Lustige Märchen
Marco Fogliani
Sowohl Originaltexte als auch überarbeitete Texte sprich Abänderungen (oft als Anpassung an die heutige Zeit) der klassischen Märchen, die unsere Kindheit und kindliche Fantasie bereichert haben. Denn es ist nie zu spät sich nochmal wie ein Kind zu fühlen.
Hier nachfolgend ein Verzeichnis der in diesem Band enthaltenen Erzählungen:
DER TEPPICH DER FLIEGEN KONNTE
DAS GENIE DES KUGELSCHREIBERS
DER FISCHER OSVALDO
SALAFINO UND DIE MAGISCHE KAFFEEKANNE
DIE GESCHICHTE EINER SCHAUFENSTERPUPPE
DIE BERGWERKE DES WEIHNACHTSMANNES
PAOLINO UND DER DRACHEN DER SCHWARZEN BURG
DER BRIEFTRÄGER GINO UND DAS DRACHENBABY
DIE GOLDSCHUPPE TEODORO
BALDOVINO UND DIE ZAHNPASTA DER PRINZESSIN
GEPPETTO, DIE BLAUE FEE UND DIE SPRECHENDE GRILLE
DIE MEERJUNGFRAU SERENA
ROSSELLA
SCHNEEWITTCHEN UND DIE WAISENKINDER
DIE WAHRE GESCHICHTE VON ROTKÄPPCHEN UND DEM WOLF
ROSETTA
Lustige Märchen
Author: Marco Fogliani
Traslator: Yvonne Kampe
EINLEITUNG
Diese Sammlung enthält alle meine Geschichten, die mit der Welt der Märchen zu tun haben.
Unter diesen lassen sich grob drei Gruppen unterscheiden:
solche, in denen man leicht Bezüge zu bestimmten Märchen finden kann und die ich als eine Art Aktualisierung oder Überarbeitung, oft in scherzhaftem Ton, verfasst habe;
solche, die sowohl in ihrer Handlung als auch in der Thematik origineller sind;
solche, die sich in Wirklichkeit an klassischen und bekannten Märchenthemen orientieren, aber dann ihren eigenen Weg gehen.
Zur ersten Gruppe gehören wahrscheinlich „Rossella“ (in Anlehnung an Aschenputtel), „Die wahre Geschichte von Rotkäppchen und dem Wolf“ und „Rosetta“ (in Anlehnung an Rotkäppchen), „Schneewittchen und die Waisenkinder“ (Schneewittchen), „Die Meerjungfrau Serena“ (Die kleine Meerjungfrau). Die Geschichte „Geppetto, die blaue Fee und die sprechende Grille“ könnte man in moderner Sprache als kleine Fortsetzung von Pinocchio bezeichnen.
Zur zweiten Gruppe würde ich wohl „Die Goldschuppe Teodoro“, „Baldovino und die Zahnpasta der Prinzessin“ und die Drachengeschichten „Der Postbote Gino und das Drachenbaby“ und „Paolino und der Drache der schwarzen Burg“ zählen.
In die letzte Gruppe würde ich „Salafino und die magische Kaffeemaschine“ und „Der Geist im Federhalter“ (vielleicht mehr als Novelle als Märchen zu sehen, wie die meisten Geschichten in dieser Gruppe), in Anlehnung an Aladin und die Wunderlampe einfügen. „Der Teppich, der fliegen konnte“ greift das Thema der fliegenden Teppiche auf, „Die Geschichte einer Schaufensterpuppe“ erinnert vage an Pinocchio und den Zinnsoldaten, „Der Fischer Osvaldo“ greift das Thema der sprechenden Fische auf. „Die Bergwerke des Weihnachtsmannes“ ist zwar ein Weihnachtsmärchen, hat aber etwas mit Hänsel und Gretel und dem Spielzeugland zu tun.
Die Geschichten „Die Meerjungfrau Serena“ und „Der Fischer Osvaldo“ finden Sie auch in meiner anderen Sammlung „Scherzi del mare“. „Die Bergwerke des Weihnachtsmannes“ ist auch in der Sammlung „Scherzi del Natale“ enthalten.
Nicht enthalten sind meine Kurzgeschichten, die ich beabsichtige in einer späteren Sammlung aufzunehmen, die der Welt der Kinder gewidmet, aber aus der Sicht der Erwachsenen erzählt sein wird.
DER TEPPICH, DER FLIEGEN KONNTE
Ach, was waren das früher noch Zeiten! Heute glaubt doch niemand mehr an Märchen, außer vielleicht die ganz kleinen Kinder. Und die Leute schätzen auch nicht mehr den wirklichen Wert der Dinge oder erkennen nicht, was tatsächlich Respekt verdient.
Als ich jung war, war das anders: Damals sah ich mehrere Male am Tag, dass sich jemand mit Ehrfurcht und Hingabe hinkniete. Und jedes Mal spürte ich, wie mich die Wangen, fast wie bei einem liebevollen und respektvollen Kuss, berührten. Damals kannte man sehr wohl noch den Unterschied zwischen Seide, Wolle und Baumwolle und ich wurde in meinem Zuhause als die wertvollste Sache betrachtet, sowohl was meine Feinheit als auch meine heilige Aufgabe betraf. Und natürlich wagte es niemand, in meiner Anwesenheit Schuhe zu tragen.
Aber ohne so lange zurück zu gehen: Alleine bei dem Gedanken an Oma Ida überkommt mich ein Gefühl von Sehnsucht und Wehmut nach den vergangenen Zeiten. Ich erinnere mich, wie behutsam sie mich jede Woche abrieb und wusch, auch wenn es gar nicht nötig gewesen wäre, da sie nie Besuch bekam. Es war nicht ihre fehlende Kraft, die sie so behutsam mit mir umgehen ließ, sondern die Angst mich zu beschädigen. Jedenfalls war es für sie ein heiliges Ritual und vielleicht auch ernsthafter als das Gebet eines Mohammedaners. Ich erinnere mich, mit welcher Sorgfalt sie mich nach einem Reißaus an meinen vorgesehenen Platz zurücklegte.
Mein größter Kummer ist, dass ich mich schon seit langem in Anwesenheit von Erwachsenen gezwungen sehe, bewegungslos wie ein gewöhnlicher Bettvorleger da zu liegen. Den letzten bedeutenden Flug machte ich, als mich Maria, die Enkelin von Oma Ida, neben der Mülltonne abgeladen hatte. Was für eine Beleidigung! Ein echter antiker Perserteppich aus Seide! Nur weil sie gerade als frisch verheiratetes Ehepaar in das Haus eingezogen waren, nahmen sie sich das Recht über mein Schicksal zu entscheiden, ohne die schönen alten Gewohnheiten der Oma zu respektieren. Ich habe ihnen eine grobe Dummheit erspart. Über ein Fenster kehrte ich heimlich an meinen Platz im Gäste-WC zurück. Sie dachte, dass ihr Mann es so wollte und ließ mich dort liegen. Aber seitdem wusch sie mich nicht mehr. Nicht nur das, sie behandelte mich schlechter als den schmutzigsten Lappen im Haus: Ich hatte nasse Schirme, verschlammte Schuhe und ähnliche Ausnahmezustände erlebt. Vielleicht wäre die Mülltonne doch besser gewesen.
Sicher, in ihrer Abwesenheit hatte ich viel Zeit, um frei im Haus herumzufliegen. Aber ich versuchte immer, mich nicht entdecken zu lassen. Sobald ich den Schlüssel im Schloss hörte, flog ich sofort zurück an meinen Platz und blieb dort regungslos liegen, als wäre nichts passiert. Das war wirklich kein Leben.
Eines Tages wollte ich ihre Reaktion testen, wenn sie mich in Bewegung sahen. Die Idee kam mir, als ich in der Wohnung eine tote Küchenschabe fand. Ich versteckte sie unter mir und am Abend, während sie beim Essen waren, schlich ich langsam in die Küche. Was für ein Schauspiel! Ich erinnere mich daran, wie Maria vor Schreck schrie, aber ich erinnere mich auch an die Schläge und Fußtritte, die ich von ihrem Mann erhielt. Zum Schluss brüstete er sich auch noch zu Unrecht damit, den Käfer erlegt zu haben. Ich hatte wirklich ziemliche Schläge bekommen, aber Gott sei Dank war meine Qualität ausgezeichnet und ich trug keinen Schaden davon.
Die gebührende Aufmerksamkeit und Wertschätzung erhielt ich dann von ihrem geliebten und hübschen Söhnchen Giorgio. Als er sehr klein war zunächst noch nicht, da sie ihn auf kleinstem Raum unter ständiger Aufsicht hielten. Aber als er anfing zu laufen und mehr Freiheiten hatte, plante ich meinen Rachefeldzug.
Sobald keine Erwachsenen zu sehen waren, schleppte ich mich bis zu ihm hin. Er war überaus sympathisch. Er schaute mir zu wie ich schwänzelte, ohne irgendwie hysterisch zu werden. Im Gegenteil, mit Wohlwollen berührte er mich und nahm mich zwischen die Finger, so als hätte er mich nie zuvor gesehen. Man könnte sagen, dass wir zusammen spielten. Sobald ein Erwachsener zurückkam, wurde er sofort geschimpft, dass er mit einem so schmutzigen Gegenstand spielte. Aber ich gab nicht auf. Sobald ich konnte, ging ich zu ihm und manchmal war er es, der zu mir kam. Ich wusste, dass ich riskierte aus hygienischen Gründen entsorgt zu werden, aber ich wusste auch, dass es sich um eine Familie handelte, die - selbst wenn sie etwas fantasie- und stillos war - einen gesunden Menschenverstand hatte. Und tatsächlich kamen sie zu dem Entschluss, dass ich eine gründliche Reinigung benötigte.
Anfänglich war ich sehr darüber erfreut, auch weil dies bedeutete, dass ich offiziell als Spielkamerad von Giorgio akzeptiert wurde. Nach der Wäsche mit Schleuderprogramm in einer dieser höllisch modernen Waschmaschinen war ich es etwas weniger und bei solch einem Waschmittel hatte ich Angst um meine Farben. Das wünsche ich niemandem. Am Schluss fühlte ich mich, als hätte sich die ganze Welt auf mich gelegt und noch dazu war ich patschnass wie ein betrunkener Schwamm. Aber ich muss sagen, die Farben waren danach so schön wie ich sie schon lange nicht mehr kannte, vielleicht waren sie sogar noch nie so schön gewesen. Jeder hätte mich schön gefunden.
Zusammen mit einem Berg feuchter Wäsche wurde ich in einen Korb geschmissen. Ich hatte das Gefühl zu ersticken. Ich wollte davonlaufen, auf die Gefahr hin, die ganze Wäsche auf den Boden zu werfen, aber ich hielt durch; ich wusste nämlich, dass bald das wöchentliche Ritual des Wäscheaufhängens beginnen würde. Dieses Mal jedoch, und das war neu, würde ich es höchstpersönlich miterleben.
Und tatsächlich, kurz darauf ging Maria mit dem Korb hoch auf die Terrasse. Im ersten Moment fühlte ich mich erleichtert von diesem erdrückenden Gewicht, das auf mir lastete. Dann kam ich dran - sie zog mich der Länge nach glatt und legte mich auf eine Wäscheleine. Als wäre das nicht schon unangenehm genug, klemmte sie an jedes Ende eine Wäscheklammer. Ein Martyrium.
Die Sonne war blass und es blies ein starker Wind an diesem herbstlichen Nachmittag. Eine andere Frau war auch gerade dabei, ihre Wäsche genauso zu quälen. Dem Gesprächston nach zu urteilen mussten die beiden Frauen sich wohl gut kennen.
„Sobald sie weg sind“, dachte ich, „mache ich mich auch aus dem Staub.“
Inzwischen hing die Leine immer tiefer durch unter dem Gewicht neuer Wäschestücke. Insbesondere von einem sehr schweren.
„Oh, die ist aber wirklich wunderschön! Wo kommt die her?“
„Die ist von meiner Oma“, antwortete Maria. „Schau was für schöne Hand-Stickereien. Heutzutage werden solch schöne Decken nicht mehr hergestellt. Sie hat sie mir zu unserer Verlobung geschenkt.“
„Bewahre sie gut auf, wer weiß wie viel sie wert ist.“
Je mehr ich diese Wörter hörte, desto mehr wurde ich eifersüchtig und unruhig. Es war doch nicht der Schatz von Ali Baba. Sie fuhren fort, dieser Decke ein Loblied zu singen. Sie war vielleicht schön, aber sie war nicht halb so alt und wertvoll wie ich.
„Lass sie mich anfassen. Oh, wie sie sich zart und fein anfühlt.“
„Ich habe sie separat gewaschen, mit lauwarmem Wasser und Weichspüler. Ich wollte nicht dass sie kaputt geht. ...“
Ich konnte diesen Blödsinn nicht mehr ertragen. Ich fing an, um mich zu schlagen, um mich von diesen verhassten Wäscheklammern zu befreien. Der Wäscheständer mitsamt allen Wäschestücken fing durch mein aufgeregtes Herumschlagen an zu wackeln. Einige Socken flogen auf den Boden. Meine Aufgeregtheit wurde auch noch durch eine Reihe unerwarteter Windstöße begünstigt. Während die beiden Frauen damit beschäftigt waren, die heruntergefallenen Teile aufzuheben und weiteren Schaden zu verhindern, befreite ich mich von der ersten Wäscheklammer und begann mit meiner freien Seite wiederholt auf die daneben hängende Decke der Oma einzudreschen. Mit zwei oder drei gezielten Schlägen schaffte ich es, deren Schwerpunkt zu verschieben, bis diese anfing langsam und unerbittlich - trotz der Bemühungen von Maria - hinunterzugleiten. Zu meiner großen Genugtuung sanken die beiden Frauen eng aneinander geklammert auf den Boden der Terrasse. Die eine blieb nicht ganz unbeschadet und die andere war verärgert, dass sie manche Wäschestücke nochmals waschen musste.
Letztendlich konnte ich mich von der anderen Wäscheklammer befreien und flog hoch hinauf, wo ich die Situation gut überschauen konnte. Ein schönes Schauspiel.
Von unten verfolgten mich die Blicke der zwei Frauen mit Besorgnis. Nicht unbedingt meines Schicksals wegen, sondern aufgrund meiner Flugbahn. Ich suchte mir den besten Fluchtweg und glitt langsam die angepeilte Richtung hinunter. Ich wollte für immer anderswohin verschwinden.
Jemand klingelte an der Haustür von Maria.
„Wer ist da?“
„Ich bin die Nachbarin von unten. Ich habe einen Teppich auf meinem Balkon gefunden. Ich dachte er könnte Ihnen gehören.“
Maria überwand ihr anfängliches Misstrauen und öffnete die Tür.
„Er ist in meinen Pflanzen hängen geblieben. Ich dachte, er sei von Ihrem Balkon gefallen. Ich weiß doch wie kleine Kinder sind. Sobald man einen Moment abgelenkt ist ...“
Maria war sprachlos. „Ja, das ist tatsächlich meiner. Aber wie konnte er bei Ihnen landen? Stellen Sie sich vor, er ist mir von der Gemeinschaftsterrasse gefallen!“
„Wie auch immer, auf jeden Fall Kompliment. Das ist wirklich ein schöner Teppich. Er scheint antik zu sein, es ist wahrscheinlich ein Perserteppich, und er hat ein wunderschönes Muster.“
„Sie haben recht, wissen Sie. Bis vor kurzem war er derart schmutzig, dass man kaum etwas darauf erkennen konnte. Stellen Sie sich vor, bei meiner Oma hatte er im Gäste-WC gelegen.“
„Wirklich?!“
„In der Tat würde er viel besser ins Wohnzimmer oder in den Eingangsbereich passen. Apropos, warum kommen Sie nicht einen Moment rein? Kann ich Ihnen vielleicht etwas anbieten?“
Die zwei Frauen plauderten eine gute halbe Stunde miteinander. Ziemlich lang, wenn man bedenkt, dass sie sich nur flüchtig kannten. Einen Großteil der Zeit verbrachten sie damit zu überlegen, welches der beste Platz für einen derart kostbaren Teppich sei. Sicherlich nicht das Gäste-WC, und auch nicht das Kinderzimmer - man weiß ja nie was das Kind damit anstellen könnte. Und dann ist auch wichtig, von welcher Seite das Licht auf den Teppich scheint, damit der schillernde Effekt zur Geltung kommt. Und er sollte nicht zu nahe an der Eingangstüre liegen, damit man ihn nicht mit einem Fußabstreifer verwechselt. Im Gegenteil, man sollte möglichst gar nicht auf ihn treten, weil er durch zu vieles Waschen kaputt gehen könnte.
Die Nachbarin schien sich gut auszukennen und sie gab Maria auch ein paar Tipps für das richtige Waschen und Reinigen des Teppichs. Tief im Herzen wünschte sie sich vielleicht, dass der Teppich nicht von einem der oberen Balkone, sondern vom Himmel gefallen wäre, dann hätte sie ihn behalten können. Stattdessen gab sie sich mit einer guten Tasse Tee zufrieden und damit, dass sie einer ihr unbekannten Person ihre Fachkenntnisse und ihre Ehrlichkeit beweisen konnte.
Ich hatte eine Dummheit begangen und ich hatte eine Strafe verdient. Und dann war ich auch etwas staubig geworden. Demnach war es in Ordnung, dass man mir mit dem Teppichklopfer anständig den Hintern versohlte. Nachdem, was diese Frau gesagt hatte, machte es wirklich keinen Sinn mich nochmals zu waschen. (Eine echte Kennerin: Vielleicht hätte ich es bei ihr besser gehabt.)
Jedoch hatte ich eine Menge Komplimente bekommen und bekomme sie jedes Mal, wenn neuer Besuch kommt.
Das Einzige, was mir leid tut ist, dass ich nicht mehr so viele Möglichkeiten habe mit Giorgio zu spielen. Dies aus verschiedenen Gründen, zunächst einmal, weil sie ihn selten ins Wohnzimmer gehen lassen und dann, weil oft Tischfüße auf mir stehen. Naja, diese Maßnahme hatten sie ergriffen, nachdem sie mich ein paar Mal erwischten, wie ich in seinem Zimmer mit ihm spielte. Aber unsere Zuneigung und die Lust zusammen zu spielen haben sich nicht geändert.
Was die Decke der Oma betrifft, die für so schön gehalten wurde, habe ich nichts mehr gehört und habe auch keine Gelegenheit gehabt, sie zu sehen oder zu treffen. Wobei, jetzt wo auch meine Schönheit erkannt wird, habe ich keinen Grund mehr eifersüchtig zu sein.
DER GEIST IM FEDERHALTER
Der Lieferwagen stand jetzt leer vor der Halle und wir brachten gerade die letzten Kartons hinein.
Es war schon kurz vor Sonnenuntergang. Filippo, mein Sohn Alfredo und ich waren verschwitzt und verstaubt nach diesem anstrengenden Nachmittag. Zuerst kam die Entrümpelung des Dachbodens eines alten Wohnhauses, das zwar nur wenige Stockwerke, aber hohe Decken und keinen Aufzug hatte. Dann das Beladen des hierfür viel zu kleinen Lieferwagens, zuerst mit den Möbeln, dann mit den Kisten und Kartons. Aber mit viel Geduld und Erfahrung gelingt das richtige Beladen immer, vor allem dann, wenn man unnötige, zusätzliche Fahrten vermeiden möchte, da diese Tag für Tag immer mehr der Überquerung eines unruhigen Meeres ähneln. Zum Schluss wurden die Möbel in der Halle nebenan abgeladen (MOBILVecchi Armando snc) und der Rest bei uns.
„Eigentlich wäre ich schon viel zu alt für diese anstrengende Arbeit, die ich jedoch bereits seit vielen Jahren mit Ausdauer verrichtet habe. Zum Glück ist mein Sohn Alfredo jetzt groß und stark und die Lust am Arbeiten fehlt ihm nicht. Noch dazu studiert er Rechnungswesen und das kann sehr hilfreich sein für die Leitung einer kleinen Firma; auch wenn - wie man so schön sagt - ein paar Gramm Praxis mehr wert sind als eine Tonne Theorie.“
Die Sonne ging unter. Aber an diesem Abend, während ich diese Gedanken hatte, sah ich auch einen kleinen Sonnenuntergang in meinem Leben. Ich fühlte, dass ich Alfredo etwas mehr hinterlassen müsste. Ich wollte ihm als Ersten und Einzigen die Geheimnisse meiner Arbeit verraten. Letztendlich war er ja bereits jetzt und für die Zukunft die Stütze der Firma und auf mich würde man bald ja auch nicht mehr viel zählen können.
Nachdem ich Filippo gegeben hatte, was ihm zustand und ihn entlassen hatte (mit Herrn Vecchi hatte ich bereits abgerechnet), wollte ich Alfredo zurückhalten. Ich wusste, dass er schmutzig und verschwitzt war, sich auf eine Dusche freute und sich ausruhen wollte. Ich wusste auch, dass er vielleicht mit den Hausaufgaben und dem Lernen im Rückstand war und dass er am nächsten Tag in der Schule wegen seiner mangelhaften Leistung getadelt werden würde. Trotzdem schien mir die Angelegenheit, diese Art Testament, sehr wichtig sowohl für mein Leben als auch für seine Zukunft.
„Komm Alfredo, ich will dir etwas zeigen“.
Wir gingen dann in die Halle und ich leerte einen der Säcke auf unserer Arbeitsplatte. Der Rest des Raumes verschwand allmählich in der Dunkelheit. Nur das Licht der einzig leuchtenden, von der Decke hängenden, Glühbirne schien über uns und unseren mannigfaltigen Schatz.
„Du bist nun bereits mit der Buchhaltung vertraut, kannst Ein- und Ausgänge verbuchen und bist in der Lage abzuschätzen, ob die Geschäfte gut oder schlecht laufen. Aber noch wichtiger ist es, den richtigen Wert jeder einzelnen Sache zu erkennen.“
Er schien nicht besonders interessiert zu sein.
„Denke zum Beispiel an die Gegenstände auf einem Dachboden. Für einen alten Mann, der das ganze Leben in diesem Haus verbracht hat, bedeutet jeder einzelne Gegenstand einen unschätzbaren Wert für seine Erinnerungen. Er würde diese sicher nicht verkaufen wollen, es sei denn, er wäre dazu gezwungen, das wäre für ihn als würde er das Gedächtnis verlieren. Aber sobald er das Zeitliche segnet und die Erben das Haus räumen müssen, um es neu zu streichen und zu verkaufen, sind die Sachen auf dem Dachboden nur störend und verlieren fast jeglichen Wert.“
„Was ich damit sagen möchte ist, dass der Wert nicht zu sehr von der Sache selbst abhängt, sondern von dem Menschen, der sie in den Händen hält. Deshalb ist es wichtiger, die richtigen Personen zu finden, von denen man etwas kauft und denen man etwas weiterverkauft, anstatt nach den geeigneten Gegenständen zum Kauf und Verkauf zu suchen.“
Ich weiß nicht, ob er etwas ratlos über meine Worte war oder ob er einfach nur mehr Erklärungen von mir erwartete.
„Ich sage ja nicht, dass wir nicht zu einer Wertsteigerung der Ware beitragen sollen. Im Gegenteil, da können wir sehr viel tun. Manchmal genügt schon sehr wenig, schau her.“
Ich durchsuchte ein wenig die Sachen, die auf dem Tisch lagen, um einen geeigneten Gegenstand zu finden, anhand dessen ich ihm erklären konnte was ich meinte. Ich fand ein kleines Kästchen aus glanzlosem Metall. Das war genau das Richtige.
Ich nahm meine Putzutensilien zur Hand und polierte das Kästchen energisch ein paar Sekunden lang. Danach schien es nicht mehr das gleiche zu sein.
„Siehst du, wie es mit wenig Aufwand viel edler und ansehnlicher geworden ist?“
Ich wollte unser Gespräch eigentlich fortsetzen und ihm verdeutlichen, wie wichtig es sei, sowohl unseren Katalog stets auf dem neuesten Stand und gut dokumentiert (auch mit Hilfe eines guten Fotografen) zu halten, als auch und vor allem Alter, Stil, Material und andere Eigenschaften eines Gegenstandes oder Möbelstückes erkennen zu können. Zu meinem Bedauern hatte mein Sohn leider diesbezüglich nie besonderes Interesse gezeigt.
Und dann hätte ich ihm gerne noch meine Ideen zu den Werbemaßnahmen nahegebracht (regelmäßige Öffnungszeiten, Organisation von (Wander-) Ausstellungen, Teilnahme an Messen und Ausstellungen, Erstellung von fachbezogenen Kurzfilmen, Aufbau einer Internetseite), um die besten Käufer aussuchen zu können. Aber nachdem es bereits spät war, hob ich mir dieses Thema für die Rückfahrt auf. Ich wollte ihm nur noch anhand eines letzten praktischen Beispiels zeigen, wie man mit Aufmerksamkeit und Erfahrung Entdeckungen machen kann, die von anderen unbemerkt bleiben.
„Manchmal kannst du Dinge finden, an denen der Zahn der Zeit genagt hat, die schmutzig sind und nicht mehr gebraucht werden. Im Inneren sind sie allerdings wertvoll und weniger sachkundigen Augen entgangen. Zum Beispiel Silberteile.“
Ich durchstöberte nochmals die Sachen auf dem Tisch und war mir sicher, etwas zu finden, was wertvoller war, als es schien.
„Ich spüre, dass dieser alte Füllfederhalter zum Beispiel Teile aus Gold hat.“
Ich nahm meine Putzutensilien zur Hand und begann ihn mit einem Tuch abzureiben. Aber als ich während des Polierens in die Nähe der Schreibfeder kam, hatte ich ein komisches Gefühl. Mir war so, als würde sich das Innere bewegen, wie ein elektrischer Motor, der vibriert. Verunsichert und auch etwas erschrocken ließ ich ihn fallen. Ich dachte daran, ihn auseinander zu nehmen und nachzusehen, was da drinnen ist. Wir Trödler stoßen manchmal auf so einige Dachboden-Bewohner. Es gibt sie in verschiedenen Arten und Größen und auch wenn ich noch nie einen gefunden hatte, der sich in einem Füllfederhalter eingenistet hatte, hielt ich das in diesem Moment für die wahrscheinlichste Erklärung.
Kaum hatte ich den unteren Teil aufgeschraubt, kam tatsächlich ein weißlich schimmerndes Etwas zum Vorschein, so etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen. Es bewegte sich aufgeregt hin und her wie ein kleines Teufelchen. Ich war schon fast dabei, es mit dem nächstbesten Gegenstand zu erschlagen und ich hätte es auch instinktiv getan, wenn mich nicht eine ganz klare und deutliche Stimme davon abgehalten hätte.
„Tinte, Tinte, ich brauche Tinte ...“, röchelte das Tierchen. „Ist das möglich, dass die Leute nicht mehr schreiben?“
Dann starrte es mich an, fast noch erstaunter als ich, und mit einer gewissen Frechheit fragte es mich:
„Warum starrst du mich so an? Hast du noch nie einen Geist in einem Federhalter gesehen? Beeil dich und bring mir Tinte, ansonsten hast du mich auf dem Gewissen!”
Fast verlegen erklärte ich ihm, dass jetzt niemand mehr Federhalter benutzte. „Ich fürchte, du musst dich - wenn du Glück hast - mit einem Kugelschreiber zufriedengeben. Oder vielleicht kannst du dich mit einer Schreibmaschine oder einem Notebook arrangieren!“
„Schreibmaschine? Lieber sterbe ich. Und was ein Notebook ist weiß ich nicht. Hör zu, ich werde mich mit einem Kugelschreiber oder wie das heißt zufriedengeben. Ich weiß, das hat ein Freund von mir, auch ein kleiner Geist, gemacht. Aber beeil dich um Himmels Willen, wenn du nicht willst, dass meine letzten Worte als Sterbender dein Fluch sind.“
Ich legte einen normalen 100-Lire-Kugelschreiber daneben, und dieses Tierchen kroch mit einer unglaublichen Flinkheit und Schnelligkeit hinein. Von da an hörte ich diese komische schrille Stimme nicht mehr. Aber sobald ich den Kugelschreiber etwas ängstlich zwischen die Finger nahm, fing dieser an, die Spitze zu bewegen und schrie „Danke” auf den Tisch. Als ich sah, dass er sich sachte zwischen meinen Fingern bewegte, ergriff ich ihn fester und hielt ihn über ein Blatt Papier, wo er zu schreiben begann.
„Der alte Herr Gaspare war eine anständige Person, er war vom alten Schlag. Er schrieb jeden Abend einen Brief an die Tante oder die Mutter und manchmal auch etwas Fantasievolles oder Poetisches. Wir haben ihm gerne geholfen, es war ja unsere Pflicht. Wir wohnten zu zweit in diesem alten Federhalter und wir wechselten uns oft ab, weil Gaspare ganze Abende und auch Nächte am Schreibtisch verbrachte ohne jemals müde zu werden.
Aber dann ist der Federhalter in dieser Kiste gelandet und wurde durch einen Kugelschreiber ersetzt, den ihm sein Enkel geschenkt hatte. Es war ein prächtiger Kugelschreiber, das bezweifle ich ja gar nicht. So prachtvoll, dass der andere Geist sofort dort eingezogen ist. Ich jedoch bin einer von der alten Sorte und wollte hierbleiben. Alleine hatte ich natürlich mehr Platz, aber ich habe mich über die vielen Jahre hinweg zu Tode gelangweilt. Ich kann es gar nicht erwarten wieder mit dem Schreiben anzufangen: Dichtungen, Gedichte - auch Witze, wenn Sie mögen.“ Er schrieb dies in einem so zarten Ton, als würde er sich fast schämen, etwas gesagt zu haben, was er nicht sagen durfte. Dann fuhr er fort.
„Das ist Ihr Federhalter, oder? Ich hoffe, Sie schreiben auch gerne, wie Herr Gaspare.“
Der Federhalter blieb stehen und ich verstand, dass er auf eine Antwort wartete. Ich bin ein alter Vater, wenn auch nicht ganz so alt, und so habe ich sofort an meinen Sohn gedacht.
„Dieser Federhalter gehört meinem Sohn. Er ist noch Schüler, hat noch viel zu lernen und muss seine Tüchtigkeit erst noch unter Beweis stellen. Ich hoffe es gefällt dir, nochmal in die Schule zu gehen, falls du überhaupt schon mal dort warst.“
Alfredo wollte mir etwas sagen, aber er brachte kein Wort heraus. Er unterbrach sein Bemühen, als sich der Federhalter wieder in Bewegung setzte. Wir lasen weiter, was nach und nach auf dem weißen Blatt Papier erschien.
„Die Schule... wie schön! Jugendzeit, Abenteuer, Mut und Liebe. Da werde ich tolle Sachen erleben, so wie damals, als der arme Herr Gaspare jung war. Und ich werde mich sicher nicht mehr langweilen.“
„Es freut mich, dass dir das gefällt. Aber du musst uns versprechen, dass du niemandem von deiner Existenz erzählst, aus welchem Grund auch immer“.
Sein Schweigen und seine Regungslosigkeit verstand ich als Zeichen seiner Zustimmung.
Ich fand schnell ein passendes Etui aus der gleichen alten Zeit für ihn und Alfredo begann, ihn zu benutzen und hatte ihn immer dabei. Die Wirkung zeigte sich bald. Die Note in Geisteswissenschaften wurde um zwei Punkte besser, zur großen Zufriedenheit seiner Mutter, die ja von unserem Geheimnis nichts wusste. Aber dann, gegen Ende des zweiten Trimesters, war er schon wieder gefährlich an der Grenze zu einer ungenügenden Note. Als ich die Note in Italienisch sah, die noch eine der besten in seinem Zeugnis war, war ich außer Rand und Band (zum Erstaunen meiner Frau, da sie überzeugt war, dass ich mich auch schon an die schlechten Noten von Alfredo gewöhnt hatte). Ich fragte ihn, mit welchem Federhalter er die Aufsätze in Italienisch geschrieben habe und er versicherte mir, dass er alles immer und nur mit diesem Federhalter schrieb.
Ich ließ mir den Federhalter mitsamt Etui geben und schloss mich alleine in meinem Büro ein. Wahrscheinlich handelte es sich wieder um zu wenig Tinte. Er sollte doch nur für die Hausaufgaben in Italienisch verwendet werden, vielleicht auch nur für die Schulaufgaben. Stattdessen benützte ihn dieser Blödmann von meinem Sohn, um mir einen Gefallen zu tun, für alles Mögliche, auch für das Schreiben der Rechnungsbücher. Vielleicht sollten wir einen schöneren Kugelschreiber besorgen, dachte ich. Für jemanden, der in einem Füller gewohnt hat, kann ein billiger Kugelschreiber eine Beleidigung sein. Oder vielleicht hat ihn ein Freund von Alfredo vertauscht, aus Versehen oder mit Absicht, vielleicht weil Alfredo ihm sein Geheimnis verraten hatte.
Es war nichts zu machen, ich konnte keinen Kontakt mehr mit diesem „Ding“ herstellen. Meine Frau sagte zu mir an diesem Abend, dass ich den Verstand verloren hätte, mich in einem Zimmer einzusperren und mit einem Kugelschreiber zu sprechen. Aber ich fühlte mich hintergangen. Ich habe nicht nur vermieden, ihn wie einen Käfer zu zerdrücken. Ich habe ihm auch neues Lebenselixier und eine neue Bleibe gegeben, auch wenn diese nicht gerade die schönste war. Und dann hatte ich mich auf ihn verlassen, weil ich dachte, wenn ich in Rente bin, es ein bisschen wie der alte Herr Gaspare zu machen: ein Tag einen Brief an die Schwester; ein Tag einen an den Enkel, und vielleicht ein paar Gedichte.
Einige Zeit später fand ich zwischen meinen Unterlagen ein beschriebenes Blatt. Es war die Schrift von Alfredo, aber es war weder sein Stil noch seine Unterschrift: „Ihr kleiner genialer Kugelschreiber-Freund”. Er drückte seine Dankbarkeit dafür aus, was ich für ihn getan hatte. Er schwor, dass weder er noch - so viel er wusste - Alfredo irgendjemandem von unserem Geheimnis erzählt hatten. Aber dann fügte er hinzu, dass er die viele Untätigkeit satthatte, oder vielmehr die Tätigkeiten und Gedanken, die so weit von den Gedichten und den Gefühlen des alten Herrn Gaspare entfernt waren. Spielhallen, Rechnungsbücher, ohrenbetäubende Pseudo-Musik und Motorlärm. all das hat ihn zum Schatten seiner selbst werden lassen. Er musste auch ertragen, hinter dem Ohr getragen zu werden nach Art der Metzger und zum Reparieren eines alten, übel zugerichteten Kassettenrekorders verwendet zu werden.
„Es ist besser ich gehe, so lange ich noch ein Minimum an Gefühlen und Poesie verspüre. Seien Sie mir nicht böse. Eine Klassenkameradin von Alfredo ist verliebt und ich habe ihr schon geholfen, leidenschaftliche Botschaften zu schreiben. Wenn sie in Gedanken versunken ist, malt sie Blümchen und Berge mit Bäumen und Wäldern: Auch darin bin ich nicht schlecht, auch wenn das nicht mein Spezialgebiet ist. Ich denke ich werde zu ihr ziehen.“
Dieser Vorfall hatte mein Leben grundlegend verändert. So stark, dass meine Frau darauf bestand, zum Arzt zu gehen. Letztendlich überzeugten sie mich, dass es besser wäre, in Rente zu gehen, um nicht zu riskieren, einen Nervenzusammenbruch zu bekommen.
Seitdem ich in Rente bin, ist mein Beitrag zur Firma auf fast Null gesunken. Mein Sohn lässt nur zu, dass ich mich um die Instandhaltung und Reinigung kleiner Gegenstände, vor allem aus Metall, kümmere. Darin bin ich noch unschlagbar.
Ich hatte keine Ambitionen mehr, Alfredo das Handwerk und die Kunst eines Trödlers beizubringen, weil mein kleiner geistvoller Federhalter-Freund mir die Augen geöffnet und mich überzeugt hatte, dass mein Sohn nicht viel taugte. Aber dann änderte ich meine Meinung etwas, weil Alfredo sich erst verlobt und dann eine ehemalige Klassenkameradin geheiratet hatte. Sie war nicht sehr hübsch, aber sehr liebenswürdig. Sie war so ein Typ, der zum Zeitvertreib blühende Wiesen, bewachsene Berge und verschneite Hütten zeichnete. Sie war darin sehr gut, und nicht nur das. Alfredo erzählte mir, dass sie ihm anfangs wunderschöne Briefe, Botschaften und Liebesgedichte geschrieben hatte und so hatte sie ihn erobert. Naja, wenn Alfredo diese Dinge zu schätzen weiß, bedeutet das, dass er auch ein bisschen Gefühle und guten Geschmack zeigen kann. Daher hatte mein kleiner Geist nicht ganz recht.
Meiner Frau dagegen kann ich nicht Unrecht geben, wenn sie findet, dass ich immer erschöpfter wirke (vielleicht müsste sie sagen „verrückt“). Vor kurzem hatte sie mich schon wieder ertappt, als ich bei Alfredo zuhause alle seine Kugelschreiber auseinandernahm und mit mir selbst sprach (oder mit den Kugelschreibern, was für sie noch schlimmer ist).
DER FISCHER OSVALDO
Ich traf meinen Freund Osvaldo in der Bar.
„Und, Osvaldo, wie war dein Fischfang letztes Mal?“, fragte ich ihn. Wir hatten uns ungefähr zehn Tage zuvor am Hafen gesehen, als er gerade mit seinem kleinen Boot zum Fischen hinausfuhr, und ich hatte ihm viel Glück gewünscht.
„Gut, gut, danke. Anfangs hat lange nichts angebissen, so dass ich sogar glaubte, dich zu treffen hätte mir Unglück gebracht. Aber dann ...!“
„Dann?“
„Naja, ich war wie immer weit rausgefahren und hatte den Motor abgestellt. Dann hatte ich das eine Ende der Angelschnur an der kleinen Ankerwinde festgebunden und das andere Ende der Schnur hing im Meer. Sehr lange passierte nichts und ich wäre fast eingeschlafen. Also habe ich, so wie ich es immer in diesem Fall mache, meine Glöckchen an die Angelschnur gehängt, damit ich aufwache, sobald etwas anbeißt. Aber nach einiger Zeit merkte ich, dass das Boot sich bewegte, sei es durch den Wind oder den unregelmäßigen Wellengang, fast so als wäre es ein Segelboot. Aber du weißt ja, dass das Boot keine Segel hat.
Die Angelschnur war so stark gespannt, dass ich mich wunderte, wieso sie nicht abriss. Es war gerade diese Schnur, die das Boot ins Schaukeln brachte. Ich musste etwas sehr Großes gefangen haben. Ich dachte sogar, dass sich der Angelhaken in einem U-Boot verfangen hatte. Ich hätte wahrscheinlich nichts machen können, wenn ich nicht die Ankerwinde benützt hätte - nicht umsonst fische ich auf diese Art. Allerdings hatte ich große Mühe, meinen Fang an Bord zu ziehen und ich hatte Angst, dass jeden Moment die Schnur reißen könnte. Aber letztendlich erschien der Fisch aus dem Wasser, erst der Kopf dann der Rest: Es war ein Riesenfisch, mindestens so lang.“
Osvaldo musste aufstehen und zur Seite gehen, um mir mit ausgestreckten Armen die Länge seines Fanges zeigen zu können.
„Ach komm, übertreib nicht. Du bist sicher eingeschlafen und hast von dem Fisch geträumt“, sagte ich zu ihm.
„Nein, nein, ich versichere es dir. Aber das Erstaunliche war nicht so sehr die Größe des Fisches, sondern, dass ich auf einmal eine Stimme hörte. Aber ich war ja alleine mitten auf dem Meer.“
„Ich bitte dich, nimm mir dieses Ding aus dem Mund und werfe mich lebend zurück ins Wasser. Du wirst sehen, ich werde dich dafür reich belohnen."
„Du kannst dir ja vorstellen, wie sprachlos ich war... ein sprechender Fisch. So etwas war mir nie zuvor passiert!“
„Mir ist so etwas auch noch nie passiert“, wandte ich ungläubig ein.
Und als ich ihn überrascht fragte:
"Was, du kannst sprechen?", antwortete er mir:
„Ja natürlich, und ich spreche fließend fünf eurer Sprachen. Aber jetzt bitte ich dich, wirf mich zurück ins Wasser.“
Beim Anblick dieses verzweifelnd zappelnden Fisches bekam ich fast Mitleid, aber trotzdem zögerte ich.
"Aber ich hätte dich zu einem leckeren Abendessen für mindestens zehn Personen verarbeitet. Und wenn ich dich jetzt befreie ...“
„Woher willst du wissen, dass mein Fleisch gut ist? Wenn du mich gehen lässt, werde ich dir so viele köstliche Fische besorgen, dass du nicht zehn, sondern zwanzig Personen zum Essen einladen kannst, das verspreche ich dir. Du musst nur genug Körbe am Rand deines Bootes befestigen und ich werde diese innerhalb kürzester Zeit füllen. Heute und den ganzen kommenden Monat lang.“
Er hatte mich fast überzeugt. Ich ging zu ihm und wollte ihn gerade vom Haken befreien, dann zögerte ich allerdings nochmals.
„Ich möchte ein schönes Foto von dir machen, damit ich es meinen Freunden als Trophäe zeigen kann. Wenn ich dich befreie, wird mir niemand glauben, dass ich einen so großen Fisch gefangen habe", sagte ich ihm.
„Ich habe kein Problem damit, wenn du ein Foto mit mir zusammen machen willst. Hauptsache du lässt mich jetzt ein bisschen ins Wasser ...“
Ich hielt ihn ins Wasser, ließ ihn aber noch am Haken hängen. Dann holte ich meine digitale Kamera und positionierte sie für ein Selbstauslöser-Foto. Ich zog den riesigen Fisch wieder hoch, stellte den Selbstauslöser ein, ging wieder auf meinen Platz, nahm den Fisch in den Arm und wartete auf den Blitz.
"So, wenn du mich jetzt gehen lässt, hol ich dir die Fische, die ich dir versprochen habe", sagte er zu mir.
„Ich bin zwar großzügig, aber nicht doof. Wer garantiert mir, dass du nicht abhaust, sobald ich dich vom Haken befreie, ohne dein Versprechen zu halten? Auch weil ich glaube, dass es sprechende Fische, die Versprechen geben und einhalten auf der ganzen Welt nicht gibt.“
Und so befreite ich ihn zwar vom Haken, band aber zuvor seinen Schwanz an einer anderen, genauso starken, Schnur fest. Aus Angst, er könnte sich mithilfe seiner glitschigen Schuppen befreien, band ich ihn so fest, dass er wahrscheinlich mehr unter diesem Druck litt als unter dem Haken, den er zuvor im Mund hatte.
„Du misstrauischer Mensch! Aber du wirst sehen, du wirst dieses fehlende Vertrauen bitter bereuen .... wenn du mich nämlich ganz befreit hättest, hätte ich dich zum reichsten Mann der Nation gemacht. Hast du vielleicht noch nicht verstanden, dass ich ein magischer Fisch bin? Oder glaubst du etwa, dass jeder beliebige Fisch sprechen kann?“
„Ja, du kannst gerne behaupten, dass ich misstrauisch bin. Aber wenn ich im Leben immer jedem Glauben geschenkt hätte, der mir außergewöhnliche Versprechen wie deines gemacht hat, wäre ich jetzt sicher nicht hier und würde in Ruhe fischen, sondern würde irgendwo um Almosen bitten. Jedenfalls habe ich mein Wort gehalten und deinen Wunsch erfüllt, da du wolltest, dass ich dich vom Haken befreie und ins Wasser lasse. Jetzt bist du dran, dein Wort zu halten. Ich werde jetzt gleich die Körbe am Bootsrand befestigen und du wirst sie befüllen."
Trotz meiner Vorsichtsmaßnahmen befreite der Fisch sich mit einem Ruck sofort mit dem Schwanz von der Schnur, als er im Wasser war. Er hat mich reingelegt, dachte ich und verabschiedete mich insgeheim von dem Gedanken, mit reichlich Fisch nach Hause zurückzukehren. Aber ich hatte mich geirrt.
„Ich habe dir doch gesagt, dass ich ein magischer Fisch bin. Aber ich habe dir nicht verraten, dass ich problemlos außerhalb des Wassers sein kann, so lange ich will und sogar gehen und laufen kann.“
Und, um mir das zu beweisen, sprang er zurück in mein Boot, tänzelte um mich herum, um mich herauszufordern ihn einzufangen. Aber nach einiger Zeit, als er sah, dass ich seine Herausforderung nicht annahm, sprang er zurück ins Wasser. Es war jetzt klar, dass er tatsächlich magisch war und dass er mich nur auf die Probe stellen wollte.
„Aber ich bin ein ehrlicher Fisch und werde mein Versprechen halten.“
Und tatsächlich hatte er innerhalb weniger Minuten alle meine drei Körbe gefüllt, die ich an Bord hatte. Einen Korb füllte er mit Weich- und Schalentieren, einen mit großen und einen mit kleinen Fischen. Einige warf er mit dem Mund hinein und andere sprangen wie von Zauberhand von alleine in die Körbe. Es waren so viele, dass ich am Fischmarkt vorbeifahren und jemanden suchen musste, der mir die Fische, die für mich zu viel waren, abkaufte.
„Sag bloß!“, meinte ich.
„Ja wirklich“, antwortete er. „Aber wenn ich es mir genau überlege, denke ich, dass dieser Fischfang teilweise auch dein Verdienst ist. Du hast mir viel Glück gewünscht und hast mir wirklich viel Glück gebracht, vielleicht so viel wie ich noch nie hatte. Ich weiß, wenn ich dich zum Fischen einlade, würdest du nein sagen. Aber willst du vielleicht heute Abend zum Essen zu mir kommen? Ich kümmere mich um alles, bring doch einfach nur eine Flasche guten Weißwein mit.“
„Warum nicht, Osvaldo. Ich werde kommen. Ist halb acht in Ordnung?“
„Ist gut. Also ich gehe dann, ich muss noch kurz zum Fischmarkt. Bis heute Abend.“
Osvaldo ging und ich blieb noch, um in Ruhe meinen Kaffee zu trinken.
„Und was denkst du darüber, was mein Freund Osvaldo erzählt hat?“, fragte ich den Barkeeper Vincenzo, der gerade damit beschäftigt war, einige Tassen zu waschen. „Glaubst du, dass nur irgendetwas Glaubwürdiges daran ist, was er gesagt hat?“
„Entschuldige, aber ich habe nicht zugehört was er gesagt hat“, antwortete er mir, ohne groß darüber nachzudenken.
„Lügen. Alles Lügengeschichten eines Fischers“, fuhr ich fort. „Ich frage mich, warum alle Fischer so sind, zumindest diejenigen, die ich kenne... voller übertriebener Fantasie. Vielleicht sind das die Auswirkungen nachts draußen zu sein, wenn man den natürlichen Rhythmus zwischen Schlafen und Wachsein überspringt. Wer weiß.“
Ich zahlte meinen Kaffee und wollte gerade gehen.
„Hey, warte. Du hast hier auf dem Tresen was liegen gelassen. Oder hat es dein Freund hier vergessen. Wie heißt er?“
„Osvaldo“, antwortete ich. Ich hatte nichts dabeigehabt. Ich schaute nach, ob es etwas von Osvaldo war. In der Tat waren es Rechnungen vom Fischmarkt und als Verkäufer stand dort sein Name. Und dann war da noch etwas, ich konnte es nicht erkennen .... was war das? Ein Foto. Eine Abendaufnahme, mit Blitz. Er hatte einen riesengroßen Fisch im Arm, fast größer als er selbst. Und - es hört sich komisch an - es sah so aus, als würde dieser große Fisch lächeln.
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