Chiara“, stellte sich José vor und verbeugte sich erneut, wie schon vor knapp einer Stunde.
„Ganz meinerseits“, erwiderte sie und verbeugte ihren Kopf.
„In Ordnung, Chiara“, beendete die Äbtissin das Gespräch bevor sie sich verabschiedete. „Wie du bereits aus der Aussprache vom Wort ‚Schwester‘ erkennen kannst, wirst du mit diesem Herren ein wenig Arbeit haben.“
Chiara konnte nichts erwidern. Sie beschränkte sich auf ein zustimmendes Nicken. Sie wusste nur zu gut, dass der Fremde absichtlich die Wörter falsch aussprach, auf die sie ihn zuvor bereits hingewiesen hatte.
„Herr Velasco, folgen sie bitte Schwester Costanza“ und damit ging die Äbtissin in die Sakristei. José setzte sich mit einem Lächeln den Rucksack auf den Rücken und folgte einer monja mit völlig anderem Aussehen als jene, der er auf dem Feld begegnet war.
Bevor er die Kirche verließ, konnte er nicht anders, drehte sich um und fühlte sein Herz springen als er Chiara sah. So hieß sie also, diese hübsche Nonne, welche regungslos dastand.
„Tschüs“, verabschiedete er sich mit heiterer Stimme.
„Tschüs“, antwortete sie und winkte schwach mit der Hand.
Schwester Costanza war scharfsinnig und still. Die wenigen Male, die sie ein Wort sprach, machte sie kein einziges Kompliment, aber scharfsinnig war sie.
Sie bemerkte etwas Ungewöhnliches im Verhalten von Chiara, der hübschen Schwester, wie der Spanier José Velasco alle sie nennen hörte. Ihr war nicht das leichte Zusammenfahren ihrer Schultern entgangen, als er sich zur Tür zurückdrehte.
„ Tschüs“, seit wann verabschieden sich zwei Fremde mit „Tschüs“? Hinzu kommt dieser liebliche Ton voller Andeutungen ...
Sie hatte sofort verstanden, dass sie sich nicht zum ersten Mal begegnet sind. Aber warum hatten sie vorgetäuscht, sich zum ersten Mal zu begegnen?
„Waren sie bereits in Italien, Herr Velasco?“, fragte sie beim Laufen, ohne sich umzudrehen.
„Nein, nunca... nie“, log José.
„Sie sprechen aber bereits gut Italienisch.“
‚ ¿Es un interrogatorio?‘ und fühlte sich ausgefragt.
„Das habe ich im Sprachkurs de los años gelernt , señora. Ich habe viele Italiener gennengelernt .“
‚ Señora‘ - Es war nicht nur unhöflich, sie derart unpassend für eine Nonne anzureden, zudem hatte er sie mit signora anstatt signorina angesprochen. Im Grunde hatten sie das gleiche Alter.
„ Das gilt nicht nur für die Äbtissin.“
„Was?“
„ Sie sollen mich nicht señora nennen, sondern Schwester Costanza.“
José antwortete nicht. Er wusste, wie auch immer er geantwortet hätte, seine Stimme hätte seine Abneigung durchscheinen lassen, die er mit einem Mal für diese neugierige und unbehagliche Monja verspürte . Beim Laufen kratzte er sich den Hals und blickte nach oben. Wie sehr hätte sich gewünscht, wenn Chiara ( Ordensschwester Chiara, er erinnerte sich an ihr Gelübde und korrigierte sich) ihn anstelle von Schwester Costanza begleitet hätte.
„Hier sind wir“, erklärte sie und hielt vor der Tür der Wohnstätte für Arbeiter, die nahe der Klostermauer gelegen war, die das Kloster schützte. „Die Äbtissin hat sie über den Tagesablauf des Klosters informiert und somit verabschiede ich mich von Ihnen.“
Steif nickte sie mit dem Kopf und drehte sich um.
„ Gracias ... Schwester Costanza“, bedankte sich José und betrat die Schwelle zum Gebäude, dabei gelang es ihm nicht, seine gereizte Stimme zu unterdrücken.
* * *
Chiara wusch sich die Hände, ging in die Kantine und nahm ihren Platz hinter der Theke ein, um die Tischgäste zu bedienen.
Als die Personen mit ihrem Tablett in der Hand erschienen, lud ihnen Chiara kleine Mengen der bescheidenen Gerichte auf, die das Menü des Abends umfassten.
Auch José kam an die Reihe, setzte das Tablett sanft vor ihr ab und wartete bis sie seinen Teller gefüllt hatte.
„ Gracias“, bedankte er sich höflich, aber Chiara antwortete ihm ausschließlich mit einem Lächeln.
José lächelte ihr zurück und in diesem Augenblick entstand zwischen den beiden ein gewisses, geheimes Verständnis für einander, das sie nicht erwartet hatten.
Die Äbtissin beobachtete ihn aus der Ferne und behielt alles im Auge. Sofort bemerkte sie den unruhigen Gesichtsausdruck in Chiaras Gesicht, sowie das offensichtliche Interesse von José. Sie besänftigte sich, dass kein Grund zur Unruhe bestände.
Noch nicht.
* * *
Nach dem Essen stellte José den Teller auf den Wagen für das schmutzige Geschirr und ging auf sein Zimmer, das er mit zwei Obdachlosen teilte.
Er ließ sich auf das Bett fallen. Mit den Händen im Nacken blickte er in den Sternenhimmel, den er durch ein kleines Fenster wie ein Bild in der Steinmauern über sich sah.
Gewiss war es unmoralisch, ein Bett zu belegen, das für Personen bestimmt war, die obdachlos sind und keine Arbeit haben. Er hatte aber seine Gründe und machte seine Reise für ein wichtiges Vorhaben. Es gab somit keinen Anlass für Gewissensbisse.
Selbstverständlich konnte er den Ordensschwestern nicht anvertrauen, dass wenn er gewollt hätte, es für ihn leicht gewesen wäre, eine Arbeit an Bord eines Schiffes zu finden. Seit mehr als zehn Jahren ist er Seemann gewesen.
‚ Nein ...‘, dachte er, ‚ wenn die das erfahren, würden sie mich wegschicken und ich könnte mit meinen Nachforschungen nicht weiterkommen.‘
Nicht schlecht! Er kam bei seinem Anliegen weiter und es war richtig zu bleiben. Im Grunde war es nicht schlecht, eine Weile auf diesem friedvollen Land zu verbringen. Er hatte viele Jahre auf dem Meer und in den Häfen verbracht.
„Es ist seltsam, nicht wahr?“
José drehte sich um und sah einen Mann um die Dreißig. Dieser saß auf der unteren Matratze seines Etagenbettes und schaute ihn wohlwollend an.
„Entschuldige bitte, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich bin Jacopo“, er stand auf und reichte ihm die Hand.
„José Velasco“, stellte er sich vor, während sich Jacopo erneut auf die Matratze setzte.
José betrachtete zuerst ihn, dann den Mann auf der oberen Matratze des Etagenbettes, welcher offenbar tief schlief. Er überlegte einen Augenblick, ob er das Gespräch fortsetzen sollte, das den anderen Gast hätte stören können.
Zumindest galt auf dem Schiff: Wenn ein Kollege schlief, durften die anderen im Zimmer keinen Lärm machen. Es gab andere Möglichkeiten für ausgelassene Gespräche.
„Ah, mach dir keine Sorgen. Wenn Lorenzo schläft, hört er nichts, nicht einmal eine verstimmte Musikband.“
„ Was empfindest du für seltsam?“, fragte José, um auf den Beginn des Gesprächs zu antworten.
„Hier zu schlafen und zu leben. Am Anfang ist es immer seltsam.“
„Ja, das stimmt. Dime, wie sind die monjas? Entschuldige, die Schwestern?“
„Was meinst du damit: „Wie sie sind?“, fragte Jacopo mit einem amüsierten Ausdruck, den José sofort bemerkte.
„Vom Charakter obviamente!“
Jacopo kicherte. „Ja! War ein Scherz! Beruhige dich. Sie sind nicht besonders ... wie sagt man auf Spanisch? Bonita? Richtig?“
„Ja, es heißt bonita, aber ich bevorzuge hermosa.“
„ Hermosa“, wiederholte er. „Sie sind nett und hilfsbereit. Nicht alle, um genau zu sein. Man kann sie sicher nicht als hübsch definieren!“
José wollte ihm widersprechen, aber er dachte, es wäre unpassend. Es war Jacopo, der sich korrigierte.
„Obwohl manche dieser Nonnen, genau genommen wenige, außerordentlich hübsch sind und ihr Gelübde bedauert. Aber wir sind nicht gekommen, um unsere Traumfrau zu finden, sondern aus Not und die Ordensschwestern können hilfsbereit und nett zu uns Armen sein. Aber wie ich dir sagte, ist es eigenartig hier im Kloster zu leben, zumindest am Anfang.“
„Ja, extraño ...“
José Velasco in einem Kloster. Er musste beinah lachen.
Seine Freunde hätten sich bis zur Ratlosigkeit lustig über ihn gemacht. Sie wären überzeugt gewesen, dass er sich amüsierte, in einen Ort des Gebets Chaos zu bringen. Um ehrlich zu sein, hatte er keine Lust, mit der Unerfahrenheit und Schüchternheit jener Frauen zu spielen, die dem Zölibat bestimmt sind. Er fühlte sich aber nicht unwohl, wie Jacopo behauptet hat.
Es war eigenartig, das stimmt, aber nicht auf diese Art eigenartig.
„Gute Nacht!“, sagte der Mitbewohner als er sein Schweigen vernahm.
„ Buenas noches!“, antwortete José, dessen Gedanken woanders waren.
„ Sie sind nett und hilfsbereit“, hatte Jacopo gesagt, „nicht alle, um ehrlich zu sein.“
Hermosa.
Sein Verstand rief erneut dieses unpassende Adjektiv auf, während er an Nonnen dachte, vor allem an eine Nonne.
Ja, sie war die Netteste von allen. Ihr einfaches Lächeln zeigte wie liebenswert und entzückend sie ist, sowie hermosa und bildhübsch.
Er schüttelte den Kopf, um den dummen Gedanken zu vertreiben und drehte sich zur Wand, um zu schlafen.
Während José einschlief und an das Gesicht von Chiara dachte, war die junge Ordensschwester nach dem Abendgebet in der Gruppe in ihr Zimmer zurückgekehrt.
Sie zog sich ihr Nonnengewand aus und ein züchtiges Nachthemd an. Dann löste sie den Zopf, der ihre schulterlangen Haare zusammenband und legte sich in ihr weißes Bett.
Sie schaute an die steinerne, kahle Decke und dachte, wie sonderbar dieser Tag gewesen war, obwohl nichts Unübliches geschehen war. Warum fühlte sie sich derart emotionsvoll?
‚ Wegen was?‘, fragte sich Chiara. ‚ Im Grunde haben ich die gleichen Dinge wie alle anderen Tage auch getan. Nichts mehr und nichts weniger.‘
Es musste der Frühling sein. Sie liebte diese Saison und fühlte sich immer ausgezeichnet. Dies erklärt sicher diese seltsame Euphorie.
„ ¿Son perfumadas?”, die Stimme des jungen Spaniers hallte noch im Kopf von Chiara und ertappte sie unvorbereitet bei der Intensität dieser Erinnerung.
Chiara stand abrupt auf, ging zum kleinen Spiegel an der Wand und betrachtete ihr Gesicht, das ihr pochte und glühte.
‚ Sicherlich habe ich Fieber‘, dachte sie sich. Sie nahm den Krug, der auf der Kommode unter dem Spiegel stand. Am Waschbecken befeuchtete sie ihre Hände und legte sie auf ihr Gesicht. Sie waren angenehm und erfrischend. Ihre Wangen nahmen allmählich ihre natürliche Farbe an.
Sie ging zurück ins Bett, drehte sich auf die Seite und rollte sich unter die dünne Decke. Mit großen Augen starrte sie in die Dunkelheit des Zimmers und betrachtete jeden Schatten.
An diesem Abend atmete Chiara zum ersten Mal mit neuer Zuversicht und andersartig, was für die junge Nonne noch schwer zu verstehen war.
siete
„Chiara, es ist spät!“
„O, du meine Güte!“ sagte sie erschrocken als sie aufwachte.
„Wie spät ist es, Claudia?“
„Es ist kurz vor sechs!“ Die dicke Holztür dämpfte die Stimme ihrer Freundin, die hektischer als gewöhnlich war.
„Schläfst du noch? Beeile dich, sie warten mit den Morgengebeten auf uns!“
Chiara stieg eilig aus dem Bett. Sie hastete zum kleinen Ankleideraum, der mit dem Zimmer verbunden war und in dem sich das Nötige befand, um sich zu waschen und zu kämmen. Schließlich beeilte sie sich, ihr Nonnengewand anzuziehen.
Sie eilte hinaus und steuerte auf die angrenzende Kapelle zu. Wieder hielt sie sich wie gewohnt mit der Hand an den Kopf, damit das Kopftuch beim Rennen nicht wegrutschte.
Zum Glück bemerkte keine Ordensschwester ihre Beinahe-Verspätung und das Murmeln der Litaneien dämpfte das keuchende Atmen der jungen Nonne.
An diesem Morgen bemerkte Chiara ihr Nicht-Beten: Zum ersten Mal waren ihre Gedanken woanders, während sie die liturgischen Worte auswendig vor sich hin murmelte. Zum Vater-Unser und zum Ave Maria fantasierten die Gedanken von Chiara über das, was sie an diesem Tag machen wird.
Zuerst wird sie mit Claudia hinter die Kirche gehen, um den Gemüsegarten zu bearbeiten (die größeren Felder bewirtschafteten die Helfer). Anschließend würde sie in der Schule eine Stunde Geschichte und Erdkunde in zwei Klassen unterrichten.
Anschließend wird zum Angelusgebet geläutet: Danach wird sie in die Kantine gehen, um den Schülern, Armen und Arbeitern das Mittagessen zu servieren. Im Anschluss wird sie mit den anderen Ordensschwestern essen und sich mit ihnen zum Gebet vereinen.
Am Nachmittag wird sie ins Waisenhaus des Dorfes gehen, um den anderen Nonnen zu helfen und dann ... Das war es, was sie an diesem Mai-Morgen neugierig machte.
Nach dem Waisenhaus, von vier bis fünf Uhr, würde sie sich, wie es ihr die Äbtissin aufgetragen hatte, zur südlichen Bibliothek begeben, um José Velasco in Italienisch zu unterrichten.
Chiara war froh über diese Aufgabe: Es ist schön, Menschen in Not zu helfen, wiederholte sie sich. Es müsse schrecklich sein, sich in einem neuen Land zu befinden, allein und vor allem ohne die Sprache zu beherrschen. Um ehrlich zu sein, benötigte dieser junge Mann im Italienischen nicht viel Hilfe.
‚ Ja, aus diesem Grund habe ich mich entschieden, einen religiösen Weg zu gehen: um anderen zu helfen und das bereitet mir Freude.‘
Irgendetwas in ihr sagte ihr aber, dass die Freude in diesem Fall nicht nur aus Nächstenliebe sondern aus persönlicher Vorliebe bestand.
Wie dem auch sei, eine Nonne durfte nicht an das Eigeninteresse denken.
An diesem Morgen war es für José schwieriger als gewöhnlich, aus dem Bett aufzustehen.
Nicht, dass er es nicht gewohnt war, früh aufzustehen: Auf den Schiffen war er anstrengende Schichten gewohnt. Er hatte gehofft, sich während der Reise auszuruhen, stattdessen musste er hier arbeiten.
Er stand somit widerwillig auf und nach der Dusche ging er zur Kantine, um zu frühstücken und suchte vergebens den Blick der freundlichen Schwester Chiara. Offenbar gehörte es nicht zu ihren Aufgaben, den Armen das Frühstück zu servieren. Aber das machte nichts, er würde sie am Nachmittag sehen.
Es freute ihn, sie zu treffen. Sie war die Sympathischste sowie Schönste im Kloster. Es reizte ihn, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen. Es machte aber keinen Sinn: Sie war eine Nonne. No-n-ne.
Mon-ja. No-n-ne.
Nach dem Frühstück folgte er den anderen Arbeitern und arbeitete auf den Feldern im kirchlichen Eigentum im Tausch gegen eine Mahlzeit und ein Dach über dem Kopf. Den Boden zu bearbeiten war anstrengend. Es konnte aber auch entspannend sein und Spannungen abbauen. Dabei macht er sich Gedanken zu den Nachforschungen, die er durchführen musste, und wie sein Vorgehen aussah. Da er nahe am Ziel war, nahm er sich vor, keine Fehler zu machen.
Um zwölf Uhr wurde zum Angelusgebet geläutet und er setzte sich mit seinen Gefährten in den Schatten einiger Bäume. Sie aßen das von einer Gruppe Frauen gebrachte Mittagessen.
José war ein charmanter, junger Mann und befand sich somit im Rampenlicht. Die Frauen betrachteten ihn mit hingebungsvollen Augen, fasziniert von diesen hübschen, jungen, gebräunten Mann, dieses Detail machte ihn noch attraktiver.
Er fand sie hingegen berechenbar, langweilig und einfach. José war sich seiner Attraktivität bewusst, die er auf viele Frauen hatte. Er versuchte diese Eigenschaft mit einem kumpelhaften Lächeln zu maskieren, um sie sich zu seinem Gunsten zu bewahren, falls er sie später für einen Gefallen brauchte.
„Mein lieber Mann, bist du der neue Liebesgott?“, machte sich Jacopo über ihn lustig. Er setzte sich neben ihn, während sich die kleine Frauengruppe entfernte und sich des Öfteren eine Frau umdrehte, um nach José zu schielen.
„ ¿Entonces ?“, fragte er, während er auf einem Stück Brot kaute.
„Sprich Italienisch, mein Freund, ich kann dich nicht verstehen.“
„I ch kann nicht bien Italienisch, Jacopo, por eso habe ich Unterricht!“
„Du kannst die Ordensschwestern täuschen, mich nicht. Gib zu, dass der Unterricht eine Ausrede ist.“
Der Spanier runzelte für einen Moment die Stirn und fürchtete, entdeckt zu sein.
„ Na komm, gib es zu!“ Jacopo füllte ein Glas Wein und reichte es ihm. „Du gehst zum Unterricht, um eine Stunde Arbeit zu schinden! Wenn ich es richtig verstanden habe, ist es Schönauge, die dich unterrichtet, das muss angenehm sein.“
Die Schultern von José fielen herab und entspannten sich. Jacopo hatte ihn nicht hinterschaut.
„ ¿Ojos lindos? “, fragte er.
„Schwester Chiara, die Hübsche. Viele nennen sie so, weil sie so eigenartige Augen hat und ebenso bezaubernde.“
Wunderschöne , wollte José erwidern, schwieg aber.
„ Tú eres ein kluger Kerl, Jacopo. Pero yo realmente tengo que ...“ , er hielt inne, um den Satz zu übersetzen, oder tat zumindest so. „ Ich brauche algunas Unterricht.“
„Vielleicht ist es so“, schloss Jacopo und zuckte gedankenlos die Schultern. „Was hast du mich gefragt als du sagtest: ‚ Entonces‘ ?“
„Ich sagte: ‚Ja und?‘ Warum sollte ich der neue Dios del Amor sein? “
„Sei nicht bescheiden, José!“, erwiderte er und nahm sich ein Stück Käse. „Die italienischen Frauen lieben die Spanier und Ausländer. Sag mir nicht, dass du das nicht bemerkt hast“, er wies auf die vielen Speisen vor José, welcher amüsiert kicherte. „Genau, du hast es bemerkt und reitest auf dieser Welle, mein Freund. Du machst es richtig. Ich stimme dir zu. Welche hast du im Auge?“
„Was?“
„Mit welcher wirst du es versuchen, fragte ich.“
„Du meinst, ob ich eine Frau cortejar werde?“
„Umwerben, anbaggern oder wie du es nennen magst.“
José lächelte. „Nein, im Moment habe ich no tiempo für eine Beziehung.“
„Wer redet denn von einem ernsthaften Verhätnis? Ich sprach von einer Gelegenheitsbeziehung, ohne Verpflichtungen noch Probleme.“
José schüttelte belustigt den Kopf.
„Jacopo, hast du vergessen, dass wir in einem convento wohnen?“
„Technisch gesehen, leben wir außerhalb der Mauern des Klosters.“
Mit dieser Klarstellung des übermütigen Italieners fingen die beiden jungen Männer an, vergnügt zu lachen.
„In Spanien sagen wir tengo que llevarte la corriente , ich muss dir Recht geben“, erklärte José nachdem er einen Schluck Wein verköstigt hatte. „Jacopo, abgesehen vom Kloster, tú sabes que eine Gelegenheitsbeziehung, wie wie du sie nennst, zu problemas führen kann: Frauen sind immer eine Quelle für Probleme. Es ist besser, wenn ich mich für eine Weile vom sexo débil entfernt halte .“
„Gesegnet seist du, der es schafft“, schloss Jacopo das Gespräch. Jacopo richtete sich auf, um zu einem Mädchen zu gehen, das ihm in diesem Moment von weitem gewinkt hatte.
Alleine zurückgeblieben, leerte José sein Weinglas und aß weiter, dann legte er sich hin, um sich auszuruhen. Die Sonne schien warm, aber angenehm warm. Die Luft war kühl und die Bienen flogen von Blume zu Blume, um Pollen zu sammeln und zu verteilen. Sie füllten die Luft mit einem frühlingshaften Summen. Das Land war auf jeden Fall anders als das Meer. Er hatte beinahe vergessen, dass es wertvolle Gaben barg, welche die Menschen kaum wahrnahmen.
Er dachte eine Zeit lang an die Natur und die Welt. Schließlich wanderten seine Gedanken einen Schritt zurück zu den Worten von Jacopo über die Frauen, die ihn vergötterten.
Ja, er hatte keine Zeit für eine Beziehung. Eine wenig erzwungene Keuschheit zu überleben, war sicher keine Tragödie. Dadurch würde er sich von lästigen Problemen fern halten, die in entzückenden Röcken gekleidet waren. Sie entstanden immer dann, wenn er sich in die Arme von einer Pandemia und Eros warf.
Vielleicht war er aus diesem Grund froh, mit dem Mädchen mit den bezaubernden Augen die Zeit zu verbringen. Obwohl sie nett und hermosa war, blieb sie stets eine Nonne und würde sich als solche nicht in ihn vergucken.
Genauso wie er sich nicht in eine Frau wie sie verliebt.
Wie behaglich sind die Zuverlässigkeiten des Lebens: Sie verleihen dir Stärke und Sicherheit - zumindest für einen Augenblick.
* * *
José sah auf die Uhr: Es war drei Uhr vierzig nachmittags, so dass er sich den Rucksack aufsetzte und in Richtung Kloster ging, wo er den Italienischunterricht besuchen würde.
Er mochte Sprachen, um in der Lage zu sein, mit anderen Menschen mit den richtigen Worten zu kommunizieren. Jemand anderes an seiner Stelle hätte es als verschwendete Zeit betrachtet, ihm hingegen gefiel es. Obwohl er ein gutes italienisches Basiswissen hatte (ein Detail, das der verdrießlichen Nonne nicht entgangen war), wollte er sich das Verbessern seiner Aussprache und die kostenlose Spracherweiterung nicht entgehen lassen.
Sobald er in den Hof des Klosters kam, wurde ihm bewusst, dass er nicht wusste, wo die Bibliothek war. Das Institut war ausgesprochen groß. Für jemanden wie ihm, der wenig gläubig war und im Grunde nie in einem Kloster gewesen war, glich es einem Labyrinth.
Er ging nach links, nach rechts und hielt eine Nonne an, um nach der Lage des Raums zu fragen. In jenem Moment zeigte ihm jemand anderes unbeabsichtigt den Weg.
Ohne seine Gegenwart zu bemerken, sah er Chiara aus einer Tür herauskommen, während sie sich ein paar große Bücher an die Brust gedrückt hielt. Er lief ihr hinterher, als sie nach rechts bog, wahrscheinlich in die Bibliothek.
Er hielt ein Abstand, da er nicht wollte, dass sie sich nachgeschlichen fühlte. Schließlich folgte er ihrem Schatten und beobachtete sie auf diese Weise aus der Ferne.
Sie bewegte sich ausgesprochen elegant trotz ihres Nonnengewands. Es war fesselnd, ihrer Unschuld als Nonne zuzusehen, im völligen Widerspruch zu ihrer verführerischen Weiblichkeit.
Unterdessen beobachtete nicht weit entfernt Schwester Costanza José, wie er seinerseits Chiara beobachte. Sie rümpfte die Nase und war empört. Sie war überzeugt, dass ein Kloster nicht von einem verführerischen Mann besucht werden sollte (welch gotteslästerliches Adjektiv), wie es jener Spanier war.
José fühlte sich auf einmal eigenartig, ohne den Grund zu kennen. A ls er in das Zimmer voller Bücher kam, sah er Chiara an einem Tisch in der Mitte des Raumes sitzen. Für ein paar Sekunden hielt er den Atem an und das verärgerte ihn. Verlegen schüttelte er den Kopf und näherte sich der Nonne, die in den Büchern blätterte.
„ Buenas tardes, señorita “ , grüßte er als er sich ihr gegenüber setzte. Kaum hörte sie seine Worte, lächelte sie.
Donnerwetter, war Chiara hübsch!
„Zuallererst ist es nicht richtig, eine Nonne señorita zu nennen.“ Ihre Stimme war weich, nicht beleidigt und völlig anders als jene von Schwester Costanza oder der Oberin. „Reden Sie nicht die anderen Ordensschwestern damit an oder sie könnten sie verärgern!“
Chiaras Gesicht zeigte einen Ausdruck der Freude bei dem Gedanken an die Äbtissin, hätte sie gehört, dass José die anderen Nonnen des Klosters señorita nannte. Ihr missfiel señora , geschweige denn diese Art von Koseform.
José ahnte sofort, was Chiaras lebhaften Gedanken waren und lächelte seinerseits.
„ No puedo imaginar was podría decir la Abadesa sime hört ...“, berichtigte er sich, „wenn sie mir hören ...“
„Wenn sie mich hören würde“, half ihm Chiara ohne ihren heiteren Gesichtsausdruck zu verlieren.
„Wenn sie mich hören würde“, wiederholte er.
José betrachtete sie für ein paar Sekunden und Chiara hielt mit Mühe seinem Blick stand. „José ist also Ihr Name, richtig? Verstehen Sie mich, wenn ich Italienisch spreche?“ Der Ton von Chiara ist vertrauter geworden, bereit für den Unterricht, zu dem sie sich vorbereitet hatte.
„Ja, compriendo bien Italienisch, pero beim Sprechen tue ich mich schwer, sin die beiden Sprachen mezclar.“ Er hob die Schultern, als wenn er es nicht verhindern könnte, das Spanische mit dem Italienischen zu mischen.
„Dafür sind wir hier“, begann Chiara, öffnete ein Buch und legte es ihrem ausländischen Schüler hin.
Chiara begann mit Hilfe des Buches und Josés schnellen Auffassungsgabe, Grammatik zu erklären. Die erste Stunde sollte José helfen, seine Sprachkenntnisse schnell zu verbessern, zumal sich die beiden Sprachen ähnelten.
Chiara war erstaunt: Sie wusste nicht, dass José ein Seemann war und im Laufe seiner Karriere mit Menschen verschiedener Sprachen zu tun hatte, einschließlich Italienern. Sie konnte somit nicht wissen, dass sein Geist für seine Muttersprache des Bella Italia empfänglich war. Sie dachte, er wäre ein einfacher Mann, der allein und hilflos in einem neuen Land Arbeit suchte und dass er Hilfe benötigte.
Zweifellos hatte José noch viel zu lernen. Wahr ist, dass er sich in einem fremden Land befand, allerdings war es nicht Arbeit, die er suchte.
„ Cuántos bist du alt?“, fragte er am Ende des Unterrichts.
„Es heißt Wie alt bist du?“, korrigierte ihn Chiara.
„Also ... Wie alt bist du? Ist das r
„Richtig. Ich bin 28 Jahre alt und Sie Herr Velasco?“
José runzelte die Stirn.
„Kannst du mich nicht tutearme?“
Chiara erglühte. Sie wusste selbst nicht, warum sie ihn beharrlich mit ‚Sie‘ anredete. Seine nussbraunen Augen musterten sie fragend, was sie noch mehr verwirrte.
Sie war überzeugt davon, dass Gottes Hand herrliche Dinge schuf und der Teufel Chaos in die Welt brachte. Nie zuvor hatte sie jemand Attraktiveres gesehen.
Die Welt war vielfältig: Wenn Gott einer Person keine Anmut schenkte, kompensiert Güte und macht jede Person ungeachtet des Aussehens attraktiv. Obwohl Chiara wenig die Facetten der Außenwelt kannte, wusste sie, dass hässliche (moralisch böse) Personen existierten und zum Bösen gehörten.
Aber José konnte nicht zum Bösen gehören: Er war schön wie die Sonne. Seine gebräunte Haut und dunkelbraunen Haare wie Edelholz waren eindrucksvoll. Erneut schoss ihr die Röte in die Wangen als sie seine Augen und sein Lächeln anstarrte.
Gott hatte bei der Geburt von José Velasco beschlossen, ihn mit aller Ausstrahlungskraft der Welt zu versehen, aber auch mit Güte. Nichts hielt sie davon ab, ihm zu vertrauen.
Naivität ist begehrenswert - und gefährlich!
„Selbstverständlich kann ich Sie duzen, wenn Sie dies wünschen. Ich bin es allerdings nicht gewohnt“, erwiderte sie.
„ Entonces Chiara, gib mir das Du.“
„Um genau zu sein, heißt es ‚duzen‘.“
„Wie alt bist du José?“
„Zwei-und-drei-ßig“ Er sprach jede Silbe separat aus. „ ¿Es treinta y dos?“
„Richtig. Und was machst du in Italien? Suchst du Arbeit oder aus einem anderen Grund?“
Chiara spielte auf nichts Bestimmtes an, es war reine Neugier; eine andere Neugier als die von Ordensschwester Costanza. José war beunruhigt und hatte Angst, dass sie etwas ahnte. Sie war klug, das sah er ihr an.
Doch das konnte nicht sein, sie konnte nichts ahnen, denn sie kannten sich zu kurz.
„Ich wollte mein Lebben ändern.“ Sein ernster Gesichtsausdruck ließ Chiara erschaudern. Sie wusste nicht warum, erkannte in Josés Antwort aber Groll.
José vermochte diese liebenswerte Nonne nicht zu belügen, was ihm nur durch Schweigen gelang.
Es war wahr: Er wollte sein Leben auch ändern. Zusammen mit dem ursprünglichen Ziel, das ihn veranlasst hat, nach Italien zurück zu kehren, hatte er Granada mit der Absicht verlassen, seine Vergangenheit zu vergessen.
José schaute ihr in die Augen. Ob er mit ihr befreundet sein, ihr die Wahrheit offenbaren und sie um Hilfe fragen konnte? Es war noch zu früh, um das herauszufinden.
Letztendlich war sie eine Nonne.
Gentile
Die Familie Gentile war nicht besonders freundlich in ihrem Verhalten oder zumindest waren es nicht alle Familienmitglieder.
Die Ehefrau Carla neigte dazu, sich der Arroganz des Ehemanns zu fügen. Dies hielt sie nicht davon ab, dieses und jenes zu kritisieren, einen Beinamen für ihn zu finden oder den Überschwang der Tochter zu verurteilen.
„ Elena, das solltest du nicht tun!“, schimpfte sie mit einer Ohrfeige, die als Kind einen Käfig mit Schnecken öffnete, um ihnen ihre Freiheit zurück zu geben.“
„ Elena, das Kleid ist viel zu kurz!“, schalt sie als Elena mit dreizehn Jahren ein knielanges Kleid getragen hatte, das Michele ihr auf dem Dorffest gekauft hatte.
„ Elena? Was? Hast du dich geschminkt?“, donnerte sie empört an Elenas 15. Geburtstag als diese sich zum ersten Mal Lippenstift aufgetragen hatte. Dann war sie ins Zimmer des Mädchens gelaufen und suchte aufgebracht nach dem Instrument der Sünde, um es sofort wegzuschmeißen.
„ Ich bin nicht die Mutter einer Hure!“, herrschte sie Elena verachtend an. „Wehe dir, wenn du dich noch einmal in dieser Art zeigst!“
Elena war in Tränen aus dem Haus gerannt und versteckte sich in der nahen Scheune.
Sie hatte keine Lust mehr, zu feiern oder an diesem Abend ins Kino zu gehen, um vorzutäuschen, in einer glücklichen Familie zu leben. Sie wollte daheim bleiben und weinen.
„ Elena?“, hörte sie nach einer guten halben Stunde fragen. „Elena, bist du hier?“
Elena antwortete nicht, aber Michele hörte das Schluchzen aus einer Ecke, somit ging er wortlos zu ihr. Dann streichelte er den Kopf seiner Schwester, kniete sich vor sie und hob sanft ihr Gesicht.
„ Ein hübsches Mädchen wie du sollte an seinem 15. Geburtstag nicht hier hocken und alleine weinen.“
„ Mama ... „
„ Ich weiß alles“, unterbrach ihr Bruder sie und streichelte ihr das Haar. „Aber heute ist dein Geburtstag und ich werde dich nicht wegen dieser blöden Menschen hier weinen lassen.“
„ Meinst du, dass Mama ... „
„ Oh, das tue ich. Sie ist blöd. Auch wenn sie unsere Mutter ist, heißt das nicht, dass sie ohne Fehler ist. Mach schon, steh auf!“, forderte er sie auf und half ihr sich aufzurichten. „Geh schnell dein verweintes Gesicht waschen: Du und ich haben einen Geburtstag zu feiern.“
„ Ich weiß nicht, ob sie mich ausgehen lassen ... „
„ Ich habe mit ihnen gesprochen, mach dir keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.“
Ein weiteres Mal hatte Michele ein Lächeln auf die Lippen seiner Schwester gezaubert, die sich bei ihm geschützt fühlte wie bei niemand anderem auf der Welt.
An diesem Abend gingen die beiden alleine in das alte Dorfkino und aßen später ein Eis. Michele kaufte ihr erneut einen Lippenstift, den gleichen, den ihre Mutter weggeworfen hatte.
„ Aber denk daran“, gab er zu Bedenken und gab ihr die Papiertüte mit dem kleinen Geschenk, „Mama darf nichts davon wissen.“
„ Verleitest du mich zum Verstoß von Mamas Vorschriften?“, kommentierte Elena kichernd.
„ Ich? Sehr unwahrscheinlich!“
„ Das ist wahr, du bist eine alte Bibliotheks- und Kirchenmaus.“
„ Hey Lena, kritisiere nicht meine sozialen Dienste oder ich nehme den Lippenstift zurück.“
„ Willst du diesen dann auch auftragen?“ Elena lachte als sie sich ihren Bruder mit rotem Lippenstift vorstellte. „Ich kritisiere unsere Eltern nicht, sondern bewundere sie. Aber das befreit dich nicht von dem Titel Bibliotheks- und Kirchenratte!“
„ Du bist unverbesserlich.“
Seit jenem Abend nahm sich Elena Gentile vor, dass sie nie wieder wegen böser Worte von ihrer Mutter weinen werde. Sie hatte beschlossen, eine bessere und stärkere Frau zu werden. Sie nahm sich vor, ihrem Bruder zu helfen, wenn er Hilfe benötigte, genau wie er es für sie tat.
Zurück zu Ernesto Gentile, dem Familienvater: Der gesamte Ort wusste, was hinter den Mauern des Hauses geschah und über überhebliches Verhalten hinausging. Niemand hatte gewagt, etwas zu sagen, weil ‚es-sie-nichts-anging‘.
Dennoch wuchsen die beiden Kinder gut auf und vor allem mit mehr guten Eigenschaften als Carla und Ernesto zusammen hergaben.
Michele Gentile war das, was jeder einen „Engelsjungen“ nannte: Er war ein zurückhaltender Typ. Meistens trug er ein Buch unter dem Arm und eine Lesebrille auf dem Kopf, um sie griffbereit zu haben, wenn er sie benötigte. In der Tat verbrachte er mehrere Stunden damit, in schweren Bänden zu blättern.
Er war zwei Frühjahre älter als seine Schwester und war bereits im Alter von zehn Jahren in der Kirchengemeinde aktiv. Den Rest seiner Freizeit verbrachte er damit, um Hilfsbedürftigen zu helfen. Er war überzeugt davon, dass es eine Pflicht war, Menschen, die weniger Glück hatten als er, zu helfen.
Elena Gentile war hingegen ein Schmetterling.
Trotz der nächtlichen Ausgänge mit ihrem Bruder als sie 16 und er 18 war, hatte sie noch nicht die Liebe getroffen, die ihr Leben verwandelte. Ihr Aussehen glich weniger einem Kokon, sondern eher einem Schmetterling mit bunten Flügeln.
Elena war selbstbewusst, ohne überheblich zu sein, wie es ihr Vater war. Sie war herzensgut zu ihrem Nächsten, ließ sich aber von niemandem einschüchtern. Vor allem war sie ein kleiner Stern, der vor Leben und Lebensfreude strahlte.
Wenn Michele und Elena gemeinsam durch die Straßen des Dorfes spazierten, grüßten die Leute gerne und waren von ihnen beeindruckt, nicht nur von ihrem Aussehen, sondern von ihrem Gemüt. Sie fragten sich, wie sie die Kinder von Carla und Ernesto sein konnten, derart unterschieden sie sich von ihnen. Wahrscheinlich, wenn es nicht aufgrund der Gesichtszüge gewesen wäre, die sie mit den Eltern teilten, hätten die Menschen gedacht, dass die zwei Seelen adoptiert seien.
Auf jeden Fall macht Minus und Minus Plus und es lässt sich zumindest mathematisch erklären, wie zwei außerordentlich hübsche Menschen von zwei außerordentlich hässlichen Menschen abstammen konnten.
ocho
Eines Abends wurde Chiaras Schlaf gestört. An diesem Nachmittag hatte sie mit José eine angenehme Stunde verbracht und der Tag war wunderschön und schöp-ferisch. Trotzdem schlief sie in dieser Nacht leicht aufgewühlt. Ihre Träume waren wirr; sie konnte die Orte und Personen nicht richtig erkennen. Sie hörte italienische und spanische Worte, ohne dass sie die genaue Bedeutung verstand. Dann wurden die Bilder klarer und sie empfand im Traum Momente des vergangenen Tages nach.
„ Hoy estoy muerto“, stöhnte José kurz nachdem er die Bibliothek betreten hatte. „ He trabajado como un burro.“
Mit fallendem Gewicht ließ er sich auf dem Stuhl nieder, lehnte seinen Kopf an der Sitzlehne an und lächelte sie an. „ Buenas tardes, Chiara!“
Sie entgegnete mit einem weniger überzeugten Lächeln und antwortete ihm sofort, bevor ihr die Hände zitterten.
„Irre ich mich oder sind wir im Italienischunterricht, José? Hier sprechen wir kein Spanisch!“
José stöhnte und gab vor, verärgert zu sein. „Guten Abend, Chiara!“
„So ist es besser. Wie sagt man ‚ he trabajado como un burro‘ auf Italienisch?“
„Ah... Mmh, eso es ...“, erwiderte er, „es ist eine spanische Redewendung. Ich weiß nicht, ob sie auf Italienisch exista ...“
„Versuche sie zu übersetzen.“
José presste seine Lippen zusammen und schloss leicht seine Augen, um eine übertriebene Konzentration vorzugeben.
„Alorra ...“
„Allora, nicht , alorra‘„, korrigierte ihn Chiara.
Er nickte. „Also, he trabajado wird zu ich habe gearbeitet ...“
„Richtig.“
„ Y como un burro se convierte en ... wie ein ... Pferd?“
Chiara schüttelte ihren Kopf zum Nein.
„ No me acuerdo ... nicht wie ein Pferd, sondern eher wie ein pequeño, jetzt hab' ich's, Esel!“
Chiara konnte sich das Lachen nicht verkneifen, als sie seine kindliche Begeisterung sah. Er änderte seinen Gesichtsausdruck aber nicht, sondern beobachtete Chiara, wie sie spontan lachte.
„Wir haben die gleiche Redewendung, aber es heißt nicht: ‚Ich habe wie ein Esel gearbeitet‘„, erklärte Chiara. „Auf Italienisch heißt es eher „ wie ein Maultier“. Aber ich finde, dass du den Satz gut übersetzt hast!“
José wollte ihr mitteilen, dass er sich ihretwegen besserte. Stattdessen betrachtete er sie schweigend und ihr Lachen klang in seinen Gedanken weiter.
Chiara senkte den Blick.
„Schlage Seite 33 auf“, forderte sie ihn auf bevor sie verlegen wurde.
Sie schreckte plötzlich aus dem Schlaf auf, richtete sich im Bett auf und sah auf die Uhr: Es war nach Mitternacht, aber ihr war nicht danach, sich wieder schlafen zu legen. Sie zog sich somit ihr Nonnengewand an, nahm eine Taschenlampe und verließ geräuschlos ihr Zimmer.
Die Äbtissin mochte es nicht, wenn die Ordensschwestern nachts durch das Kloster liefen, es sei denn, es ging ihnen schlecht. Im Grunde fühlte sie sich nicht ausgesprochen gut, so dass es zulässig war, im Innenhof auf und ab zu gehen, um ihren nervösen Körper zu beruhigen.
Sie legte die Taschenlampe auf den Boden, verschränkte ihre Arme und betrachtete den Vollmond, der von unzähligen Sternen umgeben war. Das Mondlicht küsste die Welt.
Als sie den Kopf zum Himmel richtete, rutschte das schwarze Kopftuch nach unten und ähnelte in der nächtlichen Brise einem lockigen Haarkleid.
Sie seufzte entmutigt und fühlte mit einer Hand ihre Stirn.
Chiara leidete gewöhnlich nicht an Ängsten oder Stimmungsschwankungen und wusste nicht, was ihr solch ein Unbehagen verschaffte. Ihr Leben war, wie sie es sich wünschte. Was war somit dieses undefinierbare Gefühl, das ihr den Magen zuschnürte?
Wenn es anhält, würde sie die Äbtissin bitten, zum Arzt gehen zu dürfen. Ja, das würde sie.
Liebe ist seltsam und schwer zu verstehen, vielleicht weil sie so natürlich ist, unkontrollierbar und vor allem menschlich. Der Mensch an sich ist seltsam. Vielleicht sind wir deshalb nicht in der Lage, Liebe zu verstehen. Sie ist uns ausgesprochen ähnlich. Wir sind unfähig, ihre Nuancen zu sehen oder eine schlaflose Nacht zu deuten, während das Herz ein Gesicht vorgibt, bevor der Verstand begreift. Es gibt eine Lösung vor.
Die Farben geraten nicht durcheinander, sondern die Gefühle überlagern sich. Die Ruhelosigkeit lässt uns fragen, was die Liebe ist. Gibt es sie oder ist sie ein Hirngespinst des Menschen, dem der Mensch bis ans Ende seines Lebens folgt?
Dennoch gibt es Menschen, die sich keine Fragen über Gefühle stellen. Sie suchen stattdessen beängstigt Antworten zu einer Krankheit, die zwangsläufig klinisch sein muss. Diese Menschen haben am meisten Angst vor der Liebe und haben es vielleicht am nötigsten, umarmt zu werden, zu lieben und geliebt zu werden.
Chiara verstand nicht, dass die Kälte, die sie verspürte, und das Zittern, das sie überfiel, der Wunsch nach dieser Umarmung war. Sie bevorzugte es, dem Verstand zu folgen. Tatsächlich wäre sie, wenn sie sich nicht besser fühlen würde, zur Äbtissin gegangen, um sich eine Erlaubnis für einen Arztbesuch einzuholen.
Sie drehte weiter ihre Runden um den Brunnen in der Mitte des Innenhofs und versuchte diese unerklärliche Melancholie zu kontrollieren. Sie ahnte, dass sich jemand hinter einem Fenster versteckte und sie beobachtete.
* * *
Die Uhr schlug Mitternacht als José erwachte und auf Zehenspitzen zur Holztür schlich, die zum Hof des Klosters führte.
Sei es Zufall oder Fahrlässigkeit der Person, die sie hätte schließen müssen, sie war nicht abgeschlossen. José atmete auf, als er entdeckte, dass er nicht über den Mauerring klettern musste. Nicht, dass es für ihn ein Problem darstellte: Jahrelang hatte er auf Handels- oder Privatschiffen gearbeitet und war unendliche Male den Hauptmast hinauf- und hinunter geklettert. Er nutzte den Gefallen dieses unerwarteten Geschenks.
Nachdem er zum Innenhof hinausgetreten war, schloss er behutsam die Holztür, um nicht die Scharniere knarren zu lassen. Dann schaute er sich nach rechts und links um und vergewisserte sich, dass niemand anwesend war. Er ging in Richtung Bibliothek, indem er dem Gartenzaun folgte, zu dem das Mondlicht nicht hinreichte.
Als er den Sala de los libros betrat (wie dieser ihm vorgestellt wurde), meinte er, Chiara in der Mitte des Raumes am Tisch sitzen zu sehen, an dem sie ihm wenige Stunden zuvor Italienischunterricht erteilt hatte.
Nein, er musste sich nicht schuldig fühlen. Er missbrauchte von keinem das Vertrauen, zumal ihm niemand das Vertrauen geschenkt hatte. Er war zu einem bestimmten Zweck gekommen und hatte nicht die Absicht, sich von seltsamen Sympathien durcheinander bringen lassen.
Er war nervös. Aus seiner Jeans-Tasche zog er einen alten, vergilbten Brief, um ein weiteres Mal die Worte seines Interesses zu lesen.
Wir haben noch eine Hoffnung.
Habe Vertrauen! Nicht in Gott, sondern in mich und in das Leben.
Erinnerst Du Dich an den Sala de los Libros, wie Du ihn nanntest?
In diesem kleinen Kloster ist der Schlüssel zur Wahrheit. Er befindet sich in unserem Buch: Der Protestantismus und die Glaubensregel .
Heute Nacht werde ich ihn dort suchen, damit Du sicher bist.
José war sich sicher, dass dies das besagte Kloster war, denn er hatte den Brief mehrere Male gelesen. Alles stimmte überein. In einem dieser Bücher musste sich der Schlüssel befinden.
Der Raum erschien ihm wie ein Labyrinth.
Fantástico.
Es reihten sich Lesetische und Regale mit antiken Büchern. Es gab wenige moderne Bücher. Jeder Gang war wie ein Schachbrett durch horizontale Gänge geteilt.
Den Eingang nach Narnia zu finden wäre einfacher als das Buch DerProtestantismus und die Glaubensregel in diesem Sammelsurium. Aber er war fest entschlossen!
Buch für Buch durchsuchte er das erste Regal. Mit seinem Taschenmesser, das er immer bei sich trug, markierte er den Holzrahmen mit einer kleinen Einkerbung.
Auch wenn eine Kuh einfacher vom Eis zu holen war, würde er Nacht für Nacht jeden Gang absuchen. Dieses Buch sollte nicht von großem Interesse für die katholischen Nonnen sein.
Unbemerkt hatte er eine halbe Stunde mehrere Regale durchstöbern können als plötzlich durch die schweren Vorhänge Licht schimmerte.
Schnell knipste er seine Taschenlampe aus. Verdammt, zu dieser Stunde sollte keiner wach sein! Vorsichtig zog er den Vorhang zurück.
Der Schatten im Lichtschein verriet ihm sofort wer es war, obwohl ihm der Rücken zugewendet war.
Mit verschränkten Armen schützte sie sich vor der Kälte oder einer Qual.
Was trieb sie dort? Er beugte sich vor.
Offensichtlich marschierte sie nervös auf und ab. Warum? Wen erwartete sie? Sein Herz raste bei dem Gedanken.
Nein, Chiara konnte nichts Unerlaubtes planen - sie hatte keine Geheimnisse: Ihre Augen waren zu klar und naiv.
Sie war angespannt, das bezeugte ihre Eile.
Seine Gedanken ließen ihn aufseufzen: Wer weiß, wie anmutig sie ohne das keusche Kopftuch und ihre Tunika ist? Wie verführerisch ihre gelösten Haare wohl sind? Wie zart ihre Haut sein mag? Hatte sie Muttermale? Ist ihr Körper schneeweiß wie ihr Gesicht?
Das schlechte Gewissen strafte ihn sofort. Selbstverständlich meinte er, wie sie in Bluse und Jeans gekleidet aussehen mag? Ohne Kleidungsstücke würde er sie sich nicht vorzustellen wagen.
Mit einem Kopfschütteln verjagte er seine Träumereien. Sie bückte sich, um ihre Taschenlampe aufzunehmen und ging ins Kloster, gefolgt vom obligatorischen Kopftuch, das sie von der gesamten Welt trennte.
Während sie allein und wehmütig im Hof umhertigerte, empfand José ein undefinierbares Gefühl, das die Vernunft schwer billigte, aber emotional eindeutig war.
Nein, das war unmöglich.
Die Liebe ist seltsam, stolz und zielstrebig.
* * *
Am folgenden Nachmittag war es für José nicht einfach, zum Unterricht zu gehen.
Er fühlte sich emotional taub und nervös. Sein gewöhnlich sonniges Gemüt blieb schüchtern, was ihn noch mehr reizte. Launen von unbekannter Ursache lassen die Sicherheit der Personen erschüttern.
„Guten Abend, José!“, begrüßte sie ihn mit ihrem üblichen Lächeln auf den Lippen.
„Hallo Chiara“, antwortete er mechanisch mit trockener Kehle, während sich seine Zunge einfach nicht bewegen wollte - ein lästiges Gefühl!
Der Unterricht folgte dem Muster des Vortages und José bemerkte, dass Chiara eine ausgesprochen gute Lehrerin war. Er konnte nichts Besseres verlangen.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte sie ihn. „Du bist heute schweigsamer als sonst.“
„ Nos conocemos viel zu wenig. Woher willst du wissen, dass ich gewöhnlich gesprächiger oder schweigsamer bin?“
Josés Stimme war nicht unhöflich, sie war eher scherzhaft als ernst. Trotzdem fürchtete Chiara, ihn gereizt zu haben, zumal ihr Interesse für eine Nonne wenig angemessen war.
„Entschuldige bitte“, erwiderte sie und senkte den Blick auf das Italienischbuch. „Du hast Recht, ich kenne dich nicht ausreichend, um deinen Charakter zu kennen.“
Bei diesen Worten fühlte sich José gedemütigt. Das Letzte, was er beabsichtigte, war die junge Nonne zu kränken, die so nett zu ihm war.
Vielleicht hätte er es nicht sagen sollen und den Regeln folgen, die hier galten. Jedoch konnte sie sich ihrem Anblick nicht entziehen, die ein enttäuschtes Gesicht machte. Ohne einen Moment nachzudenken, legte er seine Hand auf die von Chiara und drückte sie zärtlich. Sie war klein und zart, so dass sie perfekt in seine Handfläche passte.
„ Yo muss mich entschuldigen, Chiara“, sagte er ernst. „Ich wollte nicht parecerte unhöflich erscheinen, das war nicht meine Absicht“, bat er um Verzeihung.
Chiara schwieg. Das Einzige, was in diesem Moment ihren Körper und Geist beschäftigte, war die Josés Hand, die groß und stark war und auf ihrer lag. Seine Berührung ließ sie vergessen, warum sie sich bis vor kurzem gedemütigt fühlte.
Eine plötzliche Hitze durchwanderte von der Hand zum Arm, um dann durch ihren Körper zu gleiten. Ein seltsames neues Gefühl überkam sie.
‚ Diese Wärme entsteht aufgrund einer Beziehung zwischen zwei Christen‚ denn der Körperkontakt vereint sie zum Glauben Gottes.‘, Dies war ihre mystische Erklärung für das überraschende Empfinden.
Anders konnte sie sich diese Raserei gemischt mit einer seltsamen Ruhe nicht erklären, die sie in diesem Moment verspürte.
‚ In meinem Klosterleben habe ich wenig Körperkontakt mit Menschen gehabt‘, fuhr sie geistig fort, ‚ deshalb ist dieses impulsive Gefühl fremd für mich. In der Tat rät die Religion von ihm ab: Er ist von heftiger Wirkung.
Während Chiara ihre Gefühle zu deuten versuchte, folgte José mit seinen Augen ihrem verwirrten Blick zu ihren Händen, die aufeinander liegend verharrten. Klösterliches Gelübde oder Seemannsleben, der Unterschied spielte keine Rolle: Auch für den jungen Spanier war es beunruhigend, seine Hand mit der Hand einer monja vereint zu sehen.
‚ Was zum Teufel machst du, José Velasco?‘ – ‚Nein, du dürftest nicht den geringsten Drang verspüren, sie berühren zu wollen.‘
„Entschuldige“, sagte er und löste ihren Kontakt auf.
Chiara errötete und starrte auf die Tischplatte. Ruckartig schlug sie das Italienischbuch zu und stand ebenso abrupt auf.
„Ich muss gehen“, erwiderte sie und drehte sich mit dem Rücken zu ihm, um zum Ausgang zu gehen. „Wir sehen uns morgen.“
Sie ließ José keine Zeit, ihr zu antworten, als sie verschwand.
Die Äbtissin schüttelte den Kopf. Hinter einem Regal in der Bibliothek verborgen hatte sie zufällig die Szene miterlebt während sie nach einem Band vom Alten Testament suchte. Der Scham und die Spannungen von Chiara und José blieben hingegen ungeteilt. Sie war einfühlsam und bemerkte die Anziehung zwischen den beiden sofort, obwohl diese es selbst noch nicht verstanden hatten.
Chiara war zu fromm, um sich ernsthaft in jemanden zu verlieben. Andererseits war es normal für eine junge Frau wie sie, sich gegenüber einem jungen Mann wie José Velasco verlegen zu fühlen. Sie war der Auffassung, dass die Liebe Gottes stärker war als jede menschliche Anziehungskraft und sah keinen Grund zur Beunruhigung.
Hinsichtlich José war es normal, dass Chiaras Anmut ihn verwirrte: Sie war ausgesprochen hübsch. Ihre schwierige Naivität würde ihn aber bald langweilen.
‚ Männer wie er sind alle gleich. Sie empfinden einen kurzlebigen Reiz‘, dachte sie seufzend, ‚ obwohl sie verliebt sind, vergessen sie bald ihre Gefühle.‘
Das Beste war, die beiden für ein paar Tage zu trennen. Auf diese Weise konnten sie alles überdenken, um auf den rechten Weg zurückzukehren bevor sie abkommen konnten.
Aus ihrer Ecke der Bibliothek sah sie Chiara verschwinden. Sie hielt ihr Lehrbuch an die Brust als wäre es ein Schutzschild, das sie vor der unmöglichen Liebe schützen sollte. Wieder und wieder schüttelte sie den Kopf und schloss ihre Augen, um sich an ihre zerronnene Jugend zu erinnern.
Abstand
Der Tag, der verfluchte Tag war gekommen. Elena erhob sich ungern aus ihrem Bett, als würde sie an diesem Tag, dem 20. September, auf dem Dorfplatz am Galgen hingerichtet.
‚Ja, ich bin zu melodramatisch‘, dachte sie.
Dieser Tag war aber überaus abscheulich: Ihr Bruder würde von zu Hause weggehen und sie würde alleine zurückbleiben.
Sie stieg aus dem Bett und ging zur Küche im Erdgeschoss. Vor der Küchentür fiel ihr Augenmerk auf das Abbild, welches sich ihr im Spiegel bot - das einer jungen Frau im Morgenmantel.
Sie war erst sechzehn Jahre alt, in Kürze siebzehn, aber ihr Körper glich nicht im Geringsten dem eines kleinen Mädchens, sondern dem einer attraktiven Frau. Unter dem bescheidenen, keuschen Leinengewand zeichneten sich ihre weiblichen Formen ab, welche die Jungen im Dorf ihr nachschauen ließen: geschmeidig und weich im Kontrast zur Einfachheit des Gewebes.
Elenas Gewissen wurde von ihrer Mutter diktiert: „Wenn ich wie gewöhnlich im Morgenmantel zum Frühstück erscheine entfache ich sicherlich Mamas religiöse Empörung und Anti-Sünde.“ Überlegt drehte sich Elena um und zog sich ein weites, dunkles Kleid an, um eine übliche Polemik zu vermeiden.
Im Erdgeschoss warteten Michele und ihre Eltern mit einem letzten gemeinsamen Frühstück auf sie.
Während ihr Vater die Zeitung las, forderte ihre Mutter sie auf, ihr beim Servieren der Milch, dem Kaffee und dem Kuchen für die beiden Herren des Hauses behilflich zu sein.
Mechanisch erledigte Elena ihre Pflichten. Das Fehlen Micheles lag bereits mit einem bedrückenden Schweigen in der Luft. Michele beobachtete sie schuldbewusst und gestand sich ein, wie sehr ihm seine starke und zugleich zerbrechliche Schwester fehlen würde.
Bei einem Spaziergang am Nachmittag animierten sie die Erinnerungen der Orte zum Leben zurück, an denen sie gemeinsam aufgewachsen waren.
Elena schwieg: Sie war traurig und wütend zugleich. Wie konnte Michele sie zurücklassen? Sie -, die stärker war als jede andere Frau, wenn auch nur dank Michele.
„ Sei nicht so Elena!“, verlangte Michele, während er sich auf das Mäuerchen vom Brunnen des Dorfplatzes setzte.
„ Nun lass mich doch“, erwiderte sie widerspenstig.
„ Auf, komm schon!“ Er deutete ihr, sich neben ihn zu setzen. Elena aber kehrte ihm den Rücken zu. „Ich ziehe nicht in den Krieg, ich gehe studieren.“
„ Das ist das Gleiche, Lele.“
„ Jetzt male nicht den Teufel an die Wand. Lena, du kannst mich besuchen kommen und nach dem Studium kehre ich zurück.“
„ Wann soll das bitte sein?“, fragte sie patzig.
„ Lass mich nicht noch mehr schuldig fühlen als ich bereits bin.“
Elena konnte ihre Tränen nicht weiter unterdrücken. Mit einem herzzerreißenden und zugleich zornigem Schluchzen schmiss sie sich an Micheles Hals. Wortlos wischte er die Tränen aus Elenas Gesicht, wie er es häufig tat.
Mit dem Abend kam die Stunde der Trennung. Zu Hause zog sich jeder mutlos in sein Zimmer zurück.
Bei Sonnenuntergang befand sich die ganze Familie Gentile an der Haustür und verabschiedete sich vom Erstgeborenen. Michele begab sich alleine zum Bahnhof und wollte diesen Abschied schnellstmöglich hinter sich zu bringen.
Sein Vater schüttelte ihm die Hand, wie es ein wahrer Mann tut: keine Umarmung, kein Streicheln, ausschließlich eine Geste der Stärke.
Die Mutter weinte verzweifelte Tränen als ihr erstes Kind (ihr Liebstes) ausflog, um seinem großen Schicksal zu folgen.
Elena hatte aufgehört zu weinen. Aber der Blick, mit dem sie ihren Bruder anschaute, war vielsagender als alle Worte. Augen sind nicht in der Lage, Gefühle, Liebe und Schmerz zu verbergen.
Dann umarmten sie sich und Elena steckte ihm heimlich ein kleines Baumwolltaschentuch in seine Jackentasche, das ihre Initialen aufgestickt hatte. Vielleicht befürchtete ein Teil von ihr, dass Michele seine Schwester vergaß, die ihn innig liebte.
Als Michele verschwunden war und sich die Tür schloss, fühlte sich Elena elend. Ihr Vater bedachte sie mit einem finsteren Blick und sie verspürte zum ersten Mal Angst: Sie war ihm wehrlos ausgesetzt. Es gab niemanden mehr, der Fäuste zäumte, während er sie ohrfeigte.
Aber Michele musste gehen. Michele musste seinem Traum und seinem großen Herzen folgen. Er konnte nicht ewig bei ihr bleiben, um sie zu beschützen.
Während sich Elena langsam Mut machte, fühlte sich Michele verräterisch, weil er Elena zurückgelassen hatte, auch wenn sie jetzt keine kleine Schwester mehr war. Er hatte sie mit zwei Personen zurückgelassen, die nie begriffen haben, was für eine besondere Person sie war.
Aber er musste gehen: Vielleicht kann er mit seinen zukünftigen Taten Personen zum Nachdenken bringen, sie verbessern und ihnen helfen, eine vereinte Familie zu werden, wie diese Familie es nie gewesen ist.
Am Bahnhof angekommen, stellte er seinen Koffer auf dem Boden ab. Voller Zweifel richtete er seine Augen gen Himmel, während er seine Hände in die Taschen vergrub. Plötzlich spürte er mit der rechten Hand etwas Sanftes. Verwundert zog er ein weißes Taschentuch hervor, auf dem von Hand zwei kleine Buchstaben und eine lila Blume gestickt waren.
E. G.
Ein plötzlicher Schmerz durchfuhr sein Herz: Vielleicht hätte er zurückkehren und seine Zukunftsträume aufgeben sollen, um seine Schwester zu beschützen. Aber der Zug kam und er stieg ein, bevor er seine Meinung änderte.
In dieser Nacht konnte Elena nicht schlafen. Körper und Geist waren damit beschäftigt, ihr Alleinsein zu verarbeiten, die sie fortan erwartete. Sekunde um Sekunde saugte sie das Voranschreiten des Lebens auf, sowie das Ende dessen, was eine ihrer wunderbarsten Zeiten gewesen war. Sie hatte sie zusammen mit dem besten Bruder verbracht, den Gott ihr schenken konnte.
Aber jetzt war alles vorbei. Er war gegangen und Elena wusste genau, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholte - niemals. Alles war vorbei und dies war das Ende dieser paradiesischen Zeit mit ihm.
Hätte sie geahnt, dass Micheles Trennung der Beginn ihres wahren Lebens war ... sowie ihres wahren Todes?
nueve
Es verging eine Woche bis sich die beiden jungen Menschen wiedersahen. Beide waren froh, über den Abstand.
Chiara teilte man mit, dass José bis spät in den Feldern arbeiten musste, da die Jahreszeit günstig war, um die Sommerkulturen zu pflanzen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als die Unterrichtsstunde alleine zu verbringen. Sie las oder ging anderen Aufgaben im Kloster nach, die aber aus keinen besondere Pflichten bestanden.
Im Laufe der Woche hatte sie genügend Zeit darüber nachzudenken, was sie in den vergangenen Tagen so nervös gemacht hat. Sie konnte keine Antwort finden: Einerseits war ihr Gehirn nicht in der Lage, einzugestehen, dass es Josés Gegenwart war, andererseits wusste das Herz, was es mitzuteilen hatte. Doch Chiara schenkte ihm keine Aufmerksamkeit.
Die einfachsten Antworten sprechen eine schwierige Sprache.
Einige Tage später fühlte sie beim Erblicken von José während dem Angelusgebet in ihrer Brust einen Stich und sie verstand endlich was beziehungsweise wer es war, der sie aufwühlte.
Was wenn José kein guter Mensch ist, wie sie von ihm dachte? Was wenn er ein böser Mensch ist? Warum sonst fühlte sie sich in seiner Gegenwart derart eigenartig?
Chiara dachte nach und betrachtete ihn stirnrunzelnd. Ihre Mutmaßung hielt nur kurz an. Wenig später fühlte sie sich mies, solche Gedanken über ihn zu haben. Es war unmöglich.
Nein, José ist ein guter Mensch.
Es war schwer zu sagen, ob es wahre Intuition oder echte Liebe war. Tatsache war, dass Chiara José anders sah, als ihr Verstand vorgab. Vielleicht vertrauen wir aus diesem Grund einer Person, obwohl wir sie erst seit Kurzem kennen.
„ Schlecht erwidertes Vertrauen verletzt wie ein Sturz auf steinigem Boden“, gab ihr ihre Mutter als Lebensweisheit mit auf den Weg. „Ein Sturz auf die nackten Knie ist empfindlich wie der Kampf des Lebens. Deshalb Chiara, sei vorsichtig, wem du dein Vertrauen schenkst!“
Chiara wusste nicht warum, aber bei José hatte sie sofort beschlossen, das Risiko einer Enttäuschung in Kauf zu nehmen.
An diesem Abend schaute sie ihn an. José bemerkte sie nicht oder zumindest tat er, als würde er sie nicht sehen. Das kränkte Chiara: Sie war über sein offensichtliches Verhalten enttäuscht. Beim Einschlafen versuchte sie einen plausiblen Grund für Josés Verhalten zu finden.
‚ Warum hat getan, als würde er mich nicht sehen?‘, dachte sie. ‚ Ist er gekränkt, weil ich neulich weggegangen bin? Hat er mich falsch verstanden? Guter Gott, was denkt er von mir?‘
‚ Er ist unvergleichlich attraktiv, intelligent ... Nein! Was habe ich für Gedanken?
Wie naiv von mir! Ich muss mich über solche Gedanken nicht sorgen, sie entstehen durch eine Liebe, die ich für jedes Geschöpf Gottes empfinde.
Ja, José ist attraktiv und hell wie die Sonne.‘
Chiara brauchte eine Stunde bis sie endlich einschlief. In diesen meditierenden Stunden fragte sie sich kein einziges Mal, warum sie so oft José dachte.
Am fünften Morgen ihrer Distanz verspürte sie eine seltsame Sehnsucht nach dem Unterricht, den sie José Velasco erteilte. Es war eine neue Erfahrung.
‚ Ein Hauch neuer Luft - Das ist der Grund, der einen seltsamen Knoten in mir verursacht.‘
Auf der anderen Seite empfand José die vorübergehende Distanz ebenfalls als therapeutisch.
Bei Schwester Chiara, wie die anderen Ordensschwestern sie nannten, fühlte er sich machtlos. Diese ehrlichen Augen schüchterten ihn ein und ließen ihn bei seiner Suche nach dem Schlüssel in der Klosterbibliothek schuldig fühlen (welch verschwendete Zeit Gewissensbisse sind).
Vielleicht war dies der Grund, warum er abends in der Kantine vortäuschte, sie nicht zu sehen. Er wusste, wenn er sie anschauen würde, dass er nachts nicht in der Lage wäre, sich in die Sala de los Libros zu begeben.
Der Abstand von der jungen Frau war auf jeden Fall ein Hauch frischer Luft.
Die fehlende geistige Ablenkung brachte ihn eifrig und zügig mit dem Durchsuchen verschiedener Bände weiter. Am Ende der Woche hatte er den Band aber nicht gefunden. Entmutigt und nervös begann er sich zu fragen, ob seine Arbeit umsonst war.
Vielleicht hatten sie es verliehen, entsorgt oder es hat nie existiert. In der siebten Nacht ging von der harten Arbeit geschafft sofort schlafen. Er hatte weder Kraft noch den Willen, die Suche in der Bibliothek fortzuführen.
Am nächsten Morgen gestand er sich ein, Sehnsucht zu verspüren.
Er erinnerte sich nicht an die Details seiner Träume dieser Nacht, aber ihm ging das Gesicht nicht mehr aus dem Sinn, das er gesehen hat kurz bevor er seine Augen öffnete. Es war kein anderes als das von Chiara.
Warum sollte er die Freundschaft zu diesem Mädchen mit dem lebhaften Blick aufgeben?
Was machte ihn in Chiaras Gegenwart nervös? Sie konnte keine Gedanken lesen, abgesehen davon, war sie eine Nonne, weder böse noch hinterhältig. Er gab keinen Grund, sich von ihrem Verhalten beunruhigen zu lassen, das außerordentlich ehrlich und direkt war.
Außerdem musste er weiter Italienisch lernen, um sich zu verbessern, redete er sich selbst ein, somit musste er den Unterricht mit Schwester Chiara wieder aufnehmen.
Beschlossen.
Wenn nach diesen arbeitsreichen Wochen die Äbtissin weiterhin den Unterricht verschiebt, würde er ihr anbieten, eine Stunde früher aufzustehen und das Doppelte zu arbeiten, um den Italienischunterricht besuchen zu können.
Doch sind die Gedanken schnell, sind die Taten umso träge.
Es war Montag-Nachmittag als sie sich endlich begegneten.
Chiara war in das naheliegende Dorf gegangen, um Einkäufe für das Kloster zu besorgen, darunter Nudeln, Milch, Mehl und Obst. Auf dem Rückweg schlug sie einen Weg durch die Äcker ein. Indem sie sich an dem Mai-Spaziergang beglückte, versuchte sie, das faltige Gesicht des Ladenbesitzers zu vergessen.
Herr Salvatore war ausgesprochen unhöflich zu den Ordensschwestern des Klosters. Seine Verachtung für das Gewand, das sie trugen, war nicht zu übersehen.
Als Chiara den Laden betreten hatte und er sich hinter der Theke umgedrehte, verdrehte er mit gereiztem Ausdruck sofort die Augen. Dann hatte er eine Dose mit Süßwaren auf das Regal knallen lassen, während seine Frau Michaela mit einem entschuldigenden Blick Chiara anschaute und mit den Schultern zuckte.
„Ähm, guten Morgen“, grüßte die junge Nonne höflich, aber es antwortete nur Michaela. Salvatore war beschäftigt, sich eine andere leere Dose zu nehmen und tat als würde er sie sauber machen.
„Guten Morgen“, versuchte es Chiara erneut, dieses Mal mit mehr Nachdruck, von seinem Verhalten aber leicht verstimmt.
„Ähm … Tag“, brummte er ohne aufzublicken.
„Ich hätte gerne einige Packungen Mehl. Können Sie sie wie gewohnt in das Kloster liefern?“
„Uff.“
„Ich nehme an, das ist ein Ja?“, kommentierte Chiara. „Ich benötige außerdem Zucker, bitte.“
„Drüben“, murmelte er und deutete mit einem Wink mit dem Kopf in eine Ecke des Ladens.
„Verstanden, ich hole ihn mir“, aber bevor sich Chiara bewegte, hatte sich die nette Michaela erhoben und war zum Regal gegangen.
„Wieviel?“
„Nur zwei Pfund, vielen Dank. Wir haben noch etwas im Kloster. Wissen Sie, ich möchte Plätzchen für die Schulkinder backen und möchte ich nicht die Vorräte verwenden.“
„... gebeten“, murmelte Salvatore und nuschelte Worte vor sich hin.
„Wie bitte?“, Chiara wandte sich zu ihm, der endlich seinen Blick hob, um ihr direkt die Augen zu mustern.
„Das hat sie niemand gebeten“, wiederholte er. „Wir sind nicht an ihren Tätigkeiten als guter Christ interessiert.“
Chiaras Pupillen weiteten sich empört und verdrossen. Sie fühlte die Wut in ihr aufsteigen.
„Können Sie mir erklären, was ich ihnen getan habe?“
Der Mann schaute sie herausfordernd an, antwortete aber nicht. Er wandte sich um und ging in den hinteren Ladenbereich.
„Verzeihen Sie ihm, Schwester“, entschuldigte sich seine Frau. „Manchmal kann er ausgesprochen unhöflich sein. Aber ich versichere Ihnen, er ist ein guter Mensch.“
„Das bezweifle ich nicht“, beendete Chiara das Gespräch. Sie schaute auf den Vorhang der Tür, die zum hinteren Teil führte, der noch wackelte und schließlich still stand.
Als Chiara in die Felder ging, war ihre Wut mittlerweile vergangen und sie dachte an Salvatore, indem sie eine Art Schwermut empfand. Sie verstand nicht, warum dieser Mann sie derart verabscheuend anschaute, als ob sie ihm Schlimmes getan hätte. Chiara war überzeugt, weder ihn noch ein anderes Familienmitglied respektlos behandelt zu haben.
Jedes Mal, wenn sie den Laden betrat, starrte Salvatore sie an als wäre sie ein Insekt, das so schnell wie möglich zerquetscht werden müsse. Die Äbtissin und die anderen Ordensschwestern mieden ebenfalls jenen Ort wegen der feindseligen Blicke. Es war der einzige Laden im Dorf, der gut ausgestattet war, weshalb die Ordensschwestern gezwungen waren, dort einzukaufen.
Jedenfalls war es in dieser Situation wichtig, ein reines Gewissen zu haben. Wenn Herr Salvatore sie und alle Nonnen verabscheute, war es sein Problem und nicht das von Chiara, die sich unschuldig fühlte.
An diesem Montag-Nachmittag bemerkte sie in der Ferne einen Traktor der Arbeiter. Sie näherte sich, um ihnen Obst anzubieten, das sie im Dorf gekauft hatte. Sie konnte ihre Absicht nicht zu Ende führen, denn etwas beziehungsweise jemand beanspruchte ihre volle Aufmerksamkeit, ohne die anderen Arbeiter im Geringsten wahrzunehmen.
José war dort, nicht weit von ihr. Diesmal hatte er sie wirklich nicht gesehen, da er in die Arbeit vertieft war.
Chiara errötete. Sie wusste, dass sie den Blick hätte abwenden müssen, sie betrachtete etwas Verbotenes, konnte aber nicht anders. Sie blieb reglos stehen und schaute ihm ebenso bewegungslos zu. Ihre Hand hielt den Korb mit den Einkäufen fest verschlossen, aus Angst, er würde ihr wegrutschen.
José kniete ohne Hemd, das seinen Oberkörper hätte bedecken können, unter der Sonne. Er säte mit einer solchen Sorgfalt, die ihr das Herz erfüllte.
‚ Dreh dich um!‘, sagte ihr der Verstand. ‚ Du darfst nicht hinschauen!‘ Aber sie konnte ihre Augen nicht von diesem Geschöpf Gottes abwenden. Er hatte einen ausgesprochen attraktiven Körperbau.
Sein Körperbau war perfekt und ausgesprochen muskulös, wie eine Statue einer biblischen Darstellung, zugleich aber diskret.
Seine Schulter, sein Arm und das Gesicht waren mit Erdflecken beschmutzt, so dass er wie ein Kind aussah. Chiara bemerkte auf der rechten Seite seines Bauches etwas Ungewöhnliches. Für ein paar Sekunden musterten ihre Augen diese Stelle. Es war eine Narbe, die mehr oder weniger so lang war wie die Kette von ihrem Rosenkranz. Sie gab seinem Körper und Gesicht etwas Bedrohliches, obwohl sein Gesicht nicht bedrohlich aussah.
Er hatte prächtige Haare, zerzaust und zwanglos wie er war. Für einen Augenblick wünschte sich Chiara, sanft mit ihren Händen durch seine Haare streifen zu können, Strähne für Strähne, um ihre Weichheit zu spüren.
Sie errötete noch mehr, während ihr Herz tyrannisch schlug, so dass sie eine Hand an ihre Brust nehmen musste.
‚ Herz, bleib ruhig! Willst du aus meinem Körper herausspringen? Beruhige dich bitte ...‘
In der Arbeit versunken, hatte José sie nicht bemerkt. Er spürte aber, dass Augen auf ihn gerichtet waren. Dieses Gefühl ließ ihn sich umdrehen. Er blickte direkt in einen grünbraunen Regenbogen, der in der Iris einer Frau eingeschlossen war.
Als sein Blick Chiaras Augen begegnete, waren ihre Pupillen geweitet wie bei einem Schock. In der Tat war sie sichtlich erregt. Ohne einen Augenblick länger zu warten, drehte sie sich um, lief zu einem Hain bei den Feldern und versteckte sich dort. Chiara hatte kein klares Ziel. Warum lief sie weg? Sie verspürte ausschließlich, dass sie sich entfernen musste.
‚ Er wird mich missverstehen‘, redete sie sich mehrmals beim Laufen ein, ‚ er wird meinen Blick missverstehen.‘
José zögerte nicht, er nahm sein Hemd, das er auf den Boden gelegt hatte, zog es sich schnell über und folgte ihr bevor sie sich zu weit entfernte.
Als er sie sah, war sie über einen kleinen Fluss gebeugt und tauchte ihre Hände ins kühle Wasser. Sanft bewegte sie die klare Flüssigkeit und spritzte sie sich vorsichtig ins Gesicht, um sich an diesem heißen Mai-Tag zu erfrischen.
José näherte sich ihr. Sie verharrte bewegungslos, obwohl sie seine Gegenwart wahrgenommen hatte.
„Chiara“, sagte José als er hinter ihrer Schulter stand, „¿Por qué te has ido?“
Chiara wartete ein paar Sekunden bevor sie aufstand, um sicherzugehen, dass die Röte von ihren Wangen verschwunden war. Sie starrte auf sein welliges Spiegelbild im Wasser.
„Man merkt, dass wir keinen Unterricht mehr hatten“, kommentierte sie, während sie ihm mit den Schultern zugekehrt war. „Du verfällst wieder ins Spanische.“
José lächelte und legte ihr eine Hand auf die Schulter und bemerkte sofort, dass sich ihr Körper anspannte.
„Du hast razón ...“, flüsterte er und wusste, dass er die Hand vom schwarzen Gewand nehmen musste, hatte aber nicht die nötige Willenskraft. „ Entonces denke, wir sollten mit dem Unterricht posible schnell weitermachen.“
Chiara schwieg und konzentrierte ihre gesamte Energie auf seine Hand, die ihre Haut verbrannte, derart empfand sie.
„ Estás ... Ist alles in Ordnung mit dir?“
Es war Zeit, sich umzudrehen. Chiara legte ihre Hand auf seine, die noch auf ihrer Schulter lag. Sie erhob sich, während die starken Arme des jungen Mannes sie stützten.
Als sie sich einander gegenüber standen, nahm Chiara Josés Hand und begleitete sie an ihren gewöhnlichen Platz und ließ sie schließlich los.
„José, mir geht es gut“, antwortete sie und blickte vom Boden auf, um ihren Blick auf sein Gesicht zu richten. „Meinst du nicht, dass wir uns zu wenig kennen, um die Stimmung des anderen zu deuten?“ Chiaras Ton war ironisch und belustigt. José lachte als er die leichte Arroganz auf den Lippen dieser jungen Monja vernahm, die auf eine Unterrichtsstunde anspielte, die eine Woche zurücklag.
Mensch, es war eine Ewigkeit.
„ ¿Cómo se dice? ... Touché!“, fragte er und hob die Hände in den Himmel, während Chiara dieses Mal aufrichtig lachen musste.
Sie fühlte sich ruhig und ungewöhnlich sicher, obwohl der Anspielung an Respekt fehlte, der für eine Nonne angemessen ist. Jetzt war sie in der Lage, mit José ein normales Gespräch zu führen.
Leider schwanken im Leben sichere Situationen und ihre Ruhe hielt nicht lange an.
Sie nahm bald wahr, dass sie ausgesprochen nahe beieinander standen und sein Hemd nicht zugeknöpft war. Ihr Gesicht errötete und sie starrte erneut auf ihre schwarzen Slipper.
José sah auf seinen entblößten Bauch und begriff sofort, dass sie aufgrund dieser Unachtsamkeit verlegen war. Rasch knöpfte er sein Hemd zu und flüsterte ein perdóname für die Umstände. Er machte sich Vorwürfe, wie er sich derart nachlässig verhalten konnte. Ausgerechnet er, der gewöhnlich ein präzises und kontrolliertes Verhalten an den Tag legte.
„So ist es besser“, bestätigte sie. „ Discúlpame für meine Nachlässigkeit und meinen ungepflegten Zustand.“ Er zuckte lässig seine Schultern. Schließlich lächelte er Chiara aufrichtig an, wobei seine Augen leuchteten und auflachten und sanft die Person musterten, der das Lächeln galt.
„Ist schon in Ordnung“, erwiderte sie, starrte noch auf ihre Schuhe und wollte sich von ihm entfernen. Somit drehte sie sich um und ging ein paar Schritte.
„ No te vayas“, versuchte er sie aufzuhalten, bevor sie zu weit entfernt war. „Geh bitte nicht! Warum setzen wir uns nicht aqui und unterhalten uns? Hast du Lust?“
Chiara zögerte. Sie war sichtlich erfreut, Zeit mit ihrem ‚Lieblingsschüler‘ zu verbringen.
‚ Warum sollte sie auf die Gesellschaft einer netten Person verzichten?‘, dachte sie sich.
Außer der jungen Nonne Claudia hatte sie keine wahren Freunde. Zweifellos waren die Ordensschwestern ein Teil ihres Lebens, aber sie waren ausschließlich geistliche Schwestern. Von ihren Freunden aus ihrer Kindheit hatte sie sich zusammen mit ihrer Familie verabschiedet, als sie dem Kloster beigetreten war.
Aber da erscheint José Velasco als neue Präsenz in ihrem geradlinigen Leben, eine kluge und amüsante Person. Was sollte sie hindern, seine Freundin zu sein? Es gab keinen Grund.
Es war wie die Freundschaft zwischen einem Mönch und einem Pfarrer. Sie sind ebenfalls Menschen. Kein Gesetz verbietet einer Nonne, mit jemandem befreundet zu sein, solange es kein Interesse von bestimmter Art gibt. Ihrerseits gab es kein bestimmtes Interesse für José Velasco. Nichts, Punkt.
„Okay“, antwortete sie und drehte sich mit einem breiten Lächeln um, das ihre Iris in schillernden Farben erleuchten ließ.
José setzte sich an den Fluss und Chiara tat es ihm nach, während sie sich einen halben Meter von ihm entfernt hielt.
„ Entonces, Chiara. Wann beginnen wir mit den lecciones? Ich will nicht dimenticarme, was ich gelernt habe.“
„Du hattest diese Woche zu tun gehabt, hat man mir gesagt“, erwiderte sie. „Ab der nächsten Woche können wir den Unterricht wieder aufnehmen, wenn die Äbtissin einverstanden ist.“
José riss einen Grashalm ab und nahm ihn in den Mund, legte sich hin und verschränkte seine Hände hinter dem Kopf. Schließlich betrachtete er den Himmel, der sich langsam rot färbte und den bevorstehenden Sonnenuntergang ankündigte.
„Berichte mir aus deinem vida, Chiara“, bat er sie, während die Sonne ihren Abstieg ins Reich der Dämmerung nahm.
Chiara hatte nicht mit einer solchen Frage gerechnet, zumal ihr Leben nicht aufregend war. Konnte ein Mann wie er an ihrem Leben interessiert sein?
Sie war sich nicht ganz überzeugt und José stellte sich die gleiche Frage. Er wollte in diesem Augenblick nichts anderes tun, als die Augen schließen und Chiaras Stimme lauschen. Selbst seine Planung, wie er den Schlüssel finden könne, konnte warten.
„Es tut mir gut, italienische Wörter zu escuchar“, fügte er hinzu, um seine Neugier zu verbergen und sie nicht weglaufen zu lassen.
‚ Zum Lernen bestimmt‘, dachte Chiara und begann zu erzählen.
Sie erzählte ihm von ihrem kleinen Dorf, das einer Krippe glich und nicht zur wahren Welt gehörte.
„Es gibt ein paar Orte auf der Erde, an denen die Zeit stillsteht“, erklärte sie mit klarer Stimme. „Wenn du dort wohnst, fühlst du dich weit entfernt von den Metropolen und vom Chaos der Welt, die uns umgibt. Es ist wie in einer Oase, José: Nichts Schreckliches kann dir etwas anhaben. Zumindest denkst du es als Kind.“
Josés Hand zitterte, während er ihr zuhörte, wie sie mit Überschwang erzählte. Er öffnete seine Augen und fühlte sich nah bei Chiara, die konzentriert das fließende Wasser betrachtete. Er hätte sie an sich drücken wollen, um ihr für einen Augenblick den Eindruck zu schenken, sich in einer friedlichen Oase zu befinden.
Er rührte sich nicht und schloss seine Augen.
Chiara wandte sich um und prüfte, ob José ihr noch zuhörte. Sie befürchtete ihn zu langweilen. Als sie ihn mit geschlossenen Augen sah, war sie wie von einer Kugel im Herzen getroffen: Wie blöd sie war, als würde er sich für das Leben einer Nonne interessieren. Natürlich schlief er.
„Erzähl weiter“, forderten Josés Lippen auf. „Deine Stimme entspannt mich, Chiara, sie ist hermosa.“
Chiara schwieg und José versuchte noch mit geschlossenen Augenlidern sein Kompliment richtigzustellen, das ein weiteres Mal unangemessen klang. „Man merkt, dass ihr im Kloster die Redekunst gut estudiar habt.“
„Das stimmt“, antwortete sie erleichtert und zugleich enttäuscht.
Wie von José gewünscht, erzählte sie weiter und berichtete von den ersten Jahren im Kloster, von den Gefühlen und vom Glauben, der von Herzen kam. José schwelgte sich in der offensichtlichen Güte und in dem kindlichen Ton, als sie berichtete, wie sie sich zum ersten Mal das Kopftuch aufsetzte.
„Wir müssen jetzt gehen“, bemerkte Chiara und setzte ihrer Abgeschiedenheit ein Ende, die zu lange angehalten hatte. „Beim nächsten Unterricht berichtest du mir aus deinem Leben. Das ist ein fairer Kompromiss, meinst du nicht?“
José stand auf, zog sich den Grashalm aus seinem Mund und warf ihn ins Wasser. Dann beobachtete er, wie ihn die kalte Strömung in Richtung Meer zog. Er drehte sich zu Chiara um und betrachtete sie mit seinem üblichen Lächeln, das seine Verehrung überspielte, die er für Chiara empfand.
Er nahm eine rebellische Haarsträhne wahr, die ihr aus dem Kopftuch entwichen war, ein Detail, das ihr stets entging. Ohne zu zögern näherte José eine Hand Chiaras Gesicht und steckte die Strähne unter ihr Kopftuch, um sie vor der so feindseligen und betrügerischen Außenwelt zu schützen.
Chiara spürte die Wärme seiner Hand, welche dieses Mal in der Nähe ihrer Schläfe war. Sie stand still, denn sie konnte nicht jedes Mal wegrennen.
„ Ciertamente Chiara ...“, flüsterte José. „Nächste Vez werde ich von meinem Leben erzählen.“
Dann stand er auf und ging fort, während er sie alleine und verwirrt zurückließ.
José wusste, dass es nicht geschickt gewesen wäre, zusammen zurückzukehren. Denn ein falsches Auge hätte alles missverstanden und er wollte nicht das Ansehen von Chiara beflecken. Außerdem wusste er nicht, wenn er länger mit ihr zusammen geblieben wäre, ob er ihren verführerischen Lippen widerstanden hätte. Er entfernte sich somit beherrscht von einem leichten Gefühl des Unbehagens. Dieses Gefühl stand im klaren Widerspruch zur Ruhe, die er bis vor kurzem empfunden hatte.
Am selben Abend ging er zur Äbtissin und fragte sie, den Unterricht aufnehmen zu dürfen.
Obwohl Chiara ihm vergewisserte, dass sie ihn bald beginnen würden, hatte er Zweifel. Er begab sich somit zum Büro der Oberin und versprach ihr, dass er morgens früher aufstehen würde, damit er den Unterricht wieder aufnahm, denn er benötigte weiter Unterricht in der italienischen Sprache.
Die Äbtissin war verblüfft über das starke Interesse an der Kultur; anders als die anderen Arbeiter, die im Kloster arbeiteten. Sie merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.
„Ich sehe sie sehr interessiert, Herr Velasco“, kommentierte sie, ohne ihren Missmut zu verbergen.
„ Quiero aprender el idioma, para in Italien integrieren“, antwortete er schnell, eventuell zu schnell.
Die Äbtissin seufzte. Obwohl ihr eine innere Stimme redete ihr ins Gewissen, dass ihre Nachsicht Schaden anrichten würde, riet ihr eine andere Stimme, den Menschen zu vertrauen.
‚ Chiara wäre für die Klausur bereit, wenn sie wollte‘, dachte sie. ‚Sie trägt einen Glauben, den ihr niemand nehmen kann.‘
Sie stimmte somit zu.
„ Gracias Abadesa ...“, beendete José das Gespäch und wandte sich zur Tür.
„Ist schon gut“, antwortete sie mit einem weiteren Seufzer des Unbehagens. José schloss die Tür und ließ sie in ihren Gedanken versunken zurück.
* * *
In dieser Nacht ging José nicht in die Bibliothek. Die Suche konnte einen Tag warten. Er bevorzugte es, im Bett zu bleiben, den Himmel im Fenster zu betrachten und diesen Frühjahrsnachmittag in Gedanken Revue passieren zu lassen.
Wie gern hätte er ihr das Kopftuch von den Haaren entnommen, um sie endlich in ihrer ganzen Pracht zu sehen. Er dachte an die süße Stimme, die einem Wiegenlied glich, während sie ihm aus ihrer Vergangenheit berichtete. Insbesondere dachte er an ein Detail, das Chiara in ihrem Bericht ausgelassen hatte: Warum hatte sie das Gelübde abgelegt? Zweifellos hatte sie den Zeitraum vor dieser harten Entscheidung übersprungen.
Er schlief ein und träumte von Chiaras Mund, dem er sich genähert hatte, als er ihr die Haarsträhne unter das Kopftuch gesteckt hatte. Im Traum näherte er sich ihr nicht wie in der Realität sondern zog sie an sich, um sie zu küssen. Er konnte sich nicht mehr zurückhalten.
Als er aufwachte, wusste José am nächsten Morgen nicht mehr, was Traum und was Realität war. Dann aber erinnerte er sich und erkannte mit Bedauern die Realität: Es war ein Traum, Diablo, nur ein Traum.
Nachdem er seinen Kopf unter den kalten Strahl des Wasserhahns gehalten und sich die Haare getrocknet hatte, schwor er sich ab jetzt Ordnung in seine Gedanken zurückkehren zu lassen. Er wollte Chiara nicht mehr als normale junge Frau betrachten.
Aber José wusste nicht, dass menschliche Versprechen kurzlebig sind und sich sogar die gepriesene Gottheit zu fadenscheinigen Versprechen entpuppte.
diez
Während José von ketzerischen Küssen träumte, plagte Chiara in dieser Nacht die Schlaflosigkeit.
Als sie sich ihr Nachthemd angezogen hatte, stellte sie sich vor dem Schlafengehen an ihren kleinen Spiegel. Das Spiegelbild zeigte Josés Hand, die ihr sanft die Schläfe berührte, als befürchtete er, dass sie jeden Moment zerbräche.
Was geschah mit ihr? Sie schüttelte ihren Kopf, um diese dummen Gedanken zu vertreiben. Wie ein gewöhnliches Mädchen, das nicht an der Religion gebunden war, warf sie sich nonchalant auf das Bett und steckte ihr Gesicht in das Kissen.
In dieser Nacht schlief sie sofort ein und hatte zum ersten Mal ihre Gebete vergessen, die sie stets vor dem Schlafengehen rezitierte. Dadurch fügte sie etwas Weiteres auf ihrer Liste an Ereignissen hinzu, die sie nie zuvor getan hatte. Erst am nächsten Morgen erkannte sie ihr Fehlverhalten und bemerkte, dass sie immer nachlässiger wurde. Sie nahm sich vor, wieder die alte Chiara zu werden, die ihren lieben Gott niemals vergisst.
Als sich Chiara und José am späten Nachmittag zum Unterricht sahen, waren sie dieselben Personen wie immer: Er glaubte alles unter Kontrolle zu haben, einschließlich seiner Gefühle, während Chiara unfähig war zu sehen, dass ihr Wunsch ihm zu helfen, nichts mit Nächstenliebe zu tun hatte.
Wie sie am Tag zuvor abgesprochen hatten, berichtete an diesem Nachmittag José aus seinem Leben.
Er erzählte ihr von seiner Kindheit in Granada und von seinem Vater. Er beschrieb ihr Alhambra und wie idyllisch das Schloss war, welches über der Stadt thronte, so dass Chiara neugierig wurde.
„Ich war noch nie im Ausland“, offenbarte Chiara niedergeschlagen.
„ ¿Por qué?“, fragte er, aber Chiara konnte nicht antworten, sie ließ stattdessen ihren Blick im Ambiente und das Kloster wandern.
Er verstand.
„Es ist nicht einfach“, fuhr sie fort, bevor José ihr zu widersprechen versuchte.
„ Pero, nichts ist unmöglich.“
Chiara lächelte.
„Es heißt però, nicht pero“, korrigiert sie ihn, um das Thema zu wechseln. „ Pero ist ein Baum.“
Er stöhnte. „Chiara, estás wirst du unsympatisch.“
Zum Glück fing Chiara langsam an, den Josés Humor zu verstehen. Sie betrachtete ihn mit einem Lächeln, das einem Sonnenstrahl glich, in dessen Leuchten er sich verlor.
Es war herrlich zu lachen, dachte Chiara und verstand nicht, warum manche Geistlichen ausgesprochen ernst waren, als wenn sie heitere Gesichtszüge verabscheuten, welche die Fröhlichkeit ins Gesicht malten.
Unter verschiedenen Pausen und Korrekturen erzählte José weiter von seinem Leben, vom märchenhaften Granada und seiner vergangenen Arbeit auf den Schiffen. Er vertraute Chiara an, wie sehr er das Meer liebte und dass er sich auf ihnen frei fühle.
„ Yo quiero el olor del mare, ich liebe den Geruch des Meeres ...“, vertraute er ihr an. „Ich fühle mich auf ihm lebendig und libre.“
Freiheit. Fröhlichkeit und Freiheit.
Chiara sann im Geiste über diese Worte und wunderte sich über ihre Kraft.
Priesterschule
In der Tat erwiesen sich die Befürchtungen von Elena als begründet.
Es verging geraume Zeit, bis sich Michele und Elena sahen. Elenas Besuche an der Priesterschule waren durch die religiöse sowie väterliche Strenge begrenzt.
Michele war in eine Priesterschule gezogen, die wenige Stunden vom Zuhause entfernt war. Die kurze räumliche Distanz musste mit der Theologie wetteifern, welche die religiöse Welt von der gewöhnlichen trennte.
Das erste Mal als Elena in einen Zug stieg, der in Richtung des Dorfes fuhr, in das Michele gezogen war, war an einem regnerischen Sonntag im Oktober, mehrere Wochen nach dem Aufbruch ihres Bruders.
Elena wusste, dass ihre Eltern ihr nicht erlaubten, ihren Bruder zu besuchen. Sie schlich sich somit bei Sonnenaufgang heimlich aus dem Haus, wobei sie einen Zettel, den sie aus einem Schulheft gerissen hatte, auf der Konsole neben der Tür hinterließ. Er enthielt folgende Notiz:
Ich bin mit Maria an den See gegangen, bis heute Abend.
Elena
Ehrlich gesagt bezweifelte sie, ob ihre Eltern das glauben würden, aber um ihren Bruder zu besuchen, war sie bereit, das Risiko einzugehen.
Sie stieg somit in den gleichen Zug, den Michele vor ein paar Wochen genommen hatte. An einem Fenster sitzend, genoss sie die Bilder, die draußen an ihr vorbei schnellten.
Distanz bedeutete Freiheit.
Elena glaubte zu fliegen. Endlich ging sie fort, auch wenn nur für einen Tag, fort von diesem Käfig, der ihre Flügel zwang, geschlossen zu bleiben.
Aber dieser Tag gehört nur mir und Lele. Endlich! Wie als wir Kinder waren und zum See gingen, um Steine ins Wasser zu schmeißen, wetteifernd, wer am weitesten wirft.
Elena musste in diesem Moment an eine Anekdote in ihrem Leben denken: Als Kinder war sie mit Michele an einem Fluss entlang gelaufen, um auf einen kleinen Wasserfall zu stoßen, von dem ein kleines Rinnsal Wasser bergab floss. Zuerst sind sie ihm bergab gefolgt, der wenig geneigt war. Schließlich erreichten sie den See, der dem heißen August unbeeindruckt widerstand.
Schritt für Schritt, teilweise mit der Hilfe des anderen und teilweise allein kamen sie am Fuße des Wasserfalls an und sprangen in den flachen See. Als sie auftauchten, wollte Elena für sie beide eine Hütte bauen, in der sie sich zurückziehen würden, wenn sie der Vater ausschimpfte.
„ Auf, setzen wir den ersten Stein!“, rief die kleine Nymphe und zeigte auf ein paar Felsen in der Nähe.
Sie verbrachten die nächsten paar Stunden, indem sie Steine aufeinander setzten und versuchten vergeblich, die Struktur eines Hauses nachzubauen. Schließlich betrachteten die Geschwister erschöpft ihr ausgesprochen enttäuschendes Ergebnis.
„ Und wenn wir uns hier ohne Hütte zurückziehen?“, hatte Michele belustigt gefragt und betrachtete das Stonehenge in Miniatur.
Elena lachte von ganzem Herzen.
Der Zug war am Ziel angekommen und die Passagiere stiegen mit ihrem Gepäck, Mänteln und Hüten aus. Die Edelmänner trugen Spazierstöcke mit Silberknauf bei sich, die Damen bestickte Sonnenschirme.
Elena trug weder Gepäck noch Sonnenschirm, sondern ihre kleine Ledertasche und eine Tüte mit Süßwaren für Michele.
Sie verließ den Bahnhof und durchlief zu Fuß das Dorf. An der Stadtmauer angelangt, die den Ort umgrenzte, fragte sie einen Mann auf einem Fahrrad, wo sich die Priesterschule befände.
„ Die liegt zu Fuß 20 Minuten entfernt, Fräulein. Folgen Sie der Hauptstraße und biegen Sie in die Abzweigung auf der linken Seite. Von dort ist sie beschildert.“
„ Vielen Dank!“
„ Schönen Tag!“, antwortete der Mann, betrachtete Elena und dachte sich, dass eine solche Schönheit besser der Priesterschule fern bleiben sollte.
* * *
Große, hellwache Augen in den Farben einer Haselnuss. Helles Haar, in der Farbe nicht vollkommen reifer Kastanien. Ein dünner, schlanker Körper in einem roten Mantel, der sie wie eine Puppe aussehen ließ.
Nein, der Rektor wäre nicht erfreut, sie herein zu lassen, dachte Carlo. Andererseits konnte er Geschwistern einen Kurzbesuch nicht verbieten, es handelte sich immerhin um ein Familienmitglied. Widerwillig ließ er sie eintreten und führte sie zum Innenhof.
„ Warten Sie hier, Michele wird in Kürze erscheinen.“
Elena wartete unter den Arkaden des Gartens auf ihn.
Michele musste seine Schwester nicht beim Namen nennen. Sobald er den Innenhof betrat, spürte Elena seine Anwesenheit. Sie wandte sich um und beschaute für ein paar Sekunden den jungen Mann, der ihr gegenüber stand. Er war ihrem Bruder, den sie innig liebte, ähnlich und doch anders. Im langen schwarzen Gewand stand Michele vor ihr, hielt das obligatorische Buch in der Hand und betrachtete sie mit sanftem Blick.
„ Lele!“ Ungestüm lief sie ihm entgegen, um ihn zu umarmen. Dieser zog sie an sich und ließ sie wie zu Kindeszeiten einem Karussell gleichend um sich kreisen. „Gott, was hast du mir gefehlt!“
„ Du hast mir ebenfalls gefehlt, Elena. Aber bitte erwähne nicht zwecklos den Herrn. Zumindest nicht hier, sonst holen dich meine Brüder.“ Er versetzte ihr einen Klaps auf die Wange, aber Elena stellte sich mürrisch.
„ Wer hat den Hochmut und nennt dich Bruder ?“
„ Na tu nicht so! Du weißt, dass wir uns alle Brüder nennen, da wir die Söhne Gottes sind.“
„ Ich weiß, ich weiß!“, erwiderte sie die Augen verdrehend. „Aber ich habe weiterhin den Vorrang.“
„ Sohn Gottes zu sein ist auf jeden Fall besser als Sohn unseres Vaters zu sein“, wollte sie noch hinzufügen, schwieg aber.
Sie verbrachten ein paar Stunden im Innenhof, liefen auf und ab, während sie über alles sprachen, was sie sich zu erzählen hatten. Die Zeit vergeht viel zu schnell, wenn wir sie mit dem verbringen, den wir lieb haben. Die Glocken der Priesterschule schlugen zum Angelusgebet und Michele wurde zum Abendessen gerufen.
„ Ich muss gehen Elena“, bedauerte Michele und drehte sich zur Eingangstür der Priesterschule. „Ich kann dich nicht mitnehmen, aber ich werde den Rektor fragen, ob es möglich ist, dich nochmals hereinzulassen.“
„ Wer hat behauptet, dass deine hübsche Schwester nicht mit uns essen kann?“, fragte eine autoritäre Stimme hinter ihnen, während sich eine Gestalt vor dem Licht des Innenhofs abzeichnete.
„ Herr Schuldirektor“, Michele senkte den Kopf, „wie sie gehört haben, bitte ich um Erlaubnis, den heutigen Nachmittag mit meiner Schwester zu verbringen. Sie ist allein gekommen, es würde mir leid tun, sie schon nach Hause schicken zu müssen.“
Er dachte bedrückt: ‚Wo sie keinen umgänglichen Vater vorfinden wird, der ihr die Flucht verzeiht.‘
„ Ich habe alles gehört und frage mich, warum du sie nicht eingeladen hast, mit uns zu Mittag zu essen“, lächelte er. Er beäugelte sie, Elena aber trat einen Schritt zurück, ohne zu wissen warum. Dann gewann sie ihre Fassung zurück und erwiderte das Lächeln des freundlichen Rektors.
Genau genommen wusste Michele nicht, ob er sich über die Güte des sonst steifen Rektors freuen sollte oder nicht. Er akzeptierte das Angebot und nahm seine Schwester bei der Hand, um sie allzeit zu beschützen.
Sie saßen an einem Tisch neben der Wand und warteten auf das Erscheinen aller anderen „Brüder“, um zu beten. Dabei fühlte sich Elena unwohl und mit ihr Michele.
Es ist schwer, sich vor den Todsünden zu bewahren. Manchmal ist die Unterdrückung nichts anderes als eine Form des Aufrufs zum Begehren. Plötzlich starrte alle (oder fast alle) das junge, hübsche Mädchen mit neugierigen Blicken an, teilweise wenig religiös und zum Teil feindselig.
War es die ungewohnte Anwesenheit von Elena? Michele wusste es nicht. In dieser Situation nahmen sie ein weiteres Hindernis wahr, dass sich ihnen in den Weg stellte, so dass Elena nicht häufig zur Priesterschule kommen konnte.
Schlimmer als das Verabschieden war die Heimkehr, wo ihr Vater mit verschränkten Armen und verdrossenem Gesichtsausdruck hinter der Tür saß und auf Elena wartete.
Elena stand vor einer Mauer aus Ärger.
„ Entschuldigung, ich komme spät, aber ...“ Sie konnte den Satz nicht beenden, als ihr eine schwere Hand ins Gesicht schlug. Elena führte instinktiv ihre schlanken Finger zur brennenden Haut. Ein weiterer Schlag folgte. Geduckt stürzte sie zur Treppe.
„ Wo warst du, kleine Schlampe?“, fluchte der Vater. Da er ihren Arm nicht erwischt hatte, versuchte er sie an den Haaren zu packen.
„ Papa, lass mich, bitte!“, schrie Elena, während er sie zu sich heranzog. „Ich habe nichts verbrochen, das schwöre ich! Ich war ...“ Ein weiterer Schlag ließ Blut aus ihrem Mund tropfen.
„ Lüg mich nicht an! Du warst nicht mit Maria zusammen. Wir haben ihre Mutter in der Stadt getroffen! Wo warst du?! Mit wem warst du zusammen?“ An den Haaren zog er sie zur Couch. Die starke und doch empfindliche Elena schützte sich mit den Händen ihren Kopf und ihr Gesicht.
„ Wo warst du?“, donnerte ihr Vater erneut, während ihre Mutter sie wortlos von der Küchentür aus anstarrte.
„ Ich war bei Michele ...“, flüsterte sie resignierend. „Er hat mir gefehlt, deshalb bin ich zu ihm gefahren.“
„ Warum hast du uns nicht darüber informiert?“, schaltete sich die Mutter ein.
„ Weil ich dachte, dass ihr mich nicht gehen lasst.“
Für ein paar Sekunden herrschte im Hause Gentile Stille und Elena dachte, dass sie ihre Flucht verstanden hätten. Die Stille und die Illusion weilten nur für einen kurzen Augenblick.
„ Genau“, fuhr ihr Vater mit kalter Stimme fort. „Hast du dich gefragt, warum wir dich nicht hätten gehen lassen?“
Elena starrte ihm terrorisiert in die Augen.
„ Schau mich nicht mit diesem gefälscht unschuldigen Blick an!“
Sie senkte umgehend ihren Blick, aber der nächste Schlag ließ nicht auf sich warten und ließ sie wie ein Kaninchen vor dem kreisenden Adler zusammenkauern.
„ Ich habe nichts Böses getan ...“, flüsterte sie mit fadendünner Stimme. Mutig hielt sie seinem angsteinflößenden Blick stand: „Ich war bloß bei meinem Bruder. Mir ist nicht verständlich, warum ihr euch nicht im Geringsten um meine Gesundheit sorgt. Warum war ich weg ohne es euch mitzuteilen? Ihr fragt euch mit wem ich zusammen war und was ich mache. Warum aber versucht ihr nicht eure Tochter zu verstehen?“
„ Freche Göre! Wage es nicht nochmal, deinem Vater Widerworte zu geben!“ Er packte sie erneut an den Haaren. „Du sollst deinen Bruder nicht besuchen, weil du eine kleine Dienerin des Teufels bist. Michele soll durch dich keine Probleme bekommen!“
„ Sie ist zur Priesterschule gegangen!“ Die Mutter richtete ihre Augen und Arme nach oben als wäre das ein schrecklicher Skandal. „Sie ist zur Priesterschule gegangen, um dort mit ihrem Gesicht einer kleinen Hure Unruhe zu stiften!“ Dann verschwand sie in der Küche und murmelte undefinierbare Sätze.
Elena konnte nicht begreifen, was sie ihren Eltern getan hatte, dass diese sie derart verachteten. Sie befreite sich aus dem Griff des Vaters und eilte in Richtung Zimmer. In ihrer Hast rempelte sie an den Couchtisch, auf dem eine fast leere Weinflasche und ein Tulpenglas standen, die zu Bruch gingen.
Blutrot war der Fleck, der sich auf dem Teppich ausbreitete und in die Textur des Gewebes drang. Ein beißender Geruch an Alkohol füllte die Luft. Elena starrte einen Augenblick auf das Szenenbild. Dieser kleine Schaden würde ein weiterer Grund für übertriebene Vorwürfe sein. Sie versuchte nicht das Missgeschick zu beheben, sondern hastete zielstrebig die Treppe zu ihrem Zimmer hinauf, um. weiteren Gräueltaten zu entgehen.
In dieser Nacht erwachte Michele mit schweißgebadeter Stirn und schwerem Atem, da er glaubte, Elena schreien zu hören.
Zum Glück war es nur ein böser Traum!
once
Die Zeit verflog wie ein Rosenblatt, das sich an einem Herbsttag aus der Blütenkrone löst und vom Wind in ferne Länder transportiert wird. Die Wochen vergingen schnell ab dem Tag, an dem Chiara und José den Unterricht aufnahmen.
Zwischen Chiaras humanitären Arbeiten und Josés Arbeiten als Landarbeiter erschien der Unterricht von vier bis fünf Uhr als ein Moment der Entspannung.
In diesen 60 Minuten lernten sie neben dem Italienisch mehr voneinander und fanden im jeweils anderen einen Freund, den sie nicht erwartet hatten zu begegnen.
Aber Chiara merkte, dass José etwas aus seiner Vergangenheit vor ihr verbarg. José hingegen fragte sich, warum das hübsche Mädchen beschlossen hatte, ihr Gelübde abzulegen.
‚ Wie dumm ich bin! Wie kann ich mir derart offensichtliche Fragen stellen?‘, fragte er sich. ‚ Sie hat sich es einfach gewünscht.‘
Andererseits fragte sich Chiara, warum er seine Arbeit auf den Schiffen aufgegeben hat, zumal er die Arbeit zu mochte. Warum war er ausgerechnet hier gelandet? - In den weltverlassenen Hügeln von Florenz.
„Wie lange bleibst du?“, hatte sie ihn kurz vor Schluss einer Unterrichtseinheit gefragt.
Er war von dieser Frage überrascht. Er hatte bisher nicht an den Zeitpunkt gedacht, an dem er das Kloster verlassen würde.
Er betrachtete Chiara bevor er ihr antwortete und bemerkte ein leichtes Zittern ihrer Hände, als hätte sie Angst vor der Antwort.
‚ Aber wo denkst du hin‘, dachte er .
„Ich hoffe noch lange Zeit zu bleiben“, gestand er mit ernstem Gesichtsausdruck und ihr Zittern hörte auf.
Was wollte er mit diesem Satz sagen? Chiara konnte ihn nicht verstehen, aber sie errötete sobald Josés Lippen diese Worte aussprachen, obwohl es sie nicht beunruhigte, was er ihr anvertraut hatte.
Chiara errötete, da sie bemerkt hatte, dass sie für einen Augenblick (aber nur für einen Augenblick) seinen Mund intensiv beäugelt hatte.
‚ Wie vieleMädchen hat er geküsst?‘, fragte sie sich als sie seine Lippen betrachtete, die von einem leichten Stoppelbart umgeben waren. ‚ Haben sie versucht José Velasco zu küssen?‘
„Ich muss jetzt gehen“, beendete sie den Unterricht und ging schnellen Schrittes aus der Bibliothek und ließ José ein weiteres Mal entgeistert zurück, der sie schweigend betrachtete während sie sich von ihm entfernte.
Schwester Costanza betrat die Bibliothek von einer Seite, die Chiara und José verborgen war. Sie legte ein Buch des Evangeliums zurück und nahm sich ein neues Buch.
Obwohl das Kopftuch ein Symbol der Güte ist, gab es nicht viel Sanftmut im Herzen von Schwester Costanza. Sie war Chiara abgeneigt, sowie vielen erfreulichen Dingen der Welt.
Missmutig erinnerte sie sich an Chiaras Aufnahme im Kloster als sie noch in normalen Kleidern gekleidet war. Alle hatten sich umgedreht und gefragt, ob es möglich war, dass ein derart hübsches Mädchen ein Gelübde ablegt.
„Habt ihr gesehen, wie bildhübsch sie ist?“, hatte sie nicht nur die Ordensschwestern reden hören, sondern auch die Pilger und Arbeiter.
„Schwester Chiara“, hatte einst jemand in der Post des Dorfes kommentiert, „ist eine der Novizinnen. Man behauptet, sie sei bildhübsch und ausgesprochen freundlich.“ Dann hatte die plaudernde Gruppe die Anwesenheit von Costanza bemerkt und wechselte das Gesprächsthema.
Sie war ebenfalls ein Neuling und hatte das Kopftuch ein Jahr vor Chiara aufgesetzt, aber niemand hatte ihr jemals nachgeschaut, wie alle die fast Zwanzigjährige anstarrten.
‚ Was hat sie, was ich nicht habe?‘, fragte sie sich.
‚ Schönheit konkurriert nicht mit einer Nonne‘, antwortete sie während sie ihre wenig anmutige Figur im Spiegel betrachtete. ‚Solch eine Ordensschwester hat niemals einen wahren Glauben, sondern profitiert von ihrer Schönheit als Werkzeug des Teufels.‘
Nervös bürstete sie ihre dunklen Haare und ging voller Zorn schlafen. Während sie dalag und versuchte einzuschlafen, erinnerte sie sich, wie sie als Kind wegen ihrer Sommersprossen und dem wenig weiblichen Körper verspottet wurde.
Chiara hatte mehrmals versucht, sich mit der jungen Nonne mit dem finsteren Benehmen anzufreunden, aber Schwester Costanza erwiderte es nie. Sie gab es auf und lebte damit, mit einer Person unter einem Dach zu leben, von der sie verabscheut wurde.
Als Schwester Costanza Chiara von diesem attraktiven jungen Mann fortlaufen sah, der sie unter anderem nicht beachtete, ging ihr ein Licht mit einen nicht sehr christlichen Gedanken auf. Dieser Gedanke bestätigte ihre alten Theorien.
Sie war überzeugt, dass es ihr gelingen würde, sie aus dem Kloster zu vertreiben, wo sie nicht hingehörte.
Schwester Costanza konnte nicht nachvollziehen, dass Chiara einen starken Glauben hatte. Sie hatte ein klares Gemüt und war dadurch einfach zu durchschauen.
Es vergingen weitere Wochen und der Unterricht ging weiter seinen Lauf. José lernte schnell und nach zwei Monaten sprach er beinah fließend Italienisch. Die beiden jungen Menschen vertrauten sich weitere Details aus ihren Leben an.
Chiara sprach von ihrem Bruder Alberto, mit dem sie häufig telefonierte, auch jetzt, wo er in England Maschinenbau studierte.
Sie erzählte ihm von ihrer Mutter und ihrem Vater, die immer liebenswürdig und verständnisvoll mit ihr umgingen. Selbst ihre Entscheidung hinsichtlich dem Gelübde unterstützten sie ohne Einwände, sondern freuten sich mit ihr. In diesem Augenblick war José kurz davor, sie die Frage zu stellen, die ihn beschäftigte, schwieg aber.
José zeigte ihr ein Schwarz-Weiß-Foto von seiner Mutter, einer attraktiven Frau mit hellen Haaren, die wie seine waren, aber mit tiefen, dunklen Augen.
„Hast du deine Augen von deinem Vater?“, fragte Chiara. „Deine sind nicht so dunkel.“
„Ja“, antwortete er lächelnd, „ tengo el color de ojos de mi padre.“
Chiara schaute ihn vorwurfsvoll an, so dass José stöhnte und den Satz dann wiederholte. „Die-Farbe-meiner-Augen-ist-die-meines-Vaters, ¿vale?“
Die junge Nonne stimmte lächelnd zu. „ Vale.“
José wusste nicht warum, aber er war froh zu wissen, dass Chiara seine Augen wahrgenommen hatte, obwohl es offensichtlich war, zumal sie seit einiger Zeit täglich eine Stunde zusammen verbrachten.
Er war erfreut, dass sie die Details in seinem Gesicht wahrnahm: Die Details sind es, die den Dingen Bedeutung verleihen.
Zumindest bei wichtigen Beziehungen.
¿Relaciones? Me estoy volviendo loco.
Ich werde verrückt.
An was zum Teufel für eine Beziehung dachte er? Für einen Moment runzelte er die Stirn, aber Chiara bemerkte seine Nervosität zum Glück nicht. Sie blätterte im Buch und suchte eine Übung.
Wie hübsch sie war, wenn sie sich auf einen Satz oder ein Wort konzentrierte. Für einen Augenblick wünschte sich José, das Objekt ihres Interesses zu sein; besser noch das Subjekt, um wie ein Buch von Chiaras sanften Augen gelesen zu werden.
In dieser Nacht träumte José erneut, Chiara zu küssen. Dies passierte zu oft. Er erwachte mitten in der Nacht und konnte nicht mehr einschlafen. Er beendete somit seine Suche in der Bibliothek.
Es fehlten noch zwei Regale. Er hatte sich wenige Stunden zuvor ins Bett gelegt, da er zu müde war und die Suche verschieben musste. In seiner Schlaflosigkeit wollte er jetzt die letzten Bücher durchsuchen, die den Schlüssel enthalten müssten.
Bei seinen unerlaubten Streifzügen des Nachts war José nicht immer vom Glück begünstigt. Wenn die Tür zum Innenhof abgeschlossen war, kletterte er an der Klostermauer hoch und ließ sich auf der anderen Seite hinab.
José ahnte nicht, dass ihn in dieser Nacht jemand sah, als er durch die Dunkelheit des Innenhofs huschte und von der Klostermauer herabsprang.
Chiara konnte ebenfalls nicht schlafen und war aufgestanden. Im Morgenmantel ging sie ein paar Schritte im Flur auf und ab. Bis sie einen Schatten von der Mauer hatte springen sehen. Neugierig ging sie zum Fenster, um zu sehen, was es war und wer es war, bevor sie das Kloster aufweckt.
Sie sah José somit - ihren José, der Unerlaubtes beging. Chiara wusste nicht was er trieb, vielleicht wollte sie es nicht einmal wissen, aber sie fühlte sich betrogen.
Ja, sie fühlte sich betrogen. Er tat etwas, was nicht rechtens war. Und wenn er das Kloster betrog, tat er es somit auch ihr gegenüber.
Dann dachte Chiara an die jungen Frauen, die in dem religiösen Institut für eine Probezeit wohnten. Junge Menschen, die mit Gott eine Ehe eingehen wollten, aber ihr Gelübde noch nicht abgelegt hatten. Ergo, sie waren hier, um festzustellen, ob ihr Weg der richtige ist oder nicht.
Chiara hatte diese Phase übersprungen, da sie von ihrer Entscheidung überzeugt gewesen war. Es war eine sehr wichtige Zeit, denn nicht alle Mädchen wurden im Kloster aufgenommen.
War José zu ihnen gegangen? Hatte er eine Affäre mit einem der Mädchen? Chiara wusste, dass sie es nicht zu interessieren hatte; sie wusste auch, dass sie die Äbtissin über ihre Entdeckung informieren musste. Einerseits konnte sie den Zorn nicht zügeln, der sie überkam, andererseits wollte sie für dieses Mal schweigen.
Sie ging mit feurigem Herzen schlafen sowie mit geröteten Wangen, die vor Wut glühten. Sie hasste José Velasco nicht für das, was er tat, sondern weil er das gesamte Kloster beleidigte.
Chiara nahm sich vor, kein Wort mehr mit José zu sprechen.
José hingegen setzte sich entmutigt auf den Fußboden der Bibliothek und lehnte seinen Rücken an die Wand.
„Es ist nicht da“, flüsterte er hoffnungslos. „Das Buch gibt es nicht.“
Für einen Augenblick verzweifelte er. Zumindest hatte er perfektes Italienisch gelernt.
doce
Eine Wende kündigt sich häufig mit einem Gewitter an. Ein Gewitter wirbelt alles auf und hinterlässt ein neues Ambiente.
Als José in dieser Nacht in sein Zimmer zurückkam, regnete und donnerte es stark, als wenn der Himmel in sich zusammenfallen würde. Die Bäume der Landschaft in Florenz bewegten heftig ihre Zweige, gelegentlich vom Blitz erhellt, um dann der Dunkelheit der Nacht überlassen zu werden. Die Flüsse strömten mit erhöhter Kraft, begleitet vom Rauschen des Wassers, das von den Felsen abfloss.
Das Gewitter hielt bis in die ersten Morgenstunden an, dann ging alles seinen gewöhnlichen Lauf und der Himmel öffnete sich zu einem herrlichen Juli-Tag.
José war benommen, teilweise wegen dem wenigen Schlaf, teilweise wegen der Träume, die ihn geweckt hatten. Er hatte seine Mühe, wie gewöhnlich zu arbeiten.
Chiara stand nervös auf. Dies war das richtige Adjektiv, dachte sie sich: ‚ Ich bin nervös.‘ Selbst die Äbtissin bemerkte ihr angespanntes Verhalten. Als sie fragte, was sie habe, antwortete die junge Ordensschwester, dass sie unter Kopfschmerzen leide.
Der Vormittag und der Nachmittag vergingen normal und es war mittlerweile vier Uhr, die Zeit, zu der Chiara üblicherweise José unterrichtete.
‚ Ich will ihn nicht sehen‘, nahm sie sich vor während sie zur Bibliothek ging und sich dem Ausgang des Klosters näherte. Eine Ordensschwester sah sie vom Fenster der Sala de los libros aus, wie sie sich entfernte.
‚ Er ist mittlerweile gut genug, um alleine weiter zu lernen. Ich werde spazieren gehen.‘
Sie ging in Richtung Wald, um ihrer Nervosität mit einem regenerierenden Spaziergang entgegen zu wirken.
José konnte es kaum erwarten, zu Chiara in die Bibliothek zu gelangen. Rechtzeitig zum Unterricht waren seine Kräfte zurückgekehrt und er war glücklich, Zeit mit ihr zu verbringen.
Warum war er derart ungeduldig, sie zu sehen? Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, wurde von ihm aber nicht beachtet.
Eilig hastete er in die Bibliothek. Die fünf Minuten Verspätung kamen ihm vor wie eine halbe Stunde. Sicher würde Chiara ihn am Tisch sitzend mit einem Lächeln begrüßen: „Guten Abend, José!”
Aber Chiara war nicht zu sehen.
Er sah sich um: rechts, links … Hatte sie sich vielleicht zwischen den Bücherregalen versteckt?
Vor ein paar Wochen war er wegen der Feldarbeiten zu spät gekommen. Als er die Tür der Bibliothek eilig geöffnet hatte, saß Chiara aber nicht wie gewöhnlich am Tisch. Auf dem Tisch waren ihre Bücher ausgebreitet.
„Chiara? ¿Donde estás?“, hatte er gefragt. Keine Antwort. Zwischen den Regalen war ein Geräusch zu vernehmen - ein unterdrücktes Kichern.
„Chiara?“ Wie ein wachsamer Fuchs durchstreifte er einen Gang des literarischen Labyrinths. Ein schmaler Streifen von einem schwarzen Gewand verschwand vor ihm nach links in einen anderen Gang. José beeilte sich amüsiert, der Erscheinung zu folgen und schaute um die Ecke: keine Spur. Das Suchspiel hielt für ein paar Minuten an und während José um eine weitere Ecke des Labyrinths lugte, vernahm er eine Stimme hinter seiner Schulter: „Ich wollte sehen, wie weit du mir folgst. Ich muss eingestehen, du hast den Test mit Bravour bestanden!“ Triumphierend erklärte Chiara: „Dir gefällt es wahrhaftig, Italienisch zu lernen, sonst wärst du schon gegangen.“
Wie ein Kind hatte sie selbstlos gelacht; José war ihr treudoof wie ein Hund auf Tritt und Schritt gefolgt. Konnte er ihrem heiteren Gesicht wiederstehen?
„ Natürlich“, hatte er geantwortet, „ich bin muymotivado.“
Sollte es nicht der Wissensdurst sein, der ihn motivierte?
Dieses Mal lagen ihre Bücher aber nicht auf dem Tisch ausgebreitet. José versuchte sie trotzdem zwischen den Regalen zu suchen, verstand aber sehr schnell, dass sie dieses Mal kein Spiel mit ihm trieb.
Er kehrte zum Eingangsbereich zurück, in dem Lesepulte angeordnet waren. In einer Ecke las eine Nonne in einem Buch mit antikem, braunem Einband. Es war nicht Chiara. Aber es war ihre Freundin. Wie war noch ihr Name? - Claudia.
Ob sie wusste, warum Chiara nicht hier war? War Chiara krank?
„Guten Abend Schwester!“, grüßte er.
Sie zuckte zusammen, da sie nicht erwartet hatte, von José angesprochen zu werden. Alle Bewohner des Klosters sprachen von ihm.
„Guten Abend“, erwiderte sie. „Ich sehe, dass der Unterricht mit Schwester Chiara effektiv ist. Sie haben bereits eine bemerkenswert gute Aussprache.“ Freundlich lächelte sie ihn an.
„Chiara ist eine ausgezeichnete Lehrerin“, erwiderte er. „Ich lerne bei ihr außergewöhnlich schnell.“
Aber Claudia war sehr intelligent: Ihr entging nicht, wie er den Namen ihrer Freundin aussprach. Der Ausdruck seiner Augen mit einem solch liebevollen Blick bedeutete nichts Gutes.
„Apropos Chiara“, fuhr er fort. Seine Aussprache vom „S“ hatte noch immer einen spanischen Akzent. „Wissen Sie wo sie ist? Tenemos Unterricht, aber ich kann sie nirgendwo finden.“
„Ich habe sie vor zwanzig Minuten aus dem Garten forteilen sehen. Hat sie den Unterricht vielleicht vergessen?“
Mh, gab Josés Kehle von sich, das konnte nicht sein.
„Ich danke Ihnen, Schwester“, verabschiedete sich José. Er verließ die Bibliothek, durchquerte den Hof und durchlief die Arkaden, die aus dem Kloster führten.
Claudia beobachtete José, wie er Chiara folgte. Es beunruhigte sie nicht wenig!
Was war los mit den beiden?
Ihre Freundin hatte sich in letzter Zeit geändert und an diesem Morgen hatte sie Chiara nervöser gesehen als je zuvor. Dann erscheint sie nicht zum vereinbarten Unterricht, ein erneut seltsames Verhalten bei ihrem Eifer.
Sie hoffte nur, dass sie sich nicht in Schwierigkeiten brachte, aus denen es schwer war, herauszukommen. Sie mochte Chiara zu sehr, um sie über ihre eigenen Füße stolpern zu sehen.
‚ Was treibst du im Schilde, meine liebe Freundin?‘, dachte sie und nahm wieder ihre Lektüre auf.
* * *
Chiara folgte mit nervösem Schritt dem Verlauf des Baches, hinter dem die Plantagen der Olivenbäume anfingen. Der Himmel war wolkenlos und es war kühl, wahrscheinlich wegen dem Sturm vor kurzem. Trotzdem fühlte sie sich in der Umgebung nicht wohl, zumindest nicht wie gewöhnlich.
‚ Ich mag sein unverschämtes Gesicht nicht mehr anschauen‘, dachte sie während sie wie eine Furie lief. ‚ Üblicherweise steht Freundschaft für Treue, aber das, was er getan hat, ist kein bisschen treu! Wie kann derart verdorben unsere Hilfs-bereitschaft ausnutzen?‘
Sie hastete weiter und spie Feuer aus den Augen. Plötzlich hörte sie eilige Schritte hinter sich.
„Chiara!“, rief eine Stimme ungestüm. „Wo gehst du hin?“
Menschliche Gefühle kommen unvermutet: warm und unkontrollierbar – sie sind lebendiger als wir selbst. Dieser ihr bekannte Akzent ließ in Chiara ein tobendes Feuer aufflammen, das ihr von der Brust über das Herz bis ins Gesicht stieg. Das Einzige, was sie tun konnte, war zu weinen oder weiter zu laufen.
Sie drehte sich um und sah José durch die Bäume zu ihr laufen. Mit einer nervösen Bewegung drehte sie sich mit dem Rücken zu ihm und lief.
‚ Ich will ihn nicht sehen‘, widerholte sie sich und beschleunigte ihren Schritt. Sie würde ihn in diesem Hain abhängen, in dem sie sich, im Gegensatz zu ihm, wie ein Spatz auskannte.
Sie lief nordwärts am Fluss entlang und näherte sich einer kleinen Lichtung, die von Buchen, Kastanien und Ulmen umgeben war. An einer Uferseite ragte eine Felswand mit einer Höhle hervor.
Chiara war ausgesprochen schnell, aber José war nicht weniger agil.
‚ Warum rennt sie weg?‘, fragte er sich, während sein Herz nicht ausschließlich wegen dem Lauf stark pochte. „Chiara halt an!“, rief er erneut, aber die Nonne ließ nicht nach.
Nach einer Weile war die Jagd aussichtslos. José näherte sich ihr, konnte sie aber nicht einholen, bis sich beide in der kleinen Lichtung vor der Höhle befanden. José beschleunigte und streckte seine Hand nach vorne aus, um ihren Arm zu ergreifen. Das Einzige, was er fassen konnte, war ihr Kopftuch, das wegrutschte und ihren Nacken entblößte.
Chiara spürte das lose Haar, das sich in der Luft ausbreitete, und dies vor José. Sie drehte sich zu ihm um, gefolgt von der Haarmähne, die ihr in Wellen auf die Schultern glitt.
Sie starrte José in Panik an. Er war der erste Mann, der sie ohne Kopftuch sah, zumindest seitdem sie das Gelübde abgelegt hatte. Sie fühlte sich nackt, blasphemisch, eine Sünderin, die eine Unerlaubtes tat, da sie mit offenen Haaren ohne schwarzweißen Stoff von jemandem gesehen wurde.
José war seinerseits nicht fähig, ein Wort zu äußern.
Zuerst schaute er verdutzt auf seine Hand, in der er Chiaras schwarzes Kopftuch mit dem weißen Saum hielt. Dann schaute er zur bildhübschen Monja und die Welt entfernte sich von ihnen. Sie befanden sich in einem von der Realität entfernten Universum.
Er betrachtete Chiaras geschmeidigen Gesichtszüge, die weiches, honigbraunes Haar umrahmte. Ihr Haar war in seinem wiedergewonnenen Freisein lebhaft und rebellisch. Der Wind bewegte sanft ihre gelockten. Es schien, als würde der Gott des Windes Aiolos verspielt seine Hände durch die Locken fahren. José fragte sich, was ihn davon abhielt, sich ihr zu nähern.
* * *
Wenn Gefühle unkontrollierbar sind, werden sie rücksichtslos und verfehlt, ohne sie bezähmen zu können. Er ließ ihr Kopftuch zu Boden fallen. José lief zu Chiara, welche ihn regungslos anstarrte. Ungehemmt nahm er ihr Gesicht zwischen seine Hände. Diese rosigen Lippen waren trotz Ordensgelübde außerordentlich provokativ. Wie in seinem Traum waren sie in diesem Moment mit seinen vereint.
Von der Leidenschaft beherrscht, drückte er sie an sich, küsste sie wie das natürlichste auf der Welt und kostete ihren Geschmack.
Obwohl es ein Fehler war, verspürte er den immensen Drang, den süßen Geschmack ihrer Haut zu schmecken. Er presste seinen Mund auf den von Chiara, ließ seine Finger durch ihr Haar gleiten und liebkoste sie sanft, Strähne um Strähne.
Chiara blieb reglos und hielt ihre Augen geschlossen, da sie Angst hatte und zugleich überrascht war, mit dem Geschmack der Liebe auf dem Mund. Sie fühlte Josés Lippen ungestüm auf ihre Lippen pressen, die nie zuvor einen Mann geküsst haben, sondern ausschließlich das Kreuz ihres Rosenkranzes. Sie wusste, dass sie ihn sofort fern halten musste – es war eine Katastrophe!
Aber sie tat es nicht. Sie schloss einen Moment die Augen und antwortete leichtfertig der zärtlichen Liebkosung. Ihre Lippen wussten trotz ihrer Unerfahrenheit, was zu tun war. Während die Liebe sie umtanzte, verglichen Chiaras Gedanken ihr Leben mit einer Wüste, in dem José zwangsläufig die Oase sein musste.
Die ihre ausgetrockneten Herzen umhüllende Süße war von ausgesprochen kurzer Dauer. Dann kehrte Chiaras Verstand zurück: mit Wut schubste sie José von sich weg, dass er ein paar Schritte zurücktaumelte.
„Rühr mich nicht an!“, schrie sie ungehalten und folgte ihm, um ihm eine Ohrfeige zu versetzen. Sie wendete sich sofort um und betrachtete ihre Hand, die den jungen Mann so unschicklich geschlagen hatte: Warum? ... Warum hatte sich die alte Chiara derart verloren?
José nahm seine Hand zur Wange, die in gleicher Heftigkeit schmerzte wie seine Wut. Sollte er tirar la toalla?, wie es auf Spanisch heißt. Nein, er würde nicht aufgeben.
„Darf ich erfahren, was du hast?“, schrie er sie an, war aber eher über sich selbst wütend, dass er die Kontrolle verloren hatte. Chiaras Verhalten ihm hingegen war widersprüchlich.
„Du durftest mich nicht küssen!“, erklärte Chiara wütend. „Meinst du, ich trage dieses Gewand zum Vergnügen? Ich bin nicht wie die Frauen, die du nachts aufsuchst!“
„Ich habe einen Fehler gemacht!“, fuhr er fort. Als Zeichen des Nachgebens hob er seine Hände, obwohl er nicht die Wendung verstand, die das Gespräch genommen hatte. „Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe, dich zu küssen. Erkläre mir bitte, warum du dich so verhältst!“
„Ich habe nichts getan, um von dir zur Rede gestellt zu werden!“, beendete Chiara das Gespräch, drehte ihm den Rücken zu und wollte sich von ihm entfernen. Aber José blieb hartnäckig, näherte sich ihr, packte sie am Handgelenk und zwang sie, sich umzudrehen.
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